Agnes taten bereits die Füße weh, als sie in der Hauptstadt von Geschäft zu Geschäft herumlief, eines eleganter als das andere.
Sie hatte schnell eingesehen, dass aus ihrem heimlichen Plan nichts werden würde. Mehrere der Boutiquen hier wollten gern ihre Kleider verkaufen, aber sie hatte es sich angewöhnt, nichts zu verkaufen, bevor sie nicht ein klares Bild von dem Besitzer hatte, von dem Laden und nicht zuletzt von dem Personal. Alles musste eine gewisse Klasse haben, und mit Klasse meinte Agnes nicht Eleganz, sondern einen guten Geschmack und tüchtige und interessierte Leute.
Aber überall, wo sie hinkam, war sie wieder erkannt worden, und damit hatte sie nicht gerechnet. Während sie sich über die tausendjährigen Kopfsteine des Stortorgets in der Altstadt schleppte, verfluchte sie ihre Eitelkeit, heute die hochhackigen Schuhe anzuziehen und dass sie sich immer wieder Zeitschriften für Interviews und Fotos zur Verfügung gestellt hatte.
Ich müsste einen Spion schicken, dachte sie. Jemanden, der weiß, was ich will, und den niemand kennt. Sie dachte an Magdalena in Göteborg, aber die war in Urlaub. Sie konnte Grete aus dem Geschäft in Kopenhagen kommen lassen, aber da war Feriensaison und viel zu tun.
Sie fuhr ein Stück mit dem Bus. Es war heiß und sie schwitzte; sie fand ein Straßencafé und bestellte eine Tasse Kaffee. Dann beschloss sie, die ganze Expedition abzubrechen und sich in den Zug nach Uppsala zu setzen.
Doch vorher telefonierte sie und Kerstin sagte, dass Hans gerade in Stockholm sei, bei seiner Reederei. Sie würde ihn anrufen. Von welchem Café Agnes denn anrufe?
»Ich bin am Norrmalmstorg.«
»Das passt ja prima, Hans ist auch da in der Gegend. Ruf in zehn Minuten noch einmal an, dann kann ich dir sagen, ob ich ihn erreicht habe.«
Als Agnes wieder anrief, sagte Kerstin, sie solle nur sitzen bleiben, etwas Erfrischendes trinken und sich ausruhen. Hans käme in einer Viertelstunde.
»Und woran erkenne ich ihn?«
»Er erkennt dich. Er hat dein Foto in der Femina gesehen.«
»Verfluchte Scheiße.«
»Was hast du gesagt?«
»Ach, ich verfluche diese Artikel schon den ganzen Tag. Ich werde es dir erklären, wenn wir uns sehen.«
Agnes war viel neugieriger auf Kerstin als auf Hans. Sie hatte mit Kerstin am Telefon bereits lange Gespräche über Trauer und Tod geführt, über ihre Kinder und die wechselnden Schicksale im Leben. Agnes war von Kerstins dunkler Stimme fasziniert, von ihrer Ehrlichkeit und ihrem Ernst. Sie gab bereitwillig zu – aber nur sich selbst gegenüber –, dass sie auf eine Freundschaft hoffte.
»Wie sieht sie aus?«, hatte sie Jonas gefragt.
Er hatte sie ausgelacht, wie immer, wenn es ums Aussehen ging, und gesagt, dass Kerstin Horner einer der schönsten Menschen sei, die er jemals gesehen hätte, aber dass sie anscheinend nichts davon wusste.
Agnes hatte ihn verwundert angesehen und gezischt:
»Du spinnst doch. In welcher Art und Weise ist sie denn schön?«
»Sie sieht aus wie eine griechische Statue, klassisch. Aber nicht wie eine Göttin, eher wie ein Gott, denn sie hat etwas Jungenhaftes an sich. Und sie hat die geheimnisvolle Fähigkeit, in der Wand zu verschwinden.«
»Das sagst du alles nur, um mich zu ärgern. Und es ärgert mich, dass es dir gelingt«, hatte Agnes gesagt.
»Da irrst du dich aber, liebes Mütterlein. Kerstin ist wirklich so, ich verspreche es dir.«
»Es gibt keinen schönen Menschen, der nicht stolz auf seine Schönheit ist und das Beste draus macht.«
»Warte es ab, bis du sie siehst.«
Agnes dachte gerade, dass sie sie jetzt ja bald sehen würde, als Hans Horner auftauchte.
»Mein Gott«, sagte sie überrascht. »Ich habe noch nie einen Vater gesehen, der seiner Tochter so ähnlich sieht.«
»Die meisten würden es andersherum sagen«, erwiderte Horner lachend.
»Sie wissen, dass ich Klara liebe«, entgegnete Agnes und lachte auch. »Dann ist es sicher auch in Ordnung, wenn wir uns duzen?«
Sie sah in seine Augen, was für eine sonderbare Farbe! Waren sie gelb?, überlegte Agnes verwundert. Er sagte:
»Das ist nett gesagt. Ich hatte ein bisschen Angst, du könntest Klara gegenüber kritisch sein. Wegen … wegen ihrer Schwierigkeiten.«
»Klara ist in Ordnung, das habe ich Jonas bereits an dem ersten glücklichen Tag gesagt, als ich sie kennen gelernt habe. Und das weißt du doch selbst, Hans Horner, dass alle ihre geheimen Seiten und ihre Schwierigkeiten haben, wie du es nennst.«
»Darf ich mich setzen?«
»Möchtest du etwas trinken?«
»Ja, ein Bier bitte.«
Nach den ersten Freundlichkeiten fühlten sich beide ein wenig befangen. Hans trank sein Bier und erklärte, dass er einen schrecklichen Tag gehabt habe. Er war im Reedereibüro, mit all den Versprechungen und schönen Reden, die nichts bedeuteten.
»Sie haben mir einen unzumutbaren Job nach dem anderen angeboten«, erzählte er. »Und immer gleich bleibend freundlich, wenn ich abgelehnt habe, und mir immer wieder versichert, sie würden weiter alle Möglichkeiten ausschöpfen. Aber heute ist mir klar geworden, dass sie damit spekulieren, dass ich aufgebe und wieder auf große Fahrt gehe.«
»Nicht unwahrscheinlich«, sagte Agnes. »In den meisten Büros gibt es mehr Leute als Aufgaben. Und sie brauchen ja wohl ein Kommando über ihre Schiffe.«
»Kann sein. Aber gleichzeitig läuft die Tankerschifffahrt schlechter.«
»Dann sind sie vielleicht sogar dankbar, wenn jemand einfach verschwindet.«
»Das glaube ich langsam auch.«
Die meisten in seiner Situation wären verbittert, dachte Agnes und betrachtete das braun gebrannte Gesicht genauer. Darin gab es keine Spur von Gram. Hier saß ein Mann voller Sicherheit und Selbstvertrauen.
»Das wird sich schon regeln«, sagte sie, und er nickte: »Natürlich, irgendwie wird es sich regeln.« Als sie lächelte, fiel ihm Jonas ein, und er sagte:
»Du magst Klara. Was meinst du, was Kerstin und ich über Jonas denken?«
»Kein Wort über den Jungen«, wehrte Agnes ab. »Er ist schroff und stur, ein verfluchter Besserwisser, aber nur ich darf so über ihn schimpfen.«
Hans sah überrascht drein, dann entdeckte er das Lächeln in ihren braunen Augen und sagte:
»Für uns ist Jonas ein Geschenk des Himmels. Fast täglich sagt Kerstin, dass er das Beste ist, was Klara passieren konnte. Und uns. Ganz zu schweigen von Sofia.«
»Gut«, nickte Agnes. »Genau das möchte eine alte Mutter gern hören. Aber wie ist es möglich, dass du so jung bist?«
»Wir haben jung geheiratet. Und Kinder gekriegt, als wir selbst noch welche waren. Jetzt sind wir endlich fünfzig, und es scheint, als wäre es an der Zeit aufzubrechen. Wir wollen aus Östmora wegziehen, uns einen neuen Job suchen, ja, wir machen Pläne wie die Teenager.«
»Das klingt gut«, sagte Agnes. »Wollen wir aufbrechen?«
Sie gingen zum Parkhaus in der Regeringsgatan und holten den Wagen.
»Ich habe Angst beim Autofahren. Deshalb wäre ich dankbar, wenn du vorsichtig fährst. Und langsam.«
»Agnes, ich liebe dich. Alle meine Frauen beklagen sich über meinen Fahrstil. Dass ich nicht schnell genug fahre.«
»Wie dumm von ihnen.«
Während der Fahrt erzählte Agnes von ihren missglückten Besuchen in den vielen Boutiquen, und Hans dachte, dass sie genau seinen Vorstellungen entsprach, ein spontaner Mensch, der seine Verkleidung abgeworfen hat. Er brummte mitfühlend, und als sie mit ihrer Schilderung fertig war, hatte er eine Idee.
»Schick doch Kerstin vor. Sie ist ziemlich kritisch und hat ein gutes Gefühl für Menschen, Atmosphäre und so.«
»Meinst du, sie würde das tun?«
»Du kannst sie ja fragen. Aber ich bilde mir ein, das könnte ihr gut tun. Wir müssen nach dem Begräbnis sowieso noch ein paar Tage hier bleiben, um Schwiegervaters Haus zum Verkauf anzubieten.«
»Und dann kommt ihr für einen langen Westküstenurlaub zu mir«, erklärte Agnes.
Kerstin und Agnes fühlten sich beide wie schüchterne Kinder, als sie sich endlich gegenüberstanden. Sie sieht genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt habe, dachte Kerstin. Jonas, dieser Teufel hatte Recht, dachte Agnes und gab sich Mühe, sich zurückzuhalten, während sie diese kleine Person mit der dunklen Stimme mit den Augen aufsog.
Kerstin war bereits den ganzen Morgen nervös gewesen. Sie war von Zimmer zu Zimmer gegangen, um Überflüssiges wegzuräumen, wie sie sagte. Hans, der anfangs ruhig zugesehen hatte, wurde schließlich wütend:
»Die Leute sollen uns nehmen, wie wir sind. Was ist denn bitte schön verkehrt an meinem alten Buddelschiff?«
Kerstin war stehen geblieben, hatte den Dreimaster in der Flasche angestarrt, dann gelacht und geantwortet:
»Es ist nichts verkehrt, es ist nur zu viel.«
»Dann räum‹ doch deine blöden Einweckgläser fort.«
Sie hatte genickt und alle Gläser, die sie im Laufe der Jahre gesammelt hatte, von den Fensterbänken geräumt. Sie stellte sie in einen Küchenschrank, zusammen mit Sofias großer Sammlung merkwürdiger Steine. Dann tat sie etwas, was sie sich seit Jahren vorgenommen hatte: Sie rollte den echten Teppich vor dem Kachelofen auf und legte stattdessen einen einfachen Flickenteppich dorthin.
»Du bist ganz gescheit«, meinte Hans nur.
»Da gibt’s nichts zu diskutieren«, sagte Kerstin. »Außerdem musst du jetzt los.«
»Ich hoffe, ich kenne das Haus noch wieder, wenn ich zurück komme«, sagte er.
Jetzt ging Agnes von Zimmer zu Zimmer und sagte wie erhofft:
»Was für ein schönes Heim ihr habt«, worauf Hans laut auflachte. Agnes sah ihn irritiert an, aber Kerstins Blick drohte: Ein Wort, und du bist des Todes. Also nahm er sich zusammen und fragte, ob es Sherry oder trockener Martini als Begrüßungsgetränk sein sollte.
»Weißwein mit Eis, wenn es den gibt«, antwortete Agnes. »Du hast wirklich einen verdammt netten Mann, Kerstin. Wir wissen schon eine Menge voneinander, die Fahrt hat ja auch einige Zeit gedauert. Aber mir gefällt seine Art Auto zu fahren.«
»Da bist du die Einzige«, sagte Kerstin lachend.
»Du siehst, was für ein schreckliches Frauenzimmer sie ist«, kommentierte Hans, und Agnes erlebte zum ersten Mal, wie allumfassend ihre Beziehung war. Liebe, dachte sie, wie ungewöhnlich nach so vielen Jahren.