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In der Nacht lag Kerstin noch lange neben Hans wach. Die spröde Freude hatte eine Saite in ihr angerissen, einen leisen Ton, hell wie die Sommernacht vor dem Fenster.

Sie legte sich auf den Rücken, starrte die Decke an und spürte überrascht, dass es ein Lachen in ihr gab, ein sprödes, kristallenes Lachen. Da musste sie an Gottes Lachen denken, das der Pfarrer am Tag des Wunders in der Kirche gehört hatte. Doch das war ein wenig lächerlich, niemals würde sie Gott lachen hören. Ihre Freude besaß weder Dauer noch Zuversicht, sie war wie immer scheu und flüchtig.

Sie drehte sich auf die Seite, lag lange so da und betrachtete ihren schlafenden Mann. Sein Schlaf war in den letzten Wochen besser geworden, die Albträume waren all dem, was mit Sofia und Jonas geschah, gewichen. Und mit dem Alten, der nicht sterben wollte. Und jetzt mit Klara.

Plötzlich erfasste sie eine Lust auf ihn. Ihre Finger wollten seine Haarwurzeln spüren, die Linie seines Mundes genießen, die schlanke Nase, das Kinn. Mein Gott, wie sehr sie ihn liebte. Ich bin nicht gescheit, dachte sie, wir müssen schlafen. Aber sie hatte bereits nachgegeben, ihr Mund suchte seinen, und ihre Hände umfassten sanft seine Schultern, bevor sie weiter hinunter über die Brust strichen. Als sie hörte, wie er sich wach lachte, durchfuhr sie der Gedanke, dass es das ja war, das kristallene Lachen aus ihrer eigenen Seele, nur lauter und viel irdischer.

Als die Lust ihren Weg gefunden hatte und sie vor Freude schrie, wurde es ihr erneut bewusst, das Lachen von innen. Und hinterher dachte sie mit großer Verwunderung, dass sie es wieder erkannte.

»Du bist heute Nacht ein bisschen verrückt«, sagte er und klang glücklich und stolz.

»Ja. Aber jetzt müssen wir schlafen.«

»Hm.«

Doch sie konnten nicht schlafen, sie standen auf und liefen nackt durch den Garten, auf den morschen Anleger, und sprangen ins Wasser. Sie lachten wie die Kinder, als sie wieder hoch kamen. Aber Kerstin meinte, das kalte Bad sei wahrscheinlich eine Fehlentscheidung gewesen.

»Jetzt werden wir überhaupt nicht mehr schlafen können.«

»Dann trinken wir ein Bier.«

Sie froren, Kerstin warf ihre Bademäntel in den Trockner, um sie anzuwärmen, während Hans Butterbrote schmierte. Danach saßen die beiden wie schon so oft in der Küche und sahen die ersten Sonnenstrahlen den Waldrand rosa färben. Sie versuchte den spröden Ton zu beschreiben, den sie entdeckt hatte. Er erklärte, er hätte sich ihretwegen Sorgen gemacht, weil sie wie eine straff gespannte Saite gewesen sei, die jeden Augenblick hätte reißen können.

»Dann wusstest du es?«

»Das war ja ganz offensichtlich.«

Sie gingen die Treppe hinauf und krochen ins Bett. Kerstin sagte, dass irgendwie alles mit dem Wunder in der Kirche im Winter zusammenhänge. Und nicht nur das Schwierige.

»Es sieht aus, als sei es ein Wendepunkt gewesen.«

Sie erzählte vom Pfarrer, der sich so verändert habe, seit er Gott lachen gehört hatte, und dann sagte sie scheu, dass es auch in ihr ein Lachen gab und dass es ihr in dieser Nacht bei all der Freude über Klaras Brief bewusst geworden sei.

»Aber das kann ja nicht das gleiche Lachen sein«, sagte sie. »Ich meine nicht, dass ich Gott hören kann.«

»Aber ich meine das. Bei genauerem Nachdenken bin ich mir ganz sicher, dass Gott in dir lacht«, sagte Hans und lachte selbst.

Kerstin war bereits dabei, in den Schlaf zu sinken, als er sagte:

»Für mich ist Sofias Wunder vor allem ein Erlebnis aus zweiter Hand. Auf sonderbare Weise kam für mich der Wendepunkt, als die Bomben auf Kharg Island fielen.«

»Das war doch zur gleichen Zeit.«

»Ja. Ist das nicht merkwürdig.«

 

Sie schlief ein, er zog ihr die Decke über die Schultern, blieb auf dem Rücken liegen und dachte an seine geheimnisvolle Erinnerung aus der Kindheit. An den Stummfilm, wie er das Bilderspiel der Nächte zu nennen pflegte. Aber die letzten Male hatte es eine Stimme gegeben, die leise und eindringlich darauf verwies, dass er nicht die richtige Frage stellte. Er hatte es mit Anders‹ erstauntem Ausruf versucht: Was hatte ein kleiner Junge so Wichtiges zu erledigen, dass er in einer bombenbedrohten Stadt allein herumlief? Aber er bekam keine Antwort, sodass er zu dem Schluss kam, auch diese Frage war die falsche.

Gegen fünf Uhr musste er eingeschlafen sein. Denn als Kerstin ihn mit Kaffee weckte, erinnerte er sich daran, dass die Uhr Viertel vor fünf gewesen war, als er das letzte Mal draufgeschaut hatte.

 

Es war fast zehn , als sie beim Lotsenhaus eintrafen, mit vielen Entschuldigungen, dass sie so spät kamen. Aber Schwester Gudrun wehrte sie mit einer Handbewegung ab.

»Sie mussten sicher einmal ausschlafen«, sagte sie. »Hier ist alles im Großen und Ganzen wie immer. Aber heute Nacht hatte er ein paar Mal Atemstillstand, deshalb habe ich den Arzt angerufen.«

Weder Hans noch Kerstin konnten irgendeine Veränderung an dem Alten feststellen. Und auch Åke Arenberg nicht, als er kam, das Herz abhörte und mit den Achseln zuckte. Also verlief der Tag wie gewöhnlich; Katarina und Anders schauten eine Weile herein und brachten Gebäck mit, nachmittags kam der Pfarrer, saß meist schweigend da und war ihnen allein dadurch eine Stütze. Hans bezwang seine Lust, nachzufragen, wie das Lachen in der Kirche geklungen hatte. Das hieße ihm zu nahe kommen, dachte er.

 

Am Abend übernahm Hans die erste Wache. Er wollte Kerstin wie üblich gegen drei Uhr nachts wecken, aber bereits gegen Mitternacht hörte sie ihn rufen. Beide standen sie am Bett des Alten und horchten. Es gab keinen Zweifel, die Atmung setzte aus, eine kurze Weile, bis er erneut einen angestrengten Atemzug machte. Kerstin setzte sich aufs Bett und nahm die Hand des Alten in ihre, die Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie flüsterte:

»Papa, mein Papa.«

Er holte noch einmal tief Atem. Dann blieb alles still. Der Tod kam sanft und undramatisch, als benötige das Unerhörte keinen Raum.

Eigentlich sollten sie den Arzt anrufen, aber als Hans ans Telefon ging, wählte er als Erstes die Nummer des Pfarrers. Deshalb saß Karl Erik bereits neben dem Toten, als Arenberg kam, um den Totenschein auszufüllen. Beide beteten für die Seele des Alten, ein kindliches Gebet, dass Gott ihn mit Verständnis und Barmherzigkeit aufnehmen möge. Als das Gebet beendet war, wurde Kerstin ganz ruhig, blieb still und blass am Bett stehen, Hans‹ Arm um ihre Schultern, und dachte, wie wenig wir doch verstünden und wie vermessen es sei, feste Meinungen zu haben.