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Die schwarzen Steinkohleaugen hielten sie fest. Ich bin der Vogel, dachte sie, ein flatternder Vogel auf der Flucht vor dem Blick der Schlange.

Sie hasste Judith Dorf. Und sie konnte ihr nicht entkommen.

Sie waren wieder bei Klaras Psychose, Klara im Berg und das Monster, das ihre Eingeweide, ihre Haut und ihre Knochen fraß.

»Das Monster hat Sie also aufgefressen?«

»Ja«, Klaras Stimme war schrill.

»Aber etwas verstehe ich nicht«, sagte Doktor Dorf. »Wenn nichts mehr von Ihnen übrig geblieben ist, wer war dann die Person, die die Schule beendete, das Kind bekam, das Medizinstudium absolvierte, sich in Jonas verliebte und jetzt hier vor mir sitzt?«

»Sie sind ein Teufel, und ich hasse Sie«, schrie Klara.

»Das ist keine Antwort. Sagen Sie mir, Klara, wer sitzt mir hier gegenüber?«

Das, dachte Klara, ist mein schlimmstes Geheimnis, von dem ich selbst nichts wusste, was ich immer verbergen musste. Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, als sie schließlich flüsterte:

»Das muss dann das Monster sein.«

Dann sprach sie so schnell, dass sie sich verhaspelte, nein, sie glaubte ja selbst nicht, dass ihr ganzes Ich ein Monster sei, nur ein Teil, ein Stück, das um jeden Preis versteckt bleiben müsste.

»Ein schrecklicher und wunderbarer Teil.«

»Ich verstehe. Worin besteht das Wunderbare?«

»Nein, Sie verstehen nicht«, schrie Klara. »Ein Monster kann sich frei bewegen und alle Grenzen überschreiten … hinübergehen, ohne die geringste Furcht zu haben. Es weiß nichts von gut und böse, von Schuld. Johannes …«

Aber weiter schaffte sie es nicht.

 

»War Johannes ein Monster?«

»Nein! Aber das Monster war sein Kamerad. Er hatte keine Angst, er war jenseits jeder Furcht. Deshalb konnte er so malen.«

Sie war jetzt ruhiger, sie konnte über Johannes sprechen und darüber, wie sie von ihm angezogen wurde, über seine Rücksichtslosigkeit, seinen Mut und seine Sehnsucht nach dem Untergang.

»Ich habe ihn geliebt«, sagte sie. »Ich konnte das bisher nie sagen, aber ich habe ihn geliebt. Was jedoch nicht bedeutet hat, dass ich ihn retten wollte, o nein. Ich wollte ihm folgen.«

»Dem Untergang entgegen.«

»Ja. Aber mir fehlte der Mut. Und er lebt in Sofia weiter, deshalb habe ich so schreckliche Angst vor Sofia.«

 

Ihr Gespräch war ruhiger geworden, sachlicher. Judith Dorf sprach zu Klara als Ärztin, sie sprach ruhig und nüchtern darüber, dass die meisten Menschen ihre Schatten leugnen, und wie diese bei sehr verletzlichen und offenen Individuen die Herrschaft in einem psychotischen Schub übernehmen können.

Klara suchte in sich nach Worten, nach Begriffen, nickte energisch, und Judith merkte, dass sie sich auf Abwegen befand. So verstärkte sie nur den Weg, den Klara seit Jahren gegangen war, Vernunft, Logik, kaltes Licht. Das würde vielleicht reichen, um sie in der Wirklichkeit zu halten, aber es würde ihr niemals Tiefe und Einfühlungsvermögen geben, Magie und Leben, all das, was sie nach ihrer Krankheit verloren hatte.

»Wir haben über Verteidigung geredet«, sagte sie und nahm sich zusammen. »Dafür müssen wir wissen, wogegen sich das Kind Klara verteidigt hat. Wir wissen schon einiges: Sie hatte eine Intuition, die ihre Eltern erschreckte und die sie deshalb verbarg. Können Sie sich daran erinnern, wann Ihnen das zum ersten Mal bewusst wurde, dass Sie schweigen oder lügen müssen, um Ihre Mutter nicht zu beunruhigen?«

Klara schüttelte den Kopf.

»Das ist merkwürdig. Ich konnte doch immer in meinen Erinnerungsfilmen hin und her reisen. Nur hier bei Ihnen ist alles leer in meinem Kopf.«

»Das ist ein gutes Zeichen. Wir sind auf der Suche nach der Wahrheit. Und die ist nicht so ein Schelm wie die Erinnerung. Sie lässt sich nicht beschwindeln. Und keiner von uns kann sich an etwas erinnern, was so gefährlich ist, dass es überhaupt nicht mehr in der Erinnerung existiert.«

»Aber was machen wir dann?«

»Wir vertrauen den Träumen, meine liebe Klara.«

 

Jeden Nachmittag lag Klara auf ihrem Bett in dem Gästezimmer und hörte das Band ab. Vor und zurück spulte sie es. Sie war allein in dem Anbau, Solveig hatte nach Hause zu ihren Eltern nach Norrland fahren dürfen. Sie war jetzt stark genug und hatte genug erfahren, um selbst zu beobachten und festzustellen, was sie missverstanden hatte, wie Doktor Dorf erklärt hatte.

Klara machte sich ihretwegen Sorgen. Sie sprach mit Judith Dorf darüber, die zugab, dass auch sie sich Sorgen machte. Aber Solveig hatte sich selbst so entschieden, und die Ärztin hatte keine Machtmittel dagegen.

»Vielleicht fühlt sie ja das Richtige«, sagte sie. »Vielleicht ist sie stark genug, um mit der Wahrheit konfrontiert zu werden.«

Solveigs Wahrheit. Klara dachte darüber nach, und ihr war klar, dass es eine ganz andere Wahrheit war als ihre eigene. Dieses Mädchen aus dem hohen Norden war reichlich unterernährt hinsichtlich Liebe und Vertrauen, etwas, das Klara im Überfluss bekommen hatte.

Sie erzählte das der Ärztin, die lächelte und ihre Meinung bestätigte. Und deshalb war sie ja auch so zuversichtlich mit ihrer Prognose für Klara.

»Dann bin ich kein schwieriger Fall?«

»Nein, überhaupt nicht. Wir schaffen das hier, Klara, da gibt es gar keinen Zweifel. Sie haben alle Grundvoraussetzungen dafür.«

»Haben Sie mich Jonas zuliebe angenommen?«

»Anfangs vielleicht, ich mag den Jungen sehr gern. Aber inzwischen in erster Linie weil … weil Sie ein interessanter Fall sind.«

Sie lächelte. Und auch Klara verzog die Mundwinkel, als sie sagte:

»Das mit dem Spiritismus, das interessiert Sie als Ärztin also?«

»Ja, sehr.«

»Sie wollen untersuchen, wo die Grenze zwischen Spiritismus und Wahnsinn liegt?«

»Ich bin mir nicht so sicher, dass es dazwischen einen direkten Zusammenhang gibt. Im Augenblick überlege ich intensiv, ob es sich bei Ihnen um einen Mangel an Bestätigung und Bezugsrahmen handeln kann. Ich meine, normale Leute nehmen … ungefähr zehn Prozent der Wirklichkeit auf. Die können sie untereinander austauschen und sich dabei sicher fühlen; sie wissen, so ist sie, so ist die Wirklichkeit. Aber einige werden geboren, die zwei oder drei Prozent mehr sehen. Und dann bekommen die Leute Angst und tun alles, um die Zwölfprozentigen in den Zehnprozentrahmen zu pressen.«

Eine große Ruhe breitete sich in Klara aus, das war es, natürlich, so lief es ab.

»Warum haben die Leute denn Angst?«

»Das ist doch ganz natürlich. Trolle und Monster, Dämonen und Engel müssen in die Welt der Märchen geschickt werden. Dort darf es sie geben. Haben Sie mal darüber nachgedacht, warum die Mythen heutzutage so eine große Macht über die Sinne haben?«

»Nein, ich erlaube es mir nicht, über so etwas nachzudenken.«

»Ich verstehe. Aber ich habe lange darüber nachgedacht, und ich glaube, der Grund dafür liegt darin, dass jeder tief im Inneren weiß, dass die sonderbaren Wesen der Märchen einer Welt angehören, die es gibt, die jedoch der moderne Mensch versucht zu verleugnen. Und je rationaler er wird, umso weiter entfernt er sich von der Quelle der Weisheit, die dem Leben erst seine Qualität gibt. Das ist tragisch, weil dadurch der Mensch von der Realität seiner Psyche abgeschnitten wird. Wir sind auf dem Weg, den Kontakt mit der Welt zu verlieren, aus der alles Wissen kommt.«

»Ich bin Naturwissenschaftlerin, ich bin mir nicht sicher, ob ich alles verstehe, worüber Sie reden.«

»Ich will versuchen, das, was ich meine, zu verdeutlichen. Alle Fortschritte, die wir gemacht haben, entspringen einem Bild, einer Phantasie. Also einem Mythos. Der Mythos begreift die Natur der Realität auf einer direkten, intuitiven Ebene. Damit haben Sie mehr Erfahrung als ich, Klara. Das Ziel meiner und Ihrer Arbeit ist es, die Kluft zwischen dem, was Sie als Wirklichkeit auffassen, und dem, was Sie Wahnsinn nennen, zu verringern. Sie sind kein bisschen wahnsinnig, Klara, nur ungewöhnlich hellsichtig.«

»Wollen Sie mir damit sagen, dass es das Monster gibt?«

»Ja, Klara. Aber nun stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind. Ihr Monster ist ein Symbol für das Schreckliche, das Verführerische und Verbotene in Ihrem Leben. Da die stärksten Kräfte in unserer Psyche unfassbar und unsichtbar sind, haben sie immer die Gestalt von Tieren oder Monstern angenommen, von bösen Geistern, Engeln, Sie kennen das selbst. Der Mensch ist ein formbildendes Tier, er macht sich von allem Bilder.«