Beim Essen auf der Terrasse erzählte Agnes von Sofia, die sie abwechselnd eine Elfe und ein Wunder nannte.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich mich derart in ein Kind verlieben könnte«, sagte sie. »Ihr wisst, wie das ist, wenn man seine eigenen großgezogen hat, wie viel Kraft sie einen gekostet haben, sodass man keine mehr für andere Kinder übrig hat. Zumindest habe ich das gedacht, bis Sofia mir über den Weg gelaufen ist.«
»Sie ist ja nicht gerade unkompliziert«, sagte Kerstin vorsichtig.
»Natürlich nicht. So eine Fähigkeit und so eine Begabung, die gibt es nie umsonst. Aber trotzdem ist sie unverdorben und offen für alles.«
»Ja«, bestätigte Kerstin, ihre Stimme brach ab, und sie suchte nach Worten, als sie ihren Kampf beschrieb, das Kind nicht zu bremsen und ihm gleichzeitig zu helfen, sich an die Welt anzupassen.
»Ich weiß, dass du das verstehst«, sagte sie. »Sofia hat mich angerufen und von der Collage erzählt, und wie du die Kalkulation aufgestellt und alles mitberechnet hast, die Näherinnen, die Raummiete, das Futter und alles. Da war mir klar, dass du verstanden hast.«
Agnes zögerte eine Weile, bevor sie von Per Karlsson erzählte und was er gesagt hatte, als er sie in ihrem Atelier in der Stadt besucht hatte, um sich die Collage anzusehen.
»Er meint, es sei ein großes Risiko für Sofia, wenn sie schon jetzt anfangen würde zu malen. Er hatte tausend Worte dafür, wie gefährlich Farbe sei, und er möchte, dass das Mädchen sich in den nächsten Jahren mit Stoff und einfachen Zeichnungen beschäftigt.«
»Jonas hatte ja große Hoffnungen in ihn gesetzt«, sagte Hans, der nur mit Mühe seine Enttäuschung verbergen konnte. »Glaubst du nicht, dass er übertreibt?«
»Ihr könnt selbst mit ihm reden, wenn ihr zu mir kommt. Es ist nicht einfach mit ihm, aber er hat viel Erfahrung. Und er ist ehrlich.«
»Kennst du ihn gut?«
Zum ersten Mal schien Agnes unsicher zu sein, sie sahen, dass sie zögerte, bevor sie entschlossen sagte:
»Ich liebe ihn. Wir haben jahrelang versucht zusammenzuleben, aber man kann ihn nicht in möblierten Räumen ertragen, wenn ihr versteht, was ich meine. Er ist zu groß, zu gewaltig, stur und verrückt. Aber klug. Ich habe den ganzen Flug über darüber nachgedacht, was er über Sofia gesagt hat, ob er damit Recht hat oder ob er von seinen eigenen Ängsten vor der Farbe spricht.«
Beiden, Hans und Kerstin gelang es, ihre Verwunderung zu verbergen.
»Jonas«, erklärte Hans, »hat so warmherzig von ihm gesprochen.«
»Ja. Per ist wie ein Vater für Jonas gewesen. Als ich unsere Beziehung aufgelöst habe, ist alles schief gegangen. Doch das kann der Junge euch lieber selbst erzählen.«
»Es tut mir Leid«, sagte Kerstin. »Aber als Jonas hier war, haben wir immer nur über uns und unsere Probleme geredet.«
»Du suchst die Schuld bei dir, Kerstin«, sagte Agnes. »Nun will ich euch aber etwas Schönes erzählen. Als mit Jonas damals alles schief zu gehen drohte, hörte ich von Judith Dorf. Es war schwer, einen Termin bei ihr zu kriegen, doch irgendwie habe ich es geschafft. Ich habe mich einfach ein paar Nächte lang auf ihre Treppenstufen gesetzt.«
Sie musste bei dem Gedanken daran laut lachen.
»Ihr hättet uns sehen sollen, diese kleine Vogelfrau und mich, die große Vogelscheuche. Aber sie hat Humor, und schließlich sagte sie mir zu, sich um den Jungen zu kümmern. Sie ist ein Wunder, er ist viermal die Woche zu ihr gegangen, und ich habe keine Ahnung, worüber sie geredet haben. Doch nach einem Jahr war der Junge erwachsen und klug. Ihr versteht jetzt sicherlich, warum ich mich für Klara so freue.«
Sie saßen schweigend da, als fürchteten sie sich vor der Freude und der Hoffnung, die Agnes in ihnen weckte. Sie selbst sah etwas verlegen aus, als sie fortfuhr:
»Judith Dorf will, dass ihre Patienten selbst bezahlen. Das gehört zu ihren Behandlungsprinzipien. Das ging bei uns ja nicht, weil Jonas erst achtzehn war und seine Schule fertig machen musste. Aber sie wird es nicht zulassen, dass ihr oder Jonas für Klara bezahlt.«
»Ich weiß, ich habe darüber schon nachgedacht«, sagte Kerstin. »Hier fällt ja jetzt ein Erbe an. Und es ist doch nur recht und billig, wenn ich ein Teil des Erbes meinem Kind gebe, oder?«
»Das ist gut«, sagte Agnes. »Und jetzt lasst uns über die Beerdigung reden.«
Sie lachten sie an, und sie schaute fragend drein.
»Das klingt, als wolltest du ein Fest planen.«
»Natürlich wird das ein Fest«, erwiderte Agnes.
Zu Kerstins großer Verblüffung verliebte Agnes sich auf Anhieb in den Adlerhorst des Lotsen auf dem Felsen, als sie am Freitagmorgen dorthin gingen. Ihr gefiel alles, wie sie sagte, die Lage, die Aussicht, bis hin zu der einfachen Architektur und den feierlichen Räumen mit ihren nachgedunkelten Eichenmöbeln.
»Du kannst sagen, was du willst, der Alte hatte Stil«, sagte sie.
Sie widmete sich Schränken und Schubladen, Glas, Besteck und Geschirr, ging ans Telefon und mietete zehn Beistelltische mit weißen Decken. Dann erkundigte sie sich bei Kerstin:
»Und was hast du gedacht, was willst du anbieten?«
»Schnittchen. Das ist hier so üblich«, sagte Kerstin, aber Agnes schnaubte:
»Mochte er Schnittchen?«
»Nein, er fand das immer ziemlich albern.«
»Siehst du. Und was mochte er?«
Kerstin dachte verzweifelt an all die Würstchen und anderes Fastfood, was der Alte in den letzten Jahren von den Hauspflegerinnen bekommen hatte. Dann fiel ihr Mutters Fischsuppe ein.
»Er mochte gern Fischsuppe.«
»Bouillabaisse«, schrie Agnes auf. »Wunderbar, wir machen Bouillabaisse. Und dann backen wir französisches Bauernbrot dazu.«
»Wenn die Leute aus Östmora keine Schnittchen kriegen, gibt es einen Skandal.«
»Na gut, dann schmieren wir eben ein paar Schnittchen.«
Sie schickten Hans mit einer langen Einkaufsliste zur Markthalle nach Uppsala, während sie inzwischen das alte Haus putzten und herrichteten.
»Was für ein wunderschönes altes Service.«
»Ja. Ich habe gedacht, es Klara und Jonas zur Hochzeit zu schenken.«
»Jonas wird der Schlag treffen«, sagte Agnes lachend. »Aber ich hoffe wirklich, Klara wird es zu schätzen wissen.«
»Man kann ja nie wissen. Vielleicht sollte ich sie vorher fragen.«
Es wurde Nachmittag, bis sie sich wieder bei Horners zu Hause trafen, Kaffee tranken und Brote aßen. Den ganzen Abend über würden sie Suppe kochen.
»Wir brauchen aber auch heute etwas zu essen«, sagte Hans. »Außerdem können Jonas und Sofia jeden Augenblick kommen.«
»Wir nehmen einfach was aus der Gefriertruhe«, sagte Kerstin.
Eine halbe Stunde später hörten sie das Auto. Agnes sah, wie Kerstins Augen vor Freude glänzten, als sie die Treppe hinunterlief und rief: »Sofia, Sofia.«
Das Mädchen sprang aus dem Wagen, noch bevor Jonas hielt, und schoss wie ein Pfeil auf Kerstin zu. Sie trafen sich auf halbem Wege und warfen sich ins Gras, Arm in Arm. Und dann lachten sie beide laut, während sie den Abhang zum Anleger hinunterrollten.
»Oma, Oma, Oma.«
Sofias Stimme stieg wie ein Möwenschrei gen Himmel, und Jonas und Agnes sahen einander verwundert an. Aber Hans sah betrübt aus, als er sagte:
»Die beiden waren jahrelang hier allein miteinander.«
Das Hinunterrollen wurde an der Brücke gebremst, Sofia sprang auf, zeigte aufs Meer und rief: »Wir baden.« Sie hörten Kerstin lachen, als sie nickte, und dann liefen die beiden geradewegs los und sprangen ins Wasser.
»Sie hätten sich zumindest die Schuhe ausziehen können«, sagte Agnes und versuchte, streng zu klingen. Aber als Jonas seine Mutter ansah, merkte er, dass sie nur mit Mühe die Tränen zurückhielt.
»Ich hätte es wissen müssen«, sagte sie. »So ein Kind bekommt man nur, wenn man ein Meer von Liebe auszugießen hat.«
»Das ist schön gesagt«, nickte Hans und legte seinen Arm um Agnes.
Das kalte Wasser ließ Kerstin wieder zur Vernunft kommen. Sie schüttelte sich wie ein nasser Hund und ging zu den anderen, um sich bei ihnen zu entschuldigen. Aber Sofia überholte sie und landete weich und wild in den Armen von Hans.
»Du sollst mich drücken, dass es wehtut.«
Er lachte und umarmte sie, bis sie um Befreiung bat. Als er sie wieder hinstellte, sagte sie:
»Jetzt müssen wir ernsthaft reden, du und ich. Weißt du, du musst mir nämlich was leihen, nein, geben, zweitausend Kronen.«
»Das geht sicher in Ordnung«, sagte Hans. »Im Augenblick könnte ich mich verpflichten, den Mond für dich herunterzuholen.«
Das Mädchen rannte auf Agnes zu, die die feuchte Umarmung abschüttelte und dabei erklärte:
»Da hast du vielleicht etwas missverstanden, Sofia.«
»Überhaupt nicht«, widersprach Sofia. »Ich habe mir alles gründlich überlegt.«
Eine ganze Weile flüsterte sie eifrig etwas in Agnes‹ Ohr, wobei Agnes abwechselnd nickte und den Kopf schüttelte. Es war leicht zu sehen, dass sie nicht einer Meinung waren.
Sie aßen eine einfache Mahlzeit. Dann warf Agnes die Männer aus der Küche und begann mit der merkwürdigen Fischsuppe. Kerstin und Sofia halfen ihr, und gegen neun Uhr zog ein intensiver Duft nach Schalentieren, Safran und frisch gebackenem Brot durch das Haus.
Bei der Trauerfeier am nächsten Tag erregte Agnes große Aufmerksamkeit, weil sie in der Kirche so ergriffen weinte. Hinterher erklärte sie, dass es eine großartige Feier gewesen sei und sie noch nie in ihrem Leben eine so schöne Predigt gehört habe.
»Die müssen Sie mir abschreiben«, bat sie Karl Erik, der stolz nickte und zum dritten Mal von der Fischsuppe nahm.