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Nachdem Anders den Hörer aufgelegt hatte, kroch er wieder ins Bett und rollte sich wie ein Fötus zusammen, die Knie bis unters Kinn hochgezogen. Das Fieber war gesunken, es war nicht so einfach weiterzuschlafen.

Es war auch nicht mehr so schön, denn er fürchtete den Albtraum. Es war ein Traum, den er schon oft geträumt hatte, aber jetzt war er schlimmer geworden. Etwas Schreckliches jagte ihn, er versuchte zu entkommen. Aber es war gefährlich, ins Unbekannte zu laufen, er versuchte es, traute sich aber nicht, schneller zu werden. Da barst die Erde unter ihm, er sank, schrie und erwachte schweißgebadet und mit klopfendem Herzen.

Jetzt lag er da und dachte an das erste Mal, als er von dem Boden geträumt hatte, der sich öffnete und ihn verschlang. Das war in der Nacht nach der großen Entdeckung gewesen.

Wie alt konnte er gewesen sein? Vier, fünf?

Er sollte von den Kusinen auf dem Lande ein Kätzchen bekommen. Sie hatten sich schon kennen gelernt, die Katze und er. Sie war zart und außergewöhnlich, weiß mit blauen Augen, hatten die Kusinen gesagt, als er auf dem Hof war und sie begrüßt hatte.

Am Samstagmorgen wurde eine Kollegin im Supermarkt krank. Mama musste hin. Papa war nicht zu Hause, deshalb sollte Anders mitkommen und auf einer Palette neben Mama sitzen. Ihm gefiel es gut dort – Stimmen, die über Butter und Kaffee sprachen, wie teuer alles war, das Klimpern von Geld und die Kasse, die surrte und klingelte.

Es roch auch gut im Supermarkt, nach Geld, Schweiß, Süßigkeiten und Brot.

Endlich kamen sie heim, standen im Flur an der Tür zu dem schrecklich langen Wohnzimmer mit dem Sofa am anderen Ende, und Mama sagte:

»Nun schau nur, sie haben die Katze schon gebracht.«

»Wo?«, fragte der Junge, atemlos vor Aufregung.

»Sie liegt auf dem Sofa und schläft«, sagte Mama.

Dann holte sie die Katze und legte sie Anders auf den Schoß. Er strich ihr über den Rücken, war aber so verwirrt, dass er sich nicht freuen konnte. Er konnte die Katze nie richtig lieb gewinnen, und daran war die große Entdeckung schuld.

Wie konnte Mama wissen, dass die Katze auf dem Sofa lag?

Und mit der Zeit die Einsicht: Die anderen wissen etwas auf Abstand.

Er testete die große Entdeckung und erhielt Beweise. Er konnte seine Jacke falschherum anziehen und sich in die Küchentür stellen, während Mama am Spülbecken stand. Und es klappte immer:

»Aber mein kleiner Anders, jetzt hast du dich falsch angezogen.«

Sie wusste es. Auf weite Entfernung!

Es war nach der großen Entdeckung, dass er anfing, sich die Finger in die Augen zu bohren und sich zu fragen, wieso andere etwas damit erkennen konnten.

Er fand die Lösung nicht. Da begann der Albtraum.

 

Er hatte ja schon seit seiner jüngsten Kindheit gehört, dass etwas mit seinen Augen nicht in Ordnung war. Allmählich hatte er begriffen, dass er anders war. Aber wie? Mit der Zeit hatte er überlegt, warum alle so nett zu ihm waren, viel netter als zu anderen Kindern.

Das war gut so gewesen. Bis er das Flüstern hörte: der Arme, der arme Blinde.

Nach der großen Entdeckung war er so traurig, dass Mama den Sozialberater anrief. Er kam und redete viel. Aber Anders schwieg wie üblich, und schließlich beschlossen sie, dass er zu einem Arzt müsste. Der sprach zunächst mit den Eltern und dann mit ihm. Ein sonderbares Wort schnappte er auf – sehbehindert.

Sehbehindert.

Aber der Arzt sagte noch etwas Wichtigeres. Dass es viele Kinder wie Anders gab, dass die allermeisten gut in der Schule waren und eine gute Arbeitsstelle fanden. Er sollte in eine Schule für Sehbehinderte gehen.

»Du musst dich doch ziemlich einsam fühlen jetzt«, hatte der Arzt gesagt. »In der Schule wirst du Freunde finden.«

Anders wusste nicht so recht, was Einsamkeit war, damals noch nicht. Aber ihm gefiel die Schule, denn er gehörte zu den Kindern, die gerne lernten.

Das Beste war das Lesenlernen. Und dass es in der Schule Bilder gab, die man ertasten konnte. In den Büchern stand immer, wie die Menschen aussahen, und Anders versuchte lange Zeit, sich im Spiegel zu sehen. Ohne Erfolg. Aber dann half ihm eine Lehrerin, sein Gesicht mit den Fingern zu sehen – Nase und Augen, Mund und Haare.

Die seien dunkelbraun, sagte sie. Und dann sagte sie, dass er ein netter, ein richtig hübscher Junge sei.

Das war gut, aber Anders war immer noch wütend, dass es keine Spiegel gab, auf denen man fühlen konnte, wie man aussah.

Ab und zu schlug die große Entdeckung zu, auch in der Schule. Er erinnerte sich an den Sturm, wie er des Nachts um das Schulgebäude geheult hatte. Sie hatten in ihren Betten gesessen, seine Freunde und er, einander an den Händen gehalten. Voller Angst, bis der Lehrer kam und es ihnen erklärte.

Er erzählte von dem Wind, der so stark sein konnte, dass er Dächer und Autos in die Luft hob. Dann wurde er Sturm genannt, sagte er. Das war nicht gefährlich, denn die Schule war solide gebaut. Aber ein Baum im Park war umgeweht worden.

Ein großer Baum, sagte der Lehrer. Am nächsten Morgen sollten sie hinausgehen und es sich anschauen.

An diesem Tag lernte Anders, dass ein Baum ein Ende hatte. Er fühlte die Wurzeln, den Stamm, den er wieder erkannte, die Krone, das Laub, und dann war es zu Ende.

Ein Mädchen, das mitgekommen war, begann zu weinen. Aber Anders blieb stumm, wie immer, wenn etwas Wichtiges passierte.

Seine Freunde und er unterhielten sich auch ab und zu über die Sehbehinderung, was das bedeuten könnte. Aber meistens sprachen sie über die üblichen Dinge, Geschichten, die sie lasen, die Rechtschreibung und wer sich traute, am schnellsten zu laufen.

Einige Kinder hatten sehen können, waren dann jedoch verunglückt und hatten die Fähigkeit zu sehen verloren. Die konnten einem besonders Leid tun, denn sie waren immer so traurig.

Anders übte seine Finger, er konnte am besten die Farben sehen, Rot, das in den Fingerspitzen prickelte, Blau war ruhig und brav.

Ferien mochte er nicht. Daheim am Wochenende und in den Ferien lernte er verstehen, was der Arzt mit Einsamkeit gemeint hatte. Er bekam ein Kaninchen und fand es viel klüger als die Katze, die überfahren worden war, weil sie so unbedacht herumgelaufen war.

Das Beste, was ihm jemals daheim passierte, war Sofia, die auftauchte und ihn nach seinen Träumen befragte. Er platzte heraus mit dem Engel mit den großen weißen Flügeln, eifrig und bemüht, dass sie es interessant finden sollte.

Doch, er hatte wirklich manchmal von Engeln geträumt. Denn es traf ja auch ein, als sie beide gemeinsam träumten.

 

Jetzt rollte er sich im Bett zusammen und umschloss seinen Kummer. Sie hatten so viel Spaß miteinander gehabt, als sie den Berg hinaufgeklettert waren, mit dem Seil festgebunden. Anders hatte nicht verstanden, warum es gefährlich sein sollte. Aber jetzt begriff er es.

Denn jetzt hatte er Höhe und Tiefe gesehen, im Traum in der Kirche.

Der Schrecken tat ihm im Bauch weh, er musste sich aufsetzen, sich hin und her wiegen, vor und zurück, die Hände auf den Magen gepresst. Er hatte es in der kurzen Zeit, als sie den Psalm in der Kirche sangen, mit seinen Augen erfahren: hoch und runter, Licht und schroffe Kanten.

Nie, niemals hatte er geglaubt, dass die Welt so gefährlich war.

Und so unheimlich und grell. Sogar die Farben, an die er immer als etwas Freundliches gedacht hatte, waren gefährlich und schrien.

Er musste es vergessen.

Sofia hatte ihn gefragt, ob er Bilder gesehen habe. Die Frage fand er dumm, natürlich hatte er den Raum gesehen, die Menschen, Bäume und Blumen.

Er sah auf seine Art und Weise.

Plötzlich fiel ihm der Junge in der Ecke des Schlafsaals in der Schule ein. Den konnte er ganz deutlich sehen mit seinem hässlichen Lachen und seinen langen Armen. Alle Kinder sahen ihn, das wusste er, weil sie davon sprachen. Obwohl sie ihn nicht immer gleichzeitig sahen.

Er dachte wieder daran, wie sie den Berg hochgeklettert waren, Sofia und er.

Sie war nicht ganz bei Trost.

Nein, sie war nicht ganz bei Trost. Er hatte wohl mitbekommen, wie über sie geredet wurde, dass sie merkwürdig und anders war. Jetzt verstand er, was die Erwachsenen damit meinten.

Sofia war verrückt.

Im gleichen Moment, als er das dachte, stieg das trockene Weinen in ihm hoch. Sie hatten viel Spaß zusammen gehabt, sie mochte ihn, er liebte sie.

Einmal hatte er gesagt:

»Du hast goldblondes Haar und blaue Augen.«

Sie hatte protestiert, dabei hatte ihre Stimme aber sehr glücklich geklungen:

»Na, nicht so richtig goldblond.«

»Aber ich sehe es mit meinen Fingern.«

Er hatte nicht gesagt, wie es wirklich war, denn es hätte doch allzu kindisch geklungen, von den Prinzessinnen in den Märchen zu erzählen, die immer goldene Locken und blaue Augen hatten.

Sie war keine Prinzessin. Verrückt war sie, das hätte er doch schon erkennen müssen durch ihr ganzes Gerede, dem Baum zuzuhören, dem Berg und den Verstorbenen.

Er legte sich wieder ins Bett, jetzt auf den Rücken. Und da fiel ihm ein, dass er selbst den Berg hatte flüstern hören.

Blödsinn, sagte er laut, rollte sich auf der Seite zusammen und versuchte zu schlafen.

Aber da kamen die Bilder aus der Kirche zurück, deutlich, bunt und erschreckend.