Hans und Kerstin hatten beschlossen, sich auf ihrer Fahrt nach Göteborg viel Zeit zu lassen. Sie brauchten es, endlich mal wieder nur zu zweit zu sein.
Als sie das Auto beluden, sagte Kerstin, dass eine Melodie sie verfolge, ein altes Taube-Lied, das sich wie eine Schallplatte immerzu in ihrem Kopf drehte: »Ich bin frei, ich habe mein grässliches Verbrechen gesühnt …«
Sie lachte, aber Hans schüttelte nur den Kopf:
»So hast du es empfunden?«
»Muss ich wohl. Obwohl ich mich nie daran erinnern konnte, worin mein Verbrechen bestand.«
Sie fuhren zu Katarina und Anders, um sich zu verabschieden. Der Junge war offener geworden, und es gab keinen Zweifel, dass er sich auf die Reise zur Hochzeit nach Göteborg freute. Katarina und er sollten mit dem Pfarrer mitfahren, den Jonas selbst angerufen hatte:
»Weder Klara noch ich können uns einen anderen Pfarrer vorstellen.«
»Das passt mir ausgezeichnet, denn ich habe dann Urlaub. Können Sie ein billiges Zimmer für mich und meine Familie besorgen? Und für Anders, ich traue mich nicht, ihn allein zu lassen.«
»Wir können für kostenlose Unterkunft sorgen. Agnes hat ein Haus mit Größenwahnausmaßen und ist gerade dabei, den einen Flügel für die Horners in Ordnung zu bringen. Klara und ich räumen den anderen. Das Haus ist klapprig, dafür aber wunderbar am Meer gelegen.«
Karl Erik war überrumpelt:
»Müssen Sie nicht erst mal Ihre Mutter fragen?«
»Kaum notwendig. Aber um Ihr Gewissen zu beruhigen, werde ich sie bitten, Sie direkt anzurufen.«
Agnes hatte abends angerufen, als Karl Erik in der Kirche war. Also hatte sie mit Berit Holmgren gesprochen, die überglücklich gewesen war. Über das Gespräch und über die Ferien an der Westküste, durch die sie darum herum kam, ihre Eltern besuchen zu müssen.
Doch dann wurde sie von Besorgnis gepackt: Was in Gottes Namen sollte sie denn nur anziehen?
Kerstin hatte das gleiche Problem gehabt, es jedoch gelöst, indem sie Agnes erklärt hatte: »Ich kaufe ein Kleid in deinem Geschäft, wenn ich zu euch komme.«
»Nichts da«, hatte Agnes widersprochen. »Hier wird extra genäht, die Mutter der Braut soll alle in Erstaunen setzen.«
»Aber das kann peinlich werden, Agnes. Ich darf mich nicht hübscher machen als Klara.«
»Gewisse Dinge in dieser Welt kann man nun mal nicht ändern. Nun komm schon her, mein Mädchen, dass ich Maß nehmen kann. Unser Problem ist vielmehr Hans mit seinen schrecklichen Hemden. Hat er überhaupt einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd?«
Kerstin hatte gekichert und gesagt, dieses Problem sei bereits gelöst. Hans Horner werde bei der Hochzeit seine Kapitänsuniform tragen.
»Weiß er davon?«
»Bisher noch nicht. Aber alte Ehefrauen haben so ihre Tricks.«
»Willst du ihn mit Tränen erweichen?«
Kerstin hatte laut aufgelacht, o nein, das auf keinen Fall. Außerdem wäre das das beste Mittel, ihn gegen ihre Pläne aufzubringen.
Jetzt hing also die weiße Sommeruniform gebügelt im Auto, geschützt im Plastikbeutel. Hans Horner hatte überrascht ausgesehen, war dann aber mit Kerstin einer Meinung gewesen, dass die Uniform besser sei als der geliehene Smoking, den sie als einzige Alternative genannt hatte.
Inger war zurück, so konnte Kerstin Schlüssel, Post und Blumenpflege mit gutem Gewissen ihr überlassen. Sie hatte ein sonderbar wehmütiges Gefühl, als sie eine letzte Runde durch das Haus machte.
»Es ist, als nähme ich Abschied. Aber wir müssen zum Schulanfang im Herbst ja auf jeden Fall zurück sein, Sofia und ich.«
»Natürlich«, bestätigte Hans, dachte aber: Wer weiß. Etwas Schicksalhaftes lag in der Luft.
Sie freuten sich über den Enthusiasmus des Hausmaklers. Das Lotsenhaus mit seiner außergewöhnlichen Lage würde an den Meistbietenden verkauft werden, und das würde eine hübsche Summe Geld bedeuten.
»Wir können ein Jahr frei machen, Hans.«
Aber Hans sprach mit seinem Steuerberater, der wiederum von hohen Steuern sprach. Und meinte, er müsse nach Hamburg fahren wegen neuer Verhandlungen mit der Bank in Hamburg, Hans‹ deutsches Erbe betreffend.
»Machen Sie, was Sie wollen«, erwiderte Hans, der immer kurz angebunden war, wenn das Geld aus der Hornerschen Schiffsmaklerei in Deutschland zur Sprache kam.
Und dann brachen sie am frühen Donnerstagmorgen in Östmora auf. Kerstin war noch müde von der Beerdigung und einer ausgiebigen Ladenrunde in Stockholm. Aber es war ein schöner Auftrag gewesen, und sie hatte viele Notizen, die sie Agnes zeigen wollte.
Sie entschieden sich für die südliche Route, kamen jedoch am ersten Tag nur bis zum Omberg-Touristhotel. Dort streiften sie den ganzen Abend auf dem geheimnisvollen Berg herum, still und nahe beisammen. Am Freitagmorgen betrachteten sie vom Hotelzimmer aus den Sonnenaufgang durch die Spitzbögen der Alvastra-Ruinen. Sie schwiegen immer noch, aber ihre Körper fanden zueinander, ihre Hände arbeiteten im Gleichklang, alle Gefühle und alle Gedanken wurden von Augenblick zu Augenblick geteilt.
Auch mittags aßen sie noch im Touristhotel.
Dann fuhr Kerstin die schöne Autobahn am Vättern entlang und fand die Straße Nr. 40 durch das Hochland von Småland, nach Borås und schließlich Göteborg. Sie kamen an Liseberg vorbei, lächelten und dachten, dass sie sicher einen Abend hierher fahren würden.
Kurz vor Sahlgrenska verfuhren sie sich, studierten die Autokarte und fanden dann schließlich den alten Särövägen. Und das Haus. Hans spürte eine fast unbändige Freude, als er dort am Meer stand und Agnes‹ gewaltiges Holzschloss betrachtete.
»Was für ein Haus, welche Möglichkeiten.«
Aber er sah auch den Verfall, dass es nach einem neuen Dach und neuen Regenrinnen, frischer Farbe und neuen Fensterrahmen schrie. Als sie Agnes begrüßt und Sofia umarmt hatten, sagte er:
»Ich hätte fast Lust, mir die Reparatur deines Hauses vorzunehmen.«
»Das darfst du nur sagen, wenn du das auch wirklich meinst«, entgegnete Agnes ernsthaft. »Das Dach leckt, die Nordwand vom Atelier ist verrottet, es regnet in die Küche rein. Aber ich bin vernarrt in das Haus, kannst du das begreifen?«
»Ja. Das ist ein Haus, in das man sich vergucken kann.«
Sie gingen in fast andächtiger Stimmung durch die Räume.
»Du hast hier wertvolle Kunstwerke. Wenn du ein paar davon verkaufst, hast du genug Geld für die Reparaturen.«
»Ich brauche nichts zu verkaufen. Ich habe genügend Kapital. Aber ich traue den Handwerkern nicht. Sobald man ihnen den Rücken kehrt, nageln sie hässliche Leisten an oder mischen sich irgendeine grässliche Farbe zurecht. Ich würde wahrscheinlich vor Freude sterben, wenn du es übernehmen wolltest, alle Elektro-, Maler- und Metallhandwerker zu überwachen.«
Sie bekamen ihr Begrüßungsgetränk auf der Veranda mit Blick aufs Meer serviert, Kerstin genoss ihn in vollen Zügen, während Hans voller Besorgnis die Pfeiler betrachtete, die wie mit einem Hilfeschrei das Verandadach in der Höhe hielten.
»Ich muss darüber nachdenken, Agnes. Und Kerstin hat ja ihre Arbeit in Östmora und Sofia ihre Schule.«
»Schulen gibt es überall, und Lehrer sind Mangelware. Also überleg’s dir. Vielleicht solltest du Bauunternehmer werden, Hans Horner.«
»Agnes!«
»Ja, ja, ich weiß. Ich war nur so begeistert von der Idee.«
Vor dem Essen mussten sie auspacken. Als sie zum linken Gebäudeflügel gingen, merkte Kerstin, wie aufgeregt Sofia war, eckig in ihren Bewegungen, sogar ein wenig blass. Sie wechselte einen Blick mit Hans und sah, dass auch er es bemerkt hatte und unruhig wurde. Aber Agnes war die Ruhe in Person, und plötzlich wurde ihnen klar: die Collage.
Dieser Flügel umfasste vier schöne Zimmer, erlesen möbliert. Es gab eine Küche mit modernem Inventar, ein Badezimmer. Das Schönste war aber das lang gestreckte Wohnzimmer, dessen gesamte Westwand verglast war und den Blick aufs Meer freigab.
»Wie wundervoll, Agnes.« Kerstin flüsterte fast.
Dann entdeckten sie sie an der Breitwand. Vom Boden bis zur Decke erhoben sich die Berge von daheim mit den wilden Stiefmütterchen und dem Steinschiff der Steinzeitmenschen. Kerstin setzte sich auf einen Stuhl und sah aus, als wolle sie zu weinen anfangen.
»Nun heul bloß nicht, Oma. Das ist für Hans, er soll es kriegen, und er weiß, warum.«
Hans konnte nur nicken.
Als er Sofia hochhob, flüsterte sie:
»Du weißt? Der Bergkönig?«
»Ja.«
Während der Begrüßungsmahlzeit rief Klara an und sagte, dass Jonas und sie auf dem Weg zu ihnen seien. Essen? Nein danke, sie hätten schon gegessen.
Agnes sah glücklich aus, als sie wieder an den Tisch kam.
»Ihr werdet euch über Klara sehr freuen«, sagte sie.
Bereits am frühen Morgen summte das Haus am Meer von den Vorbereitungen für die Hochzeit. Agnes ging die Speisenfolge durch, die Gedecke – »Wir essen lieber drinnen, denn hier kann man sich nicht auf das Wetter verlassen« –, die Gästeliste – »Wir wissen ja gar nicht, wie viele eurer Studienfreunde kommen werden. Und dann sind da meine Freunde und alle aus Östmora. Ich habe auch die Schwestern Dorf eingeladen, die Ärztin selbst wird nicht kommen, solange Klara ihre Patientin ist. Aber Renate, ihre Schwester, hat zugesagt.«
Sie schwieg eine Weile, bevor sie fortfuhr: »Mein ältester Sohn und seine Frau kommen auch nicht. Sie haben gestern aus Kalifornien angerufen und gesagt, sie könnten sich nicht freimachen.«
Kerstin sah sie lange an, bevor sie sich zu fragen traute: »Bist du deshalb traurig?«
»Ein wenig. Aber gleichzeitig auch erleichtert. Ich mag meine amerikanische Schwiegertochter nicht. Und mein Sohn hat Probleme mit dem Alkohol.«
»Ach Agnes, wir wissen so wenig voneinander.«
»Wir haben viel Zeit, uns kennen zu lernen, Kerstin.«
Hellgrüne Tischdecken waren zu sehen, weißes Porzellan mit elegantem Blumenmuster in Dunkelgrün, Kristallgläser. Das gesamte Essen sollte von einem Restaurant aus der Stadt fertig angeliefert werden. Agnes redete munter weiter, Kerstin unterbrach sie:
»Wir müssen uns zumindest die Kosten teilen.«
»Okay. Aber dein Kleid bekommst du als Lohn für deine Arbeit in Stockholm.«
Hans und Jonas fassten kurzerhand den Entschluss, mit Jonas‹ altem Holzboot aufs Meer zu fliehen. Sofia zögerte lange zwischen all den verlockenden Angeboten, entschied sich dann aber doch, ihnen aufs Wasser zu folgen. Klara und Kerstin mussten mit Agnes in die Stadt fahren, zur Anprobe im Atelier.
»Ich fürchte, ich werde so eine Mutter sein, die bei der Hochzeit heult«, sagte Kerstin, als sie ihre Tochter in der weißen Seide sah, eng anliegend, sodass die zarte Eleganz von Klaras Figur betont wurde.
»Ja, sie ist schon schön, euer Mädchen«, sagte Agnes zufrieden. »Aber jetzt bist du dran.«
Kerstin wurde in goldene, gefältete Eleganz gehüllt, und Klara rief aus:
»Aber Mama, Jonas hat Recht. Du siehst aus wie ein griechischer Gott.«
Es war nur Freude in ihrer Stimme, und Kerstin dachte: endlich.
Die Näherinnen, die mit den Nadeln um Kerstin herumschwirrten, jubelten überrascht: »Mein Gott, was hast du für eine schöne Mutter, Klara. Dass dein Vater gut aussieht, haben wir ja schon von Sofia gehört, aber sie hat kein Wort von ihrer Oma gesagt.«
Früh am Montagmorgen brachte Jonas Sofia zu Judith Dorfs Hütte in Aspen. Dort sollte sie um vier Uhr von Kerstin abgeholt werden.
»Es ist wichtig, dass du allein mit Doktor Dorf reden kannst«, erklärte er Kerstin. »Sie möchte nicht, dass du Hans mitbringst.«
Kerstin sah ihn überrascht an, versprach aber zu gehorchen. Er lieh ihr seinen Stadtplan, und sie sah sofort, dass es nicht schwer sein würde, dorthin zu finden.