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Dreimal ließ Klara das Band an jener Stelle vor- und zurücklaufen, wo die Ärztin sagte, dass die Erinnerung ein Schelm sei, Träume seien der einzige Weg zur Wahrheit.

Es war neun Uhr abends, es regnete, und die alten Bäume vor ihrem Fenster tranken gierig das Wasser. Sie mochte den Regen, der in kräftigen Schauern kam, wie Hagel gegen das Fenster schlug, nachließ, eine Weile gegen die Scheiben rieselte, dann wieder Kraft sammelte, um sich mit dem nächsten kräftigen Windstoß zu vereinen und erneut loszupeitschen.

Ihr gefiel überhaupt das Wetter an der Westküste, die jähen Wechsel, die dröhnenden Unwetter, die brüllenden Stürme und die heiße Sonne.

Sie dachte an Jonas, daran, dass seine Liebe der von Kerstin glich, haltbar und geduldig. Sie erinnerte sich plötzlich daran, wie sie Hans hatte sagen hören, dass Kerstin seine Wirklichkeit sei.

Ich muss schlafen, dachte sie. Ich bin so müde, so müde, so …

 

Papa und sie liefen durch das seichte Wasser vor dem Haus in Östmora, sie sammelten Steine. Die sollten rund sein, glatt und eine schöne Farbe haben, um sie am Strand auf einen Haufen zu legen. Sie war noch klein, vier Jahre alt. Die Sonne schien, Papa war nach Hause gekommen. Aber das war kein Grund zur Freude wie sonst, es war schrecklich. Denn Papas Augen waren dunkel vor Angst, und das Kind wusste, dass er nicht wirklich bei dem Spiel mitmachte. Er tat nur so, ihr zuliebe. Mama war im Krankenhaus, es war nichts Gefährliches, man hatte ihr gesagt, dass es nichts Gefährliches war. Der kleine Junge, der in Mamas Bauch wohnte, sollte rauskommen. Eiweiß, hatten sie gesagt, die Großen. Es lag am Eiweiß, dass Mama ins Krankenhaus musste, und Papas Augen waren schwarz vor Angst. Und das Kind weiß, dass es gefährlich ist, das Kind spielt dem Papa zuliebe mit: Guck mal, ein großer, fast grüner Stein. Er beugt sich hinunter, um ihn aufzuheben, und da sehen sie beide im gleichen Moment die Tote, die da auf dem Meeresgrund liegt, das Mädchen mit den wogenden langen blonden Haaren, die im klaren Wasser glänzen. Sie sieht ihm ähnlich, sie sieht Papa ähnlich. Aber am ähnlichsten sieht sie dem Kind, der Vierjährigen, die stehen geblieben ist und Papas Hand umklammert, vor Schreck erstarrt. Sie wendet mit Mühe ihren Blick von dem Kind auf dem Meeresgrund ab, schaut zu Papa hinauf und sieht in seinen Augen, dass auch er es gesehen hat und dass auch er versteinert ist vor Schreck.

 

Das Kind schreit, Klara schreit im Traum, versucht aber die Bilder festzuhalten, wie der Vater das Mädchen auf den Arm nimmt, zum Haus läuft, wie er am ganzen Körper zittert, ihr Papa, ihr starker Papa. Dann verschwindet alles, und Klara schaut zum Fenster in der Hütte in Aspen, sieht, dass der Regen aufgehört hat, dass die Morgendämmerung kommt und einen Tag mit Sonne verspricht.

Sie zittert am ganzen Körper, aber ihr Herz ist ruhig, ruhig wie bei einer Toten. Als wäre sie im Traum gestorben. Doch sie ist nicht tot, sie friert, wie ein Mensch, der sterben wird, sie versucht, die Decke um sich zu wickeln, doch sie schafft es nicht, versucht aufzustehen, zur Tür zu gehen, um Hilfe zu rufen, aber sie kann es nicht.

Sie umklammert sich mit den eigenen Armen, versucht sich selbst zu wärmen. Ruhig, nur ruhig, dann geht es vorbei, denkt sie, bleib ruhig, atme, es geht vorbei.

Da sieht sie sie wieder, das Mädchen auf dem Meeresgrund, das Klara war, das sie selbst war, aber doch nicht sie, und sie spürt, wie die Tote sie anzieht, Stück für Stück, hinab zum Grund. Sie ist so allein, denkt Klara, so verlassen, so kalt, so fürchterlich allein. Ich komme, flüstert sie, bald bist du nicht mehr allein. Aber hier kann man nicht ertrinken, es ist zu flach, mein Gott, wie kann ich die Tote ins tiefe Wasser kriegen, in dem wir beide versinken können, ausgelöscht werden und unseren Frieden finden.

 

Sie blieb in ihrer Versteinerung. Drei Stunden später fand Judith Dorf sie, massierte sie, einen Körperteil nach dem anderen, wickelte mehrere Decken um sie und zwang sie, heißen Tee zu trinken. Langsam kam Klara wieder in der Hütte in Aspen an und bei der Ärztin, die überhaupt nicht ängstlich aussah, sondern sagte: »So, mein Mädchen, das war ein Durchbruch. Jetzt haben wir etwas Reelles, mit dem wir arbeiten können.«

 

Dann saßen sie wieder da, einander gegenüber an dem Tisch mit der Schwindel erregenden Aussicht übers Meer.

»Das war kein Traum«, sagte Klara. »Ich weiß, dass es eine Erinnerung war. Genauso war es, als Jan geboren wurde.«

»Gut. Damit könnten Sie Recht haben. Vielleicht können Sie sich jetzt daran erinnern, was damals passiert ist.«

»Wir sind in die Küche gegangen und haben uns dabei nicht angeguckt. Mein Vater hat Brote geschmiert, wir wollten gerade anfangen zu essen, als das Telefon klingelte. Es war das Krankenhaus, alles war gut gegangen, ein kleiner Junge war geboren worden.«

Sie zitterte von neuem:

»Das muss genau in dem Moment geschehen sein, als wir die Tote gesehen haben. Und deshalb musste Jan sterben.«

»Klara, bleiben wir bei dem, was geschehen ist. Was tat Ihr Vater, als er die Nachricht erhielt?«

»Er weinte. Das war auch ziemlich bedrohlich, er legte sich mit dem Oberkörper auf den Küchentisch und weinte und sagte, er habe die fürchterlichsten Phantasien gehabt. Ich hatte meinen Vater noch nie weinen gesehen, ich bin auf seine Knie geklettert und habe versucht, ihn zu trösten. Dann ist er ins Krankenhaus gefahren, und ich musste bei Tante Inger bleiben.«

»Wer ist Tante Inger?«

»Eine lustige alte Frau, die den Anbau meiner Eltern gemietet hat. Billig, dafür hat sie immer mit Babysitting und so geholfen.«

»Wieso ist sie lustig?«

»Sie liebt das Okkulte, alle möglichen Weissagungen, erstellt Horoskope und so. Aber niemand nimmt sie Ernst.«

»Ich kann mir geeignetere Babysitter für Sie vorstellen. Hat die Vierjährige das nicht alles für bare Münze genommen?«

»Ein bisschen schon. Aber eigentlich war es mehr Spiel, spannend und so. An dem Tag erstellte sie das Horoskop für Jan und sah für ihn ein langes, glückliches Leben. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, aber nach dem schrecklichen Morgen tröstete es mich.«

»Haben Sie und Ihr Vater hinterher jemals über die Tote im Meer gesprochen?«

»Nein. Ich habe mich dazu gezwungen, sie zu vergessen.«

»Aber Sie sind sich sicher, dass er sie auch gesehen hat?«

»Ja.«

 

Klara hatte keinen Zweifel. Judith brauchte all ihre Kraft, um zu verbergen, wie aufgewühlt sie war, die Stille währte lange. Zum Schluss brach Klara sie:

»Das ist nicht weiter merkwürdig. Denn das Hellseherische kommt ja aus seiner Familie.«

»Die Tote sah Ihnen ähnlich, haben Sie gesagt.«

»Ja, wie ich aussah, als ich fünfzehn war.«

»Als Sie eine Psychose hatten.«

»Mein Gott. Das stimmt«, flüsterte Klara.

 

Judith ließ Raum für ein weiteres langes Schweigen, bevor sie fragte:

»Ich möchte gern, dass Sie über etwas nachdenken. Sah das Mädchen auf dem Meeresgrund noch jemand anderem ähnlich? Ihrem Vater, das ist mir klar, weil Sie ja gesagt haben, dass Sie ihm sehr ähnlich sehen. Aber noch jemand anderem, den Sie getroffen haben, in Ihrem Leben gesehen haben, auf einem Foto oder in Ihren Träumen oder Phantasien? Lassen Sie sich dabei Zeit, Klara, versuchen Sie, sich an das Gesicht des toten Mädchens Zug um Zug zu erinnern.«

»Sie hatte ein Grübchen im Kinn, und das haben weder Papa noch ich. Außerdem hatte sie eine andere Nase, ein wenig gebogen. Oh, mein Gott!«

»Klara Horner!«

Klara versuchte zu reden, aber der Schock war zu groß. Judith Dorfs Stimme war voll Zärtlichkeit, als sie sagte:

»Nun komm schon, mein Kind.«

Und Klara flüsterte:

»Sie sah der Frau aus meinem Traum in der ersten Nacht hier ähnlich. Und jetzt weiß ich, wer das war. Es war meine Großmutter, die Mutter meines Vaters.«

Dann endlich konnte Klara weinen. Sie weinte ununterbrochen den ganzen Vormittag, und Judith Dorf versorgte sie mit immer neuen Papiertaschentüchern. Als die Stunde vorbei war, versuchte sie sich zu entschuldigen, aber die Ärztin sagte, es sei ein äußerst sinnvoll angewandter Vormittag gewesen.

»Ich bin überzeugt davon, dass Sie heute ein ganz wichtiges Puzzleteil gefunden haben. Und jetzt möchte ich, dass Sie mit mir zu meiner Schwester in die Stadt fahren. Wissen Sie, sie kannte nämlich zufälligerweise Ihre Großmutter väterlicherseits.«

Klara war so erschöpft, dass es lange dauerte, bis sie die Bedeutung der Worte ihrer Ärztin begriff. Während Judith Dorf telefonierte und jemanden bat, sich ums Mittagessen zu kümmern, ging Klaras Überraschung in Gewissheit über. Nicht nur Jonas zuliebe hatte sie für Klara so ein intensives Interesse gezeigt. Und nicht nur, weil sie ein spannender Fall war.

Es gab noch etwas anderes.

Jetzt bekam sie Angst. Papa, dachte sie. Dann fiel ihr ein, was sie ihm bereits nach dem ersten Gespräch mit Doktor Dorf geschrieben hatte: Ich habe das Gefühl, als spiele ich eine Rolle in einem Drama.