VIII

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Karl Erik Holmgren überlegte, welche Rede er am Sarg des Lotsen halten solle. Er rief alte Leute im Ort an. Anstrengend, sagten einige – freundlich, sagten andere. Ein Mann der alten Schule, sagten viele. Verbittert und stur, sagte einer. Fröhlich, sagte ein anderer. Nach einer Weile wurden die Gegensätze noch schlimmer: Ein rücksichtsloser Egoist, ein Mensch, der nie einen Freund im Stich ließ.

Nur in einem Punkt stimmten die Aussagen überein: Der Alte hatte einen teuflischen Humor. Ein stolzer Mann, wie sie sich ausdrückten.

»Es war nicht leicht, mit ihm klarzukommen, wenn ihm etwas nicht passte. Alles musste nach seiner Pfeife tanzen«, sagte ein Lotsenkollege.

Er hatte viele Rollen in vielen Stücken gespielt, das wurde dem Pfarrer klar. Und alle hatten den Sinn gehabt, seine Würde zu verteidigen.

Es würde eine große Beerdigung werden. Kollegen aus ganz Roslagen würden kommen, das Seefahrtsamt würde vertreten sein, und alle Älteren aus Östmora würden in der Kirche erscheinen. Ganz gleich, wie er auch gewesen war, ihr Lotse, er war einer der letzten Vertreter einer vielhundertjährigen Tradition in dem Küstenort gewesen, der sich jetzt in einen Touristenort verwandelte.

Eine Epoche wird zu Grabe getragen, schrieb der Pfarrer auf seinen Zettel. Dann schüttelte er sich und zog einen dicken Strich durch die abgedroschene Phrase. Was in Gottes Namen sollte er nur sagen? Er konnte Gott nicht mehr lachen hören, aber er meinte ein Lächeln durch den Regen zu spüren, der gegen die Scheibe schlug.

Die Uhr ging auf sieben zu, es war an der Zeit, Anders in der Kirche zu treffen. Ihre leisen Gespräche hatten sich entwickelt. Denn jedes Mal, wenn sie sich trafen, drang Karl Erik ein Stück tiefer in die verborgene Welt des Jungen ein. Er lernte zu verstehen, wie wichtig es für den Blindgeborenen war, die richtigen Worte zu finden. Das Wort, der Begriff schuf die Welt, in der er lebte. Es war der genaue Ausdruck, der seinen Vorstellungen Festigkeit und Klarheit gab.

Karl Erik hatte sich viele Gedanken über die Gefühllosigkeit des Jungen gemacht. Es gab einen Bruch in Anders‹ Empfindungen, eine gefühlsmäßige Stummheit. Anfangs hatte der Pfarrer gedacht, es wäre die Behinderung an sich, die zu dieser Ich-Bezogenheit des Jungen geführt hätte. Aber das stimmte nicht, Anders war nicht egozentrischer als andere, normale Zwölfjährige.

Es war Karl Eriks Frau, die ihn auf die Idee brachte. Ihr Gemüt war seit dem Wundersonntag heiterer geworden. Das lag an ihm, weil er stärker geworden war. Sie genoss die Hochschätzung, die Karl Erik für seine mittlerweile landesweit bekannte Predigt bekommen hatte. Und auch mit dem Kind ging es besser, seit sie Kontakt mit Anders‹ Mutter aufgenommen hatte.

Eines Abends, nachdem Anders und Katarina bei ihnen auf dem Pfarrhof zu Besuch gewesen waren, hatte Berit Holmgren es gesagt:

»Ich ärgere mich immer wieder über den Jungen, weil es so lange dauert, bis er reagiert.«

»Aber es dauert bei ihm doch nicht länger als bei uns. Anders ist schlau und sicher normal begabt.«

»Wenn es um Worte geht, ja. Aber Worte machen ja nur einen kleinen Teil aus, wenn es darum geht zu begreifen, was andere fühlen. Das Wichtigste dabei ist doch, dass man einen Blick wechselt und sich geborgen fühlt. Man sieht, ob der andere traurig oder fröhlich ist. Oder wütend und linkisch, all das zeigt ein Mensch mit seinem Gesicht und Körper.«

»Was für ein Idiot bin ich nur gewesen«, sagte Karl Erik.

 

Nach diesem Abend begann der Pfarrer zu reden, sorgfältig und ausführlich, wenn er sich mit dem Jungen traf. Nicht ernsthafter, aber nuancierter und mit mehr Details. Er erzählte von den Reaktionen der Menschen, ihrer Art, sich mit Mienenspiel auszudrücken und ihre Gefühle mit dem Körper zu zeigen. Anfangs widerstrebte es ihm, aber er zwang sich, beispielsweise zu sagen: »Weißt du, er hat zwar ja gesagt, aber ich habe ihm angesehen, dass er das gar nicht wollte.« Oder: »Sie hat laut gelacht, und ich hätte auch gedacht, sie würde die ganze Sache nicht so ernst nehmen, wenn sie nicht feuerrot im Gesicht geworden wäre.«

Anders hörte zu, widerwillig, aber mit der Zeit immer interessierter. Er kam mit eigenen Beiträgen, erzählte, dass er manchmal am Geruch von Leuten erkennen konnte, dass sie Angst hatten, aber diese Erkenntnis versandete, weil er nicht wusste, wovor sie Angst haben.

»Manchmal kann man an der Stimme hören, dass jemand lügt«, sagte er. »Aber das ist so unsicher. Kannst du sehen, ob Leute lügen?«

»Das ist schwierig. Es gibt Menschen, die lügen so oft und gewohnheitsmäßig, dass es für sie ganz selbstverständlich wird.«

»Aber du meinst doch, du weißt, wer das tut?«

»Da hast du Recht. Aber woher weiß ich das? Lass mich nachdenken. Doch, sie haben etwas Biegsames, fast etwas Hinkendes an sich.«

»Etwas, das du siehst?«

»Da bin ich mir nicht sicher, Anders. Vielleicht ist das eine Mischung aus verschiedenen Sinneseindrücken, dem Sehen, aber auch dem Hören, irgendwas ist in ihrem Lachen und in ihrer Stimme. Es ist ja nicht so, dass ich darüber nachdenke. Das ergibt sich durch die Erfahrung, nehme ich an. Eine Art Intuition.«

»Sofia erzählt immer so sonderbare Dinge darüber, was Menschen denken und fühlen. Und sie kann doch nicht mehr Erfahrung haben als du.«

»Nein, das stimmt. Aber meiner Meinung nach hat sie eine ganze Menge Intuition.«

»Und deshalb ist sie so gefährlich.«

»Das behauptest du immer wieder, aber ich denke, da irrst du dich. Sie ist ungewöhnlich nett und benutzt ihre Fähigkeiten nie mit bösen Absichten.«

 

Heute Abend können wir über den Lotsen reden, dachte der Pfarrer, als er um die Ecke zu Berglunds Haus bog, um den Jungen abzuholen. Berglund selbst öffnete ihm die Tür. Wie üblich sagte er kein Wort, in seinen Augen zogen jedoch Gewitterwolken auf, als er den Pfarrer begrüßte und nach dem Jungen rief.

Als sie sich auf ihre Bank in der Kirche gesetzt hatten, sagte der Junge, er möchte heute mit dem Gebet anfangen. Er ist aufgewühlt, dachte der Pfarrer und wusste, dass das an dem Vater des Jungen lag. Sie beteten, ruhig und leise wie immer. Danach blieb der Pfarrer still sitzen, er wollte Anders Zeit und Gelegenheit geben und hoffte, er würde sich trauen zu erzählen. Aber auch der Junge schwieg, und der Pfarrer dachte nur, dass sie beide Zeit hatten.

Dann begann er von dem Lotsen zu erzählen, von den Gesprächen, die er geführt hatte und all den Beschreibungen, die sich widersprachen. Langsam und umständlich beschrieb er, was die Leute gesagt hatten, und spürte plötzlich, dass der Junge ungewöhnlich interessiert war.

»Wie merkwürdig«, sagte er. »Aber wer sagt dann die Wahrheit?«

»Ich nehme an, alle. Und keiner. Ein Mensch spielt viele Rollen und zeigt viele Bilder von sich. Wer er eigentlich ist, das wissen nur Gott und ab und zu er selbst.«

Das habe ich schon einmal gesagt, zu Kerstin und Hans, dachte Karl Erik und musste fast lachen. Da war er ja, der Ausgangspunkt für seine Rede. Aber Anders war überrascht, und mit einem Mal sagte er:

»Ist das mit allen Menschen so?«

»Ja, mehr oder weniger. Jedenfalls kann keiner in ein paar mageren Worten erfasst werden: So und so ist er oder sie. Aber ich glaube, dass einige mit den Jahren die sich widersprechenden Rollen immer mehr ablegen und ihre eigene Persönlichkeit finden.«

Anders schwieg, Karl Erik konnte die Anspannung spüren. Zum Schluss flüsterte der Junge:

»Mein Papa ist lieb. Und widerlich. Er kann sich wie ein Kind freuen, wenn er nicht so fürchterlich traurig ist. Manchmal denke ich, es ist, als ob er in der Hölle ist und schreckliche Qualen erleidet.«

Nun weinte er dieses hoffnungslose Weinen, das Karl Erik durch Mark und Bein fuhr. Aber der Pfarrer wartete, bis der Junge sich beruhigt hatte.

»Manchmal liegt er nachts auf Knien vor meinem Bett und betet zu Gott, dass ich sehen kann. Wenn ich die Sehkraft gewinne, ist das ein Zeichen für ihn, dass seine eigenen Sünden vergeben sind. Es nützt nichts, mit ihm darüber zu reden oder dass Mama schimpft und ich versuche, ruhig zu sprechen. Der Arzt hat schon mit ihm geredet und sein eigener Pfarrer … aber es nützt nichts.«

»Was sagt deine Mutter denn, wenn sie schimpft?«

»Dass er einen fürchterlichen Gott hat, den er sich selbst geschaffen hat.«

»Das stimmt.«

»Ja. Aber das macht ihn noch verzweifelter. Es scheint, als wäre dieser fürchterliche Gott der Einzige, bei dem er Zuflucht nehmen kann. Wenn man ihm den wegnimmt, dann verschwindet er irgendwie … in einem schwarzen Loch.«

Nach einer Weile nahm der Junge das Gespräch wieder auf:

»Er hat auch seine guten Seiten«, sagte er. »Ich erinnere mich an all das, was er gemacht hat, als ich noch klein war. Wie ich neben ihm im Auto sitzen durfte und er mir alles am Wegrand beschrieben hat, die Bäume und die Berge. Wie er mir beigebracht hat zu spüren, wenn er herunterschaltete, um vor einer Steigung mehr Kraft im Motor zu haben. Und wie es an der Straße roch, wie ich an der Luft merken konnte, dass wir am Meer waren. Er kann so lieb sein.«

»Ja. Und ich glaube nicht, dass man ihm dieses böse Gottesbild wegnehmen kann, ohne ihm noch mehr zu schaden.«

»Dann kann man gar nichts machen?«

»Ich weiß nicht, was. Wir können nur für ihn beten und hoffen, dass er Hilfe bekommt.«

An diesem Abend schlossen sie ihr Treffen nicht wie sonst mit dem Vaterunser ab. Stattdessen beteten sie für Berglund, ein langes, ernstes Gebet. Anders schien besser gestimmt zu sein, als sie die Kirche verließen, aber als sich der Pfarrer von ihm am Gartenzaun verabschiedete, sagte er:

»Ich muss immer darüber nachdenken, was er wohl getan hat. Das muss etwas ganz Schreckliches gewesen sein.«

»Diesen Gedanken kannst du gleich fallen lassen«, erwiderte Karl Erik. »Höchstwahrscheinlich handelt es sich nur um einen einfachen, menschlichen Fehltritt, der allein in seiner Vorstellung gewachsen und riesig geworden ist.«