Es war eine hübsche, kleine alte Kirche, von deren Dachgewölbe mehr Schiffe herunterhingen, als es Kruzifixe gab. Auch das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite, die Sonne goss Gold durch die alten Kirchenfenster.
Sofia hörte nicht zu, als Jonas und Klara versprachen, sich in guten wie in schlechten Tagen zu lieben. Sie saß neben Hans und Kerstin in der ersten Bank und dachte an den Seeräuber und seine Frau, die unten im Keller lagen. In Marmorsärgen, die sie dem dänischen König und der Königin gestohlen hatten! Agnes hatte ihr die Treppe gezeigt, die zu Lasse i Gatans Grabkammer hinunterführte.
»Ein richtiger Pirat, der geraubt und getötet hat und auf dem Meer sein Unwesen trieb«, hatte Agnes erzählt. »Er wurde der Pirat des Königs genannt und von diesem geadelt, weil er so ein Untier war.«
Sofia stockte vor Neugier der Atem.
Es seien eben noch andere Zeiten gewesen, damals, im siebzehnten Jahrhundert. Agnes klang, als wäre sie traurig, dass sie nicht hatte dabei sein können, erzählte aber, dass sie daheim ein Buch habe mit der ganzen Geschichte von Lasse i Gatan, der später Lars Gathenhielm genannt wurde.
»Wenn du mehr darüber wissen willst, kannst du es ja lesen«, sagte sie.
Noch eine weitere Hauptperson bei der Hochzeit hatte Schwierigkeiten, sich auf die Zeremonie zu konzentrieren. Hans Horner hatte den Kopf voll mit einer großen, wichtigen Frage: Wer war die Frau im Rollstuhl?
Immer wieder versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, was Karl Erik Holmgren dem Brautpaar sagte. Als ihm das nicht gelang, bemühte er sich , die Braut anzusehen. Wie schön sie war, seine Klara! Und er versuchte, in sich zu spüren, wie froh er über die Ehe war, und dachte, was für ein denkwürdiger Tag das doch sei.
Aber er musste aufgeben. Er konnte nur an eines denken: an die Dame im Rollstuhl. Sie war alt, gehörte jedoch zu den Glücklichen, mit denen die Jahre behutsam umgehen. Sie war noch schön, und hinter den Falten sah er ein Gesicht, das er kannte, sehr genau kannte. Und liebte. Wer? Dieser verdammte Nebel seiner nächtlichen Bilder war wieder da, undurchdringlich. Aber dieses Mal war es kein Traum, er würde zu ihr gehen, sie im Tageslicht sehen und ihr seine Frage stellen können. Nur welche Frage?
Er wusste es nicht, hoffte nur, dass diese verflucht langwierige Zeremonie bald überstanden sein würde.
Dann brauste der Schlussmarsch auf, und ihm war klar, dass er seine Rolle spielen musste, sich in die Prozession hinter dem Brautpaar einreihen, Agnes am Arm halten, kontrollieren, dass Sofia ordentlich ging und nicht hüpfte, wie sie es gern tat. Kerstin, er vermied es, Kerstin anzusehen, ihr wollte er seine Angst ersparen.
Endlich waren die Feierlichkeiten beendet, Reiskörner geworfen und die Leute auf dem Weg zu ihren Autos. Es gelang ihm, Agnes zuzuflüstern, dass er die Frau im Rollstuhl kennen lernen wollte, sie führte ihn zu ihr und sagte:
»Darf ich vorstellen: Kapitän Hans Horner, Doktor Renate Dorf.«
Er nahm die alte Hand in seine beiden und sagte auf Deutsch:
»Als wir beide jung waren, hießen Sie Irmelin Grede.«
»Ja, genau«, antwortete sie ebenso.
Agnes schaute verwundert von einem zur anderen, und Hans sagte:
»Agnes, bitte sorge dafür, dass wir allein reden können.«
»Dann fahr mit Doktor Dorf im Auto. Fahr als Letzter los und halte unterwegs an. Ich verlängere den Aperitif so lange es geht. Aber höchstens eine halbe Stunde, Hans, das musst du mir versprechen. Ich nehme Kerstin und Sofia zusammen mit dem Brautpaar in meinem Wagen mit.«
»Du bist wunderbar. Sag aber Kerstin nichts.«
»Ich werde es versuchen.«
Ein Wagen nach dem anderen entfernte sich, während Hans langsam den Rollstuhl der Ärztin zu seinem Auto schob. Er sprach weiter Deutsch, als wäre diese Sprache eine Sicherheitsleine zu ihr.
»Irmelin, wo sind Sie mein ganzes Leben über gewesen?«
»Hier in Göteborg. Wir haben uns viel zu erzählen.«
Er hob sie ins Auto, sie war schwerer, als er gedacht hatte. Sie zeigte ihm, wie man den Rollstuhl zusammenklappte, er packte ihn in den Kofferraum, setzte sich neben sie und sagte:
»Das wird schwierig, Irmelin. Ich habe keinerlei Erinnerung. Nur Schatten eines Schwarzweißfilms. Sie saßen im Büro meines Vaters und jetzt sitzen Sie hier lebendig neben mir.«
Die Hand, die den Zündschlüssel hielt, zitterte, und sie sagte:
»Warten wir noch einen Moment, lieber Hans. Und in der halben Stunde, die uns zugestanden wurde, werden wir auch nicht weit kommen. Aber ich war eine enge Freundin Ihrer Mutter und Ihrer Schwester. Ich weiß, was geschehen ist, und kann sicher Leben in Ihre Kindheitserinnerungen bringen.«
»Warum nennen Sie sich Renate Dorf?«
»Ich habe immer so geheißen. Fräulein Dorf wurde im Alter von zweiundzwanzig Jahren in Hamburg zu Irmelin Grede. Sie war eine der vielen Juden, denen Ihre Mutter eine neue Identität und neue Papiere gab.«
»Dann ist es also wahr.«
»Wie sonderbar, dass Sie das nicht wissen. Ihre Mutter war fast eine Legende, Sofia von Bredenau hat jahrelang die Gestapo hinters Licht geführt. Sie arbeitete mit der berühmten Gräfin Maria von Maltzan und der schwedischen Kirche in Berlin zusammen. Deren Arbeit ist gut dokumentiert, ihre Namen sind in Forschungsberichten und Dokumentarbüchern über den Krieg zu finden.«
Renate Dorf war aufgewühlt, aber Hans merkte es nicht.
»Dann ist es also wahr«, wiederholte er. »Ich habe manchmal gedacht, ich hätte mir das nur ausgedacht, um mich zu verteidigen. Sie wissen ja, wie das ist: Ach so, du bist Deutscher, du Satan.«
Renate streichelte seine Hand, er roch den Duft ihres Parfums und sah ihr direkt in die blauen Augen. Die Erinnerungen überkamen ihn, das blonde Mädchen mit den weichen Armen, ihr Zimmer am Ende des Büros, der Duft, der gleiche Duft wie jetzt. Er fragt: Wo ist Mama? Ihre Antwort: Mama ist nach Berlin gefahren, sie kommt bald zurück.
»Begreifen Sie, wie man sein Gedächtnis verlieren kann?«
»Ja. Ihre Mutter hat mit Ihnen geübt, nichts zu erinnern: ›Mein Junge, du hast das alles nur geträumt.‹«
Renate ahmte die Stimme seiner Mutter so gut nach, dass Hans sie für einen Augenblick vor sich sehen konnte.
Dann brüllte er fast:
»Wieso übt man mit einem Kind, sich nicht zu erinnern? Das ist doch nicht zu fassen, das ist ja, als würde man das Kind bestehlen.«
»Ja, es stimmt, das ist tragisch. Aber Sie vergessen, dass die Gestapo nicht davor zurückschreckte, auch kleine Kinder zu verhören. Unter Folter.«
»Mein Gott! Ich habe den Leuten, die sie auf dem Dachboden versteckt hat, nachts Essen gebracht, und am nächsten Morgen hat sie gesagt, ich hätte das alles nur geträumt.«
»Unsere halbe Stunde ist um, Käptn Horner. Morgen lade ich Sie herzlich zu uns ein. Meine Schwester und ich haben das schon lange geplant und den ganzen Tag für Sie freigehalten.«
Er drehte den Zündschlüssel um und legte den ersten Gang ein, als sie fragte: »Glauben Sie an Gott?«
»Nicht in irgendeiner formalen Art. Aber ich glaube, dass es eine regelnde Kraft auf der Welt gibt.«
»Gut. Dann müssen Sie einsehen, dass es diese Kraft war, die Ihre Tochter zu meiner Schwester gebracht hat.«
Sie fuhren vom Kirchhof hinunter. Als sie sich dem lärmenden Hochzeitshaus näherten, sagte sie: »Ihre Mutter ging als Dame von Welt, die sie war, zu den Festen der Naziherren. Sie war äußert galant zu den bezaubernden Cousins, wie sie sie nannte, und oft kam sie mit wertvollen Informationen nach Hause.«
»Warum hat sie sie Cousins genannt?«
»Einige waren es wohl. Andere waren Jugendfreunde. Der deutsche Adel war in den Spitzen der Nazipartei gut vertreten. Ich wollte damit nur sagen, dass Sie in Ihrem ganzen Wesen Ihrer Mutter sehr ähnlich sind. Weshalb Sie sicher ein sehr charmanter Wirt bei dem Hochzeitsfest heute Abend sein werden.«
Er lachte laut auf. Als er sie aus dem Wagen hob, drückte er sie lange und fest an sich, bevor er sie in den Rollstuhl setzte, wobei sie sagte:
»Glauben Sie mir.«
Und er schaffte es. Er hielt sogar eine Rede auf das Brautpaar, eine warme, spritzige Rede, die viel Applaus bekam.
Aber er vermied es, Kerstin anzusehen. Ein einziges Mal traf sein Blick den von Sofia, und er sah, dass ihre Augen voller Fragen waren. Aber er machte ihr ein heimliches V-Zeichen, sie nickte und wandte sich Anders zu, der neben ihr saß.
Als Jonas mit Klara den Tanz eröffnete, forderte Hans Agnes auf. Sie stellte keine Fragen, aber als er sich für den Tanz bedankte, flüsterte sie:
»Du solltest mal mit Kerstin reden.«
Hans tanzte mit Kerstin, wagte es aber nicht, ihren Blick zu erwidern. Langsam führte er sie zur Verandatür, hinaus in den Sommerabend. Sie konnte nur langsam gehen, weil ihr Kleid zu eng war, also trug er sie zum Kieferngehölz hinter den Sanddünen. Und erzählte, schnell, verzweifelt und unzusammenhängend.
Ihre Augen waren weit aufgerissen vor Verwunderung, aber als sie endlich Worte fand, flüsterte sie:
»Das ist doch phantastisch, Hans. So erfährst du endlich die Wahrheit und wirst deine schrecklichen Albträume los.«
»Du hast wahrscheinlich Recht«, erwiderte er. »Aber im Augenblick ist es einfach nur entsetzlich, Kerstin.«
Er küsste sie, fest und lange, und flüsterte:
»Wir müssen zurückgehen.«
Sie kehrten zur Hochzeitsgesellschaft zurück, und Kerstin ging ins Bad, um ihr schnell pochendes Herz zu beruhigen und den Lippenstift neu aufzutragen. Sie betrachtete lange ihr Spiegelbild, ohne es wirklich zu sehen, und dachte an Judith Dorfs Abschiedsworte: »Alle Familien haben ihre Mythen. Sie wissen, man wiederholt verborgene Muster aus seiner eigenen Kindheit, und das geschieht immer unbewusst.«
Hans‹ Mutter übte mit ihm zu vergessen, hatte er gesagt. Sie hatte Hexenkräfte, behauptete die Tante aus Skåne. Kerstin verspürte mit einem Mal einen wilden Hass auf die Tote.
Sie holte ein paar Mal tief Luft, und das Herz fand seinen normalen Takt wieder. Als sie mit einem kleinen Knall ihre Handtasche zuschlug, dachte sie an Hans‹ sonderbare Kraft. Trotz allem. Das war sicher auch ein Erbteil seiner mutigen Mutter.
Vor der Badezimmertür wartete Klara.
»Was ist denn mit Papa los?«
»Er hat Renate Dorf wieder erkannt.«
»Das ist mir klar. Wie geht es ihm?«
»Du hast es gewusst?«
»Ja. Die Ärztin hat es Jonas und mir erzählt. Es war geplant, dass sie sich nach der Hochzeit in aller Ruhe unterhalten sollten. Niemand hatte damit gerechnet, dass er Renate wieder erkennen würde.«
Sie sahen einander lange an. Schließlich sagte Kerstin zu ihr das Gleiche, was sie zu Hans gesagt hatte – dass es doch letztendlich nur gut sei. Zu wissen.
Als Kerstin zum Tanz zurückkehrte, sah sie Jonas und Hans im Gespräch auf der Terrasse und dachte dankbar, dass sie so viele Personen waren, die einander nahe standen und helfen konnten. Ihr Blick suchte nach dem Rollstuhl mit Renate, konnte ihn aber nicht finden. Agnes tanzte mit Per, der betrunken, fröhlich und verrückt war und laut vor Begeisterung aufschrie, als er Kerstin sah:
»Hier kommt die Königin des Balls. Komm, Göttin, ich werde dir den goldenen Putz abtanzen!«
»Das glaube ich ja nicht«, entgegnete Kerstin, und Agnes lotste aufstöhnend den munteren Maler zu einem Tisch, an dem er unbeschwert noch mehr Wein in sich hineinschüttete.
»Jetzt schläft er bald ein«, flüsterte sie.
»Agnes, weißt du, wo Renate Dorf ist?«
»Ja, sie sitzt auf dem Steg und redet mit Sofia.«
Sofia hatte eine alte Decke aus dem Boot geholt und sie um Renate gewickelt. Die beiden saßen stumm nebeneinander, und als Kerstin kam, lachten sie ihr beide entgegen:
»Mir ist klar, dass ihr euch Sorgen macht«, sagte Renate.
»Ich versuche mir zu sagen, dass es das Beste ist, was ihm überhaupt zustoßen konnte. Er wird von seiner verschwundenen Kindheit so gequält.«
»Das habe ich zu Sofia auch gerade gesagt. Was kann ich für Sie tun, Frau Horner?«
»Hans ist außer sich, weil Sie ihm gesagt haben, dass seine Mutter mit ihm das Vergessen trainiert hat. Und ich denke, er hat Recht. Ich vermute, es wird morgen für Sie alle drei nicht einfach werden. Ich verstehe ja, dass Sie seine Mutter bewundern, aber er …«
Renate unterbrach sie: »Bewundern ist nicht das richtige Wort«, sagte sie. »Sie hat uns das Leben gerettet und das vieler, vieler anderer. Aber uns ist klar, dass Hans einen weiten Weg zu gehen hat, bis er das verstehen und akzeptieren kann.«
Eine Weile später kam das Brautpaar auf den Anleger, sie hatten sich umgezogen und wurden von singenden Freunden begleitet. Reiskörner stoben um das alte Segelboot, als Jonas und Klara an Bord gingen, die Segel hissten und zum Horizont hin verschwanden.
Kurz darauf kam das Taxi, das Renate nach Hause bringen sollte, und Kerstin hörte sie sagen:
»Willkommen bei uns morgen um zwölf, Kapitän Horner.«