65

Sofia saß der Ärztin im Empfangszimmer mit der wunderbaren Aussicht gegenüber. Das Gesicht des Kindes war ernst und erwartungsvoll.

»Ich bin froh, dass du mit mir sprechen möchtest«, sagte sie. »Ich weiß, dass du jemand bist, der versteht.«

Wieso haben sie behauptet, sie sei kindlich für ihr Alter, dachte Judith Dorf, wie schon Jonas damals gedacht hatte. Laut sagte sie:

»Du darfst nicht zu große Erwartungen haben, Sofia. Es gibt Dinge, die niemand wissen kann. Was wir uns erhoffen können, du und ich, ist, ein bisschen mehr zu verstehen. Fang jetzt damit an, mir zu erzählen, was dich am meisten beunruhigt.«

Von Anfang an und auseinander halten, dachte Sofia und erzählte von Anders. Wie neugierig sie auf ihn gewesen war, und wie sie gedacht hatte, dass er, der nicht mit den Augen sehen konnte, möglicherweise die gleiche Welt sah wie sie. In seinem Kopf.

Bereits beim ersten Mal, als sie sich daheim auf dem Berg trafen, war sie fast sicher gewesen, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Das war gewesen, als er für sie gesungen hatte, das Lied über den Berg, der sich öffnete, sodass man hineingehen konnte.

Doktor Dorf sah überrascht aus, und Sofia sagte: »Warte mal.«

Dann sang sie, schneidend falsch: »Felsen, der du zerbrachst für mich, lass mich in dir mich verbergen, in ein unbekanntes Land geh ich … – Ich singe nicht weiter. Und außerdem bringe ich da was durcheinander.«

Sie sah die Ärztin prüfend an, sie fürchtete, sie werde loslachen. Aber Judith Dorf war ernst und außerordentlich interessiert.

»Das ist ein Kirchenlied«, sagte sie. »Weißt du, warum es so einen großen Eindruck auf dich gemacht hat?«

Sofia berichtete, dass der Berg mit ihr redete und dass er sie oft gebeten hatte, in den Fels hineinzugehen. Dort würde sie alle Geheimnisse erfahren. Aber sie schaffte es nicht allein. Es gab nur eine Person, die das konnte, und das war Hans. Er war der Bergkönig, aber davon wusste er nichts. Einmal hatte sie es gewagt, ihn darum zu bitten, doch er war nur böse geworden und hatte behauptet, sie würde phantasieren.

»Aber eigentlich hatte er Angst«, sagte sie. »Das fühlte sich ganz genau so an, als wenn Omas Feuervogel aufsteigt.«

»Das musst du mir erklären.«

Sofia erzählte ausführlich von Kerstin und deren Feuervogel, wie ihre Oma versuchte, ihre Angst zu ertragen, und wie sie und Sofia übten: Auseinander halten. Judith nickte und sagte, sie habe eine sehr kluge Großmutter; und Sofia sagte, dass sie Kerstin mehr liebe als jeden anderen Menschen und dass sie eigentlich gar keine Großmutter sei.

»Sie ist eigentlich meine richtige Mutter«, sagte sie.

»Das verstehe ich gut. Jetzt lass uns nochmal zurück zu dem blinden Jungen gehen, der dir vorgesungen hat. Als er den Psalm gesungen hat, da hast du also gedacht, er hätte die gleichen Erfahrungen gemacht wie du?«

»Ja, fast. Aber ich wollte das nachprüfen. Und deshalb haben wir abgemacht, die gleichen Träume zu träumen. Es hat Spaß gemacht, das zu üben, und es war wahnsinnig toll, als es geklappt hat. Aber ich hätte es wissen müssen.«

Sie beschrieb, wie sie Anders‹ Engel erlebte, und sagte, dass er nicht in ihre Welt gehöre.

»Aber er war so schön, und ich habe gedacht, dass es vielleicht ganz viele Wirklichkeiten gibt. Glaubst du das auch?«

»Das glaube ich auf jeden Fall. Aber erzähle erst mal weiter.«

Sofia beschrieb genau alle Vorbereitungen, die sie für ihren Adventstraum getroffen hatten. Sie hatten ja nicht eingeplant, dass die Leute sie sehen würden, sagte sie.

»Aber danach habe ich es mit der Angst gekriegt. Habe ich irgendeine schreckliche Kraft in mir, die niemand verstehen kann?«

»Wenn sie schrecklich ist, dann liegt es nur daran, wie du sie anwendest.«

 

Judith Dorf holte Stifte und einen großen Zeichenblock.

»Ich zeichne ungefähr so gut, wie du singst«, sagte sie lächelnd. »Aber jetzt guck mal her.«

Mitten auf den Bogen zeichnete sie einen kleinen Menschen mit ziemlich großem Kopf. Das war Sofia oder irgendein anderes Kind.

»Wie du weißt, glauben die meisten Menschen, dass alles, was es gibt, im Körper zu finden ist«, erklärte sie. »Aber der Mensch hat eine Seele, die weit über seinen Körper hinausreicht. Das ist gar nicht so merkwürdig, Sofia. Du und ich, wir sitzen hier und denken beispielsweise an eine Stadt in Afrika, der Gedanke wandert blitzschnell aus unserem Körper, übers Meer und über alle Grenzen, und dann sind wir angekommen und können die Hütten, die Mamis und die Kinder sehen. Nicht wahr?«

»Und du willst sagen, das können alle?«

»Ja, mehr oder weniger gut.«

Die Ärztin zeichnete einen großen Kreis um den kleinen Körper.

»Aber diese Seele hat noch viel mehr sonderbare Fähigkeiten. Sie kann nämlich auch in der Zeit reisen. Denk jetzt mal an etwas, das dir vor langer Zeit passiert ist.«

Sofia erinnerte sich daran, wie sie nach Rotterdam geflogen und dann auf Hans‹ Schiff gewohnt hatte, sie nickte: Sie hatte verstanden.

»Und wir können auch an etwas denken, was in der Geschichte geschehen ist. Hast du mal von der Schlacht bei Lund gehört?«

»Nein. Geschichte hatte ich noch nicht. Aber ich weiß etwas, über das ich schon viel nachgedacht habe.«

Vor Eifer fast stotternd berichtete sie davon, wie sie den Bärenfellmann den Berg zum Schiffsgrab hatte hochkommen sehen, einmal im Frühling, als ihre Oma eingeschlafen war; wie er ihr erzählt hatte, dass es Tagundnachtgleiche sei und dass er viermal im Jahr komme, um neue Messungen zu machen.

»Zur Frühlings- und Herbst-Tagundnachtgleiche, zur Mittsommernacht und in der längsten Winternacht«, sagte Judith Dorf.

»Da staunst du«, stellte Sofia fest.

»Ja, das stimmt. Aber lass uns den Mann eine Weile verlassen und an etwas anderes denken. An den letzten Schultag vor den Ferien. Oder an deinen ersten Schultag.«

Sie ließ Sofia Zeit und wartete eine Weile, bis sie sagte:

»Wie dir jetzt klar geworden ist, können alle Menschen in der Zeit hin- und zurückwandern.«

Sie zeichnete einen noch größeren Kreis um die kleine Gestalt in der Mitte.

»Ich weiß ja, dass es das Gehirn ist, was denkt und sich erinnert. Hans sagt immer, wir stapeln unsere Erinnerungen in einem Lager im Gehirn.«

»Ja, viele sehen das so. Aber ich glaube nicht, dass das, was wir Seele oder Psyche nennen, sich in unserem Gehirn befindet. Sie wird nur von dort aus gelenkt. Das Gehirn ist ein Ordnungsapparat.«

»Jetzt sei mal still, damit ich nachdenken kann.«

Judith Dorf lachte, legte Papier und Stift hin und bot Sofia einen Bonbon an.

 

Nach einer Weile fuhr die Ärztin damit fort zu erzählen, dass die Psyche eines Teils der Menschen eine größere Reichweite hat als die anderer. Sie konnten sich an mehr erinnern als an das, was sie gesehen oder gelernt haben. Sofia gehörte zu ihnen.

»Wie der Bärenfellmann. Gibt es ihn denn wirklich?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass es ihn gegeben haben kann. Du hast nie von Stonehenge und den Priestern des Bronzezeitalters dort gehört?«

»Nee«, sagte Sofia bestimmt. »Ich lese nicht viel, und Oma ist nicht so für Märchen. Sie redet lieber über die Dinge, wie sie sind.«

Das Mädchen lachte und erzählte, wie Kerstin den Globus genommen und ihr gezeigt hatte, wie die Erde sich um die Sonne dreht.

»Ich habe das nicht kapiert«, erklärte sie. »Und außerdem war das so langweilig.«

 

Judith Dorf erzählte von den Menschen aus dem Bronzezeitalter, die in ganz Europa ihre sonderbaren Monumente hinterließen. Heutzutage glaubten viele, dass sie ihre gewaltigen Steinmonumente errichteten, um astronomische Untersuchungen vorzunehmen.

Sofia sah sie mit großen Augen an. Aber dann verschloss sich ihre Miene wieder.

»Dann kann ich etwas erinnern, das ich gar nicht erlebt habe und von dem ich gar nichts weiß?«

»Es gab einmal einen großen Wissenschaftler, der etwas Eigentümliches in der Psyche des Menschen entdeckt hat«, sagte Judith Dorf und beschrieb ausführlich, aber mit so einfachen Worten wie sie konnte, C. G. Jungs Entdeckung des kollektiven Unbewussten.

»Ganz im Inneren und gut verborgen in der Seele erinnern wir uns an alles, was unsere Vorfahren erlebt haben«, erklärte sie.

»Dann bin ich gar nicht so schrecklich merkwürdig?«

»Nein, ich denke, du bist ein ziemlich normales Kind.«

Judith Dorf ging an ihr Bücherregal und kam mit einem alten, abgegriffenen Buch zurück:

»Hör zu«, sagte sie. »So beschreibt ein Dichter, der Ekelöf heißt, das, worüber du so viel nachgedacht hast:

Eine Welt für sich ist jeder Mensch, bevölkert

von blinden Geschöpfen in dunklem Aufruhr

gegen das Ich, den König, der über sie herrscht.

In jeder Seele sind tausend Seelen gefangen,

in jeder Welt sind tausend Welten verborgen,

und diese blinden Welten, diese Unterwelten

sind wirklich und lebendig, wenngleich nicht ausgereift,

so wahr, wie auch ich wirklich bin.

Sie schlug das Buch mit einem Knall zu und schaute Sofia an, die schweigend und reglos dasaß. Schließlich fragte das Mädchen:

»Und wer ist der König, der über die tausend Seelen regiert?«

»Das ist das, was wir das Ich nennen. Das ich, Sofia, regiert mithilfe meiner Vernunft. Verstehst du das?«

»Ich denke schon.«

»Das ist gut. Und jetzt erzähl mir, warum du wolltest, dass Anders so ist wie du.«

»Aber das weißt du doch.«

»Sag es mit deinen Worten.«

»Das ist schwer«, seufzte Sofia, und plötzlich fing sie leise an zu weinen.

»Es ist so einsam«, sagte sie schließlich.

»Das verstehe ich.«

»Oma versteht auch ein bisschen, aber sie kann es nicht sehen. Und wie sehr sie sich auch anstrengt, sie hat einfach nur Angst. Sie ist so müde, weißt du. Und das liegt daran, dass sie solche Angst um mich hat. Hans ist ähnlich, obwohl ich glaube, er hat sogar noch mehr Angst. Deshalb war es so schön mit Jonas. Er hat nichts verstanden, aber er hat jedenfalls keine Angst gehabt.«

»Du hast doch auch eine Mama. Klara sieht weitgehend so wie du.«

Jetzt ging das stille Weinen in heftiges Schluchzen über.

»Klara mag mich nicht. Sie hat am meisten Angst von allen. Ich verstehe ja, warum sie so ist, denn sie hat mir erzählt, wie sie verrückt war und im Berg saß und von einem Monster aufgefressen wurde. Ich will nie, niemals verrückt werden, hörst du. Kerstin hat mir versprochen, dass sie mich nie ins Irrenhaus bringen wird, und sie ist jetzt meine Mama, denn sie und Hans adoptieren mich. Dann brauche ich Klara nie wieder zu treffen. Ich hasse sie.«

Sofia versuchte das Weinen hinunterzuschlucken; sie sah die Ärztin lange an und sagte dann:

»Bei ihr hab ich immer Angst vor mir selbst.«

»Ich verstehe.« Judith Dorf sah traurig aus, sie überlegte eine Weile, beschloss dann aber doch zu schweigen.

Etwas später durfte Sofia im Meer baden, während Judith Dorf Würstchen und Kartoffelpüree aus der Tüte zubereitete. Sie machte es mit einem Schaudern, begriff aber sofort, dass ihre Entscheidung richtig war, als das Mädchen sagte:

»Wie toll. Und nicht einmal irgendwelches ekliges Gemüse!«

Während sie aßen, erzählte Sofia von Agnes.

»Jonas‹ Mama, weißt du. Sie ist auch so eine, die viel sieht. Aber wenn sie redet, ist es immer so, als ob sie nur Spaß macht. Warum haben die Leute nur solche Angst?«

Die Ärztin meinte, die Menschen müssten auf die Wirklichkeit aufpassen, die sie gemeinsam hatten und deren sie sich sicher waren.

»Weißt du, im Laufe der Zeit hatten schon viele mit den Grenzbereichen der Wirklichkeit Kontakt, in gleicher Weise wie du. Aber das Schwierige ist, dass sie so Unterschiedliches erzählen, wenn sie zurückkommen. Nichts wird bestätigt, es gibt nichts, worüber man sich einig werden kann. Und es gehört wohl zu den Bedingungen unseres Lebens hier auf der Welt, dass wir uns nach und nach ein kleines Stückchen Wissen erobern, es beweisen und so langsam das gemeinsame Wissen vergrößern.«

»Und was sollen dann solche wie ich tun?«

»Du kannst deine Fähigkeiten für vieles nutzen. Jonas meint, du solltest Künstlerin werden. Ich glaube fast, du würdest eine sehr gute Ärztin werden, auf dem Gebiet, auf dem ich auch arbeite. Aber die Voraussetzung dazu ist, dass du die ganze Zeit aus der normalen Wirklichkeit lernst, teilnimmst an dem Wissen, das die Menschen durch die Jahrtausende gesammelt haben. Du musst arbeiten und fleißig in der Schule sein, du darfst nicht schummeln und keine Abkürzungen nehmen.«

»Aber ich will nicht wie Klara werden.«

»Nein, das ist mir schon klar. Aber Klara ist im Augenblick dabei, offener zu werden. Und weniger ängstlich. Hast du gehört, wie geschickt sie bei ihren Operationen ist?«

Sofia nickte, und Judith Dorf sagte, das liege daran, dass sie ihre sonderbaren Fähigkeiten dazu benutze, sich zu erinnern, wenn es notwendig sei.

»Und das kann sie dann, ohne Angst zu bekommen. Verstehst du mich, Sofia, wenn ich dir sage, dass die Kraft, die du hast, nie gefährlich werden kann, wenn du sie für etwas benutzt, was gut und nützlich ist und anderen hilft.«

»Aber ich wollte Anders doch auch helfen zu sehen.«

»Nein, jetzt lügst du. Du hast selbst gesagt, dass du wissen wolltest, ob er das Gleiche sieht wie du. Das war ein egoistischer Wunsch.«

»Vielleicht«, gab das Mädchen zu.

»All das, Dinge zu lernen, im Alltag tüchtig und pflichtbewusst zu sein, das ist wichtig, Sofia. Das stärkt das Ich, von dem wir vorher geredet haben.«

»Es geht darum, dem König mehr Macht zu geben«, sagte Sofia. Judith Dorf staunte, und plötzlich konnten sie beide lachen.

 

Eine Weile später sprachen sie über die Toten, ob sie weiterlebten in einer anderen Welt, und ob sie sichtbar werden könnten wie der Priester aus der Bronzezeit auf dem Berg. Die Ärztin erklärte, dass niemand wisse, was der Tod sei. Ob die Toten sich den Lebenden zeigen könnten, darüber wollte sie sich kein Urteil erlauben.

»Aber mein Papa, mein richtiger Papa, der mir das Malen beigebracht hat?«

»Ja, reden wir über ihn. Hast du viel darüber nachgedacht, wer er wohl war, bevor er in deinem Geheimzimmer auftauchte?«

»Manchmal. Aber nicht richtig.«

»Ich verstehe. Und dann hast du eines Tages das Bild eines Gemäldes von ihm gefunden.«

»Ja. Es lag unter Klaras Bett, und es hat mir gefallen. Deshalb habe ich es geklaut und das Bild in meinem Versteck verborgen.«

»Damals wusstest du also nicht, wer der Maler war. Und dann ist eine Zeit vergangen, bis du schließlich das Foto in der Zeitung gesehen hast. Du hast den Artikel über ihn gelesen, wer er war, wann er gelebt hat und so weiter. Was ist dann passiert, Sofia?«

»Ich habe mich so merkwürdig gefühlt. Und wenn es mir so geht, lege ich mich schlafen. Dann erfahre ich alles im Traum. Und da habe ich von dem Maler geträumt und gesehen, dass er den gleichen Mund hatte wie ich, dass er mir ähnlich sah, wenn er lachte.«

»Lass uns Schritt für Schritt vorgehen. Gab es in der Zeitung ein Bild von ihm, auf dem er lachte?«

»Ja«, bestätigte Sofia überrascht. »Jetzt erinnere ich mich daran, das war ein Gemälde, das er von sich selbst gemacht hatte. Und es war nicht nur das Lachen. Weißt du, er schielte genauso, wie ich es tue, wenn ich lüge.«

»Also. Ohne richtig darüber nachzudenken, hast du dann angefangen, ganz natürliche Beobachtungen zusammenzufügen. Und dann hat deine Phantasie dir einen Vater geschaffen, mit dem du reden konntest und der dir außerdem geholfen hat, dich nicht mehr so allein zu fühlen. Denn er verstand das mit der anderen Wirklichkeit.«

»Aber das tat er wirklich!«

»Ja, daran ist gar kein Zweifel – solange er lebte. Jetzt gehört er jedoch zu einer anderen Welt. Falls es die gibt. Es ist sehr, sehr wichtig, dass du das verstehst, Sofia.«

»Ich glaube dir nicht. Ich weiß, dass es die Toten gibt.«

»Ich sage ja nicht, dass du dich irrst, ich habe schon am Anfang gesagt, dass es viel gibt, was wir nicht verstehen. Aber eine Sache weiß ich ganz genau: Und zwar, dass es nicht so gedacht ist, dass die Toten und die Lebenden etwas miteinander zu tun haben sollen. Es ist gefährlich für uns, die wir leben, und vielleicht noch gefährlicher für die Toten.«

Sofia war blass, aber die strengen Vogelaugen ließen sie nicht frei.

Sie kennt verdammt viel, dachte das Kind, sie weiß, wovon sie spricht.

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Sofia schließlich.

»Nein, mein Kind. Ich möchte, dass du mir versprichst, alle Kontakte zu toten Menschen abzubrechen. Um deiner selbst willen. Und ihnen zuliebe.«

 

Lange, schweigsame Minuten strichen durch den Raum, das Kind kämpfte mit sich selbst. Schließlich sagte Sofia widerstrebend: »Ich will es versuchen.«

 

Eine Weile danach hörten sie Kerstin Horners Auto auf den Hof fahren. Zu ihrer Verblüffung merkte Judith Dorf, dass sie neugierig war auf die Frau, von der sie schon so viel gehört hatte. Als sie sich die Hand gaben, hatte sie das Gefühl, dass Kerstin sie an etwas erinnerte …

Es ist ihm unglaublich gut gelungen, ein verlorenes Leben wieder neu zu schaffen, dem Hans Horner, dachte sie. Laut sagte sie:

»Wir haben einen wunderschönen Tag miteinander verbracht, Sofia und ich. Möchten Sie Kaffee oder Tee?«

Sofia ging schwimmen, während die beiden Frauen den Tisch deckten. Was sie miteinander besprachen, blieb ein Geheimnis der beiden. Aber dass Kerstin froh war, fast glücklich, das konnte Sofia sehen, als sie vom Meer zurück kam und Saft und Zimtkuchen bekam.