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Es war ruhig geworden in dem Haus auf dem Berg, wo Hans und Kerstin zu beiden Seiten am Bett des alten Mannes saßen. Die Angst war aus den Mauern gewichen, endlich konnte sie in Ruhe ihre Gedanken sammeln und ihre Gefühle für den Sterbenden hinterfragen. Und ihre Gefühle dem Tod gegenüber.

Sie sprachen kaum, teilten schweigend ihre Trauer darüber, dass die frühere Unruhe mit Klara zusammenhing. Nur einmal sagte Hans, dass es unerträglich sein müsste, wie sie zu leben, in einer so starken Anspannung, die alle in ihrer Nähe ansteckte. Aber er bereute seine Worte sofort, als er Kerstins Verzweiflung sah.

Auch der Alte, der nun friedlich und ohne Schmerzen schlief, war von Ängsten und Sehnsüchten durch das Leben gehetzt worden. Er hatte das Leben gehasst, weil er nie genug davon bekommen hatte, von Reisen und Abenteuern, Vermögen und Liebe.

»Er war zu stolz, um etwas aus seinem Leben zu machen«, sagte Hans, und Kerstin dachte wie so oft zuvor, dass ihr Vater sein ganzes Leben hindurch nichts anderes als ein wütender Dreijähriger gewesen sei. Vor dem alle Angst hatten.

»Es ist schade für ihn und schade für uns«, sagte sie.

»Das hat auch etwas mit dem Zeitgeist zu tun«, sagte Hans und dachte dabei an Deutschland und die Generationen von Männern, die Religion durch Rassenideologie und Glaube an den Übermenschen ersetzt hatten. Er hatte seinen Schwiegervater sofort durchschaut, als sie sich das erste Mal sahen. Und nicht nur durch seine Erfahrungen in Deutschland.

»Der Mann meiner Tante, der Major aus Skånen, der war genauso.«

»Deine Tante auch. Es waren ja nicht nur Männer, die durch den Faschismus geprägt wurden.«

Etwas später sagte Kerstin, es sei unerträglich traurig, sich vorzustellen, wie einsam er gewesen sei, der Alte. Und wie verbittert.

»Er hat es selbst so gewollt.«

»Ja. Und das ist doch schrecklich.«

 

Mit den Tagen, die verstrichen, wurde Kerstins Erinnerung an ihre Mutter deutlicher. Auf einem Bild nach dem anderen sah sie die sanfte, entfliehende Helena. Immer lieb und immer ängstlich.

»O Hans, sie hatte so schreckliche Angst vor ihm.«

Er konnte sie nicht trösten, sondern dachte, dass die Trauer über die tote Mutter Kerstin jetzt einhole. Sie hatte dazu nie Zeit gehabt, ich kam, dann die Kinder …

Sie sprachen mit Karl Erik Holmgren über ihre Gedanken um den alten Dreijährigen, der sich noch bis zuletzt weigerte, das Leben loszulassen. Aber der Pfarrer widersprach ihnen:

»Wir wissen so wenig. Deshalb haben wir so viele Meinungen. Keiner von uns kann wissen, welche Absichten Gott mit Sven Jonsson und seinem Leben hatte. Das bleibt ein Geheimnis zwischen ihm und Gott.«

»Von dem Geheimnis wusste er jedenfalls bestimmt nichts. Er hatte keinen Gott.«

»Aber das verändert doch nichts. Gott kümmert sich nicht um den Glauben der Menschen. Oder wie sie Seine Botschaft verstehen.«

Als der Pfarrer gegangen war, fühlten sie sich ein wenig erleichtert, alle beide. Und Hans sagte:

»Es ist fast peinlich, es zuzugeben. Aber ich denke auch wie er. Keiner weiß etwas über den Sinn des Lebens eines anderen. Man muss froh sein, wenn man manchmal den Sinn des eigenen erahnen kann.«

»Tust du das?«

»Vielleicht ab und zu. Aber ich bin damit nie weiter gekommen, als dass es mit deinem verbunden ist.«

Auch in Bezug auf die äußeren Bedingungen gab es Erleichterungen. Die resolute Schwester Gudrun entschied, dass Hans und Kerstin jede dritte Nacht bei sich zu Hause schlafen sollten, während sie Wache hielt.

»Es ist überhaupt nichts damit gewonnen, wenn Sie sich völlig verausgaben«, sagte sie.

Es war ihnen peinlich, aber nur eine Spur, denn das Gefühl der Befreiung überwog. Wie junge Leute, die Extraferien bekommen hatten, genossen sie einen ganz normalen Abend bei sich daheim, die Pflanzenpflege, das Haus und die langen, zärtlichen Nächte.

 

Am Montagmorgen, nachdem sie das ganze Wochenende abwechselnd Wache gehalten hatten, ging Hans heim, um nach dem Haus zu sehen, die Zeitungen und die Post hereinzuholen, ein wenig einzukaufen und das Haus für ihren freien Abend und die Nacht vorzubereiten. Da lag Klaras Brief, er setzte sich an den Küchentisch, um ihn zu lesen:

 

»Ich möchte, dass du Mama erklärst, dass mein Ausbruch gegen sie nie wirklich ihr gegolten hat. Sie spielt eine Rolle in einem Drama, das ich inszeniere.

Das habe ich in nur zwei Therapiestunden gelernt. Jetzt machen wir weiter. Das tut mir gut, Papa. Ich habe interessante Träume, durch die ich viel lerne, und ich beginne ein Muster zu erahnen. Doktor Dorf hat es nicht direkt gesagt, aber es ist deutlich, dass sie erstaunt ist. Es geht nicht um irgendwelche frühen Störungen. Ihr beide habt also keinerlei Grund, irgendwelche Schuld für meine psychotischen Episoden zu empfinden.

Ich bin außerdem in der Frage, die du angesprochen hast, als wir nach Åland segelten, zu einem Entschluss gekommen. Es ist selbstverständlich, dass ihr Sofia adoptieren sollt. Das ist das Beste für sie. Und wahrscheinlich ist es auch für mich gut. Du hast dich geirrt, als du gesagt hast, es gehe nur um ein Papier, es sei nur eine juristische Angelegenheit. Nichts ist nur, alles ist mit einem Wert beladen, den wir nicht erkennen wollen. Wenn Sofia zu euch gehört, auch auf dem Papier, hoffe ich, es wird meine Schuld ihr gegenüber verringern. Also bitte deinen Anwalt, die Papiere dafür zu besorgen.

Zum Schluss möchte ich euch beiden versichern, dass ich jetzt einen Prozess durchmache, weg von dieser merkwürdigen Angst und den Fallgruben. Ich stehe erst am Anfang, aber ich habe Momente der Einsicht. Und außerdem habe ich Jonas. Und euch und Sofia. Also sind die Bedingungen äußerst günstig.

Eure Klara.«

 

Hans blieb lange Zeit mit Herzklopfen sitzen. Dann las er den Brief noch einmal, und ihm kamen die Tränen. Aber er riss sich zusammen, ging hinaus und pflückte einen großen Strauß glühender Pfingstrosen für Kerstin. Dann deckte er feierlich den Tisch, legte eine Flasche Weißwein in den Kühlschrank und fuhr los, um etwas Leckeres einzukaufen.