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Hans saß in einem steifen Biedermeiersessel und schaute Judith Dorf an. Ein Vogelmensch, wie Klara gesagt hatte. Er hatte nichts zu Mittag essen wollen, weshalb Judith nur ein paar Brote geschmiert hatte und dazu Bier servierte. Sie sagte:

»Ich habe Ihre Mutter nicht gekannt. Ich habe sie nur ein einziges Mal getroffen. Sie führte uns, eine Gruppe verschreckter jüdischer Kinder, durch die Wälder nördlich von Berlin und brachte uns zu einem schwedischen Zug. Für uns war das ein Wunder. Erst als Renate hierher kam, erfuhr ich, dass sie mit der schwedischen Kirche in Berlin zusammenarbeitete.«

Er hörte ihr konzentriert zu, konnte sich aber von dem Gefühl der Unwirklichkeit nicht befreien. Später wurde ihm klar, dass Judith Dorf seine Schwierigkeiten gesehen hatte, denn sie fuhr sehr entschlossen fort:

»Deshalb soll Renate Ihnen alles erzählen. Aber ich bestehe darauf, dass Sie zunächst anfangen. Ich möchte hören, welche Gedanken und Fragen Sie zu Ihrer Kindheit haben.«

Das war eine Erleichterung. Hans beschrieb seine wenigen Erinnerungen, die Bombenteppiche über Hamburg an dem Abend, als er durch die Stadt nach Hause lief, den Schutzraum, in den ihn irgendjemand gezogen hatte, wie er in Panik geriet und zusammen mit einem Mann, den er wiedererkannt hatte und der zweifellos ein Jude war, hinausrannte. Direkt vor den Augen des Jungen starb der Mann:

»Es gab einen Knall, und er wurde in Stücke zerrissen. Ich nehme an, dass von diesem Augenblick an mein Kopf leer war.«

Er erzählte weiter, wie er nach Hause gekommen war. Das Hafenviertel war schwer getroffen, aber das Erdgeschoss mit dem Büro stand noch. Und Teile des ersten Stocks, wo sie gewohnt hatten.

»Auf der Straße lagen Papa und eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Tot. Ich lief in die Wohnung hinauf, sie war leer. Ich erinnere mich, dass ich eine Frage hatte. Verdammt!«

Er schrie. Judith Dorf sagte:

»Ja?«

»Entschuldigung. Seit einem halben Jahr grüble ich nun über eine Frage aus meinen nächtlichen Träumen. Aber jeden Morgen habe ich sie wieder vergessen. Und jetzt weiß ich sie endlich: Warum waren Mama und Klara nicht im Luftschutzkeller?«

»Das können wir Ihnen erzählen. Aber reden Sie erst weiter.«

Er erzählte von seinen Visionen vom Steinschloss, den mystischen Frauen, die flüsterten, dem Gefühl, dass alles vorbei war, den widerhallenden Stiefeltritten auf den langen Treppen und den Onkeln in schwarzen Uniformen.

»Ich weiß, dass ich Mama an der Hand halte. Aber sie ist so groß, sie verschwindet hoch über mir, und ihre Augen schauen weit in die Ferne, über den Park hinaus. Im Traum kann ich ihre Einsamkeit spüren, ich will sie trösten, kann sie aber nicht erreichen.«

»Sie hat oft ihr Elternhaus besucht, um um Hilfe zu bitten«, erklärte nun Renate. »Aber ihre Familie war stolz auf ihre Herkunft und antisemitisch. Die Männer waren alle Offiziere. Nur ihr jüngster Bruder wusste, was sie trieb, und half ihr. Er hatte einen einflussreichen Posten bei Albert Speer in Berlin, wo er Informationen bekommen konnte, die nützlich für sie waren.«

Renate erzählte weiter von Sofia, der ältesten Tochter des Grafen Joachim von Bredenau, der im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren, aber den Generalstitel errungen hatte. Er war es, der den Mythos über die geheimnisvollen Fähigkeiten der Familie am Leben hielt, in jeder Generation werde eine Frau mit dieser Gabe geboren, behauptete er. Schon bei Sofias Geburt war er sich bereits sicher: Sie war die Auserwählte. Er erzog sie, lehrte sie reiten und jagen. Und er brachte ihr eine Fertigkeit bei, die ihr von großem Nutzen sein würde: Sie wurde eine gute Pistolenschützin.«

Das ist doch alles nicht wahr, dachte Hans und spürte wieder diese Unwirklichkeit, wie einen undurchdringlichen Schleier. Aber Renate merkte das nicht:

»Ende der Zwanzigerjahre wurde sie in die Berliner Gesellschaft eingeführt. Dort traf sie Maria von Maltzan. Die beiden wurden bald enge Freundinnen, beide waren voller Lebenslust, was die Leute sehr anziehend fanden. Sofia studierte Medizin an der selben Universität, an der Maria von Maltzan Veterinärmedizin studierte. Sofia hatte sich nie für Politik interessiert und große Probleme, Marias Geschichten über die Nazipartei zu glauben.

Dann machte sie ihr Examen und begann in einem Krankenhaus in einer armen Gegend zu praktizieren, wo viele Juden wohn-

ten.

Ich habe mir oft überlegt, dass es wohl dort geschah«, fuhr Renate fort. »Hier konnte sie mit eigenen Augen das sehen, wovon die Leute nur flüsterten wie über etwas, was man kaum für möglich hielt.«

Renate machte eine lange Pause, bevor sie sagte, nunmehr zeigte es sich, dass das schüchterne Oberklassemädchen ungewöhnliche Eigenschaften hatte. Einen flammenden Gerechtigkeitssinn. Und einen Mut, der leichtsinnig gewesen wäre, wenn sie dabei nicht so schlau vorangegangen wäre, so kombinationsreich und so selbstsicher:

»Außerdem besaß sie ja die Fähigkeit, um die Ecken zu gucken. Genau wie der alte Graf gesagt hatte.

Bald operierte die junge Ärztin auch Juden. Des Nachts in einem Kellerraum, den sie in der Nähe ihrer Wohnung eingerichtet hatte. Als Goebbels‹ Befehl kam, dass Berlin judenfrei werden sollte, half sie vielen Menschen mit falschen Papieren.

Sie bekam Kontakt mit einem jungen Deutschen, der einer der besten Fälscher der Welt gewesen sein muss. An ihn müssen Sie sich noch erinnern, er war als Büroleiter im Betrieb Ihres Vaters angestellt.«

»Ja. Er war es, der mich gerettet hat, der mir was zu essen gab und mich versteckt hat. Und mich schließlich an Bord eines dänischen Schiffes schmuggelte. Ich habe oft an ihn gedacht, konnte mir aber kein Bild machen und kam nie auf seinen Namen.«

»Er heißt Hans Keller und leitet heute noch die Hornersche Schiffsmaklerei in Hamburg.«

Eine Welle von Erinnerungen durchströmte Hans‹ Gehirn, klare Bilder eines langen Deutschen, tollpatschig wie ein Hundewelpe, wenn er mit dem Jungen spielte. Und ein anderes Bild, blond, Stupsnase, hellblaue, fröhliche Augen, warme Hände, ein großer Schoß für ein kleines Kind in einer unbegreiflichen, Furcht einflößenden Welt.

Renate wollte fortfahren, aber Hans unterbrach sie mit einer Handbewegung.

»Er hat Märchen erzählt, lange, schöne Märchen. Er saß an seinem Tisch und beschäftigte sich mit seinen Papieren, und ich saß auf Ihren Knien, Renate, und er hat von dem Jungen erzählt, der den Riesen überlistete, und von dem Dummkopf, der immer die Prinzessin bekam.«

Dann verdunkelten sich Horners Augen.

»Und es war auch gefährlich. Denn einmal schlug jemand draußen im großen Büro eine Scheibe ein, und Keller wischte alle Papiere von seinem Tisch und versteckte sie in einem Geheimfach im Boden. Sie haben mir zugeflüstert, in einer Ecke still sitzen zu bleiben und zu spielen, und dann haben Sie etwas auf einen Block geschrieben, merkwürdige Dinge, die Keller Ihnen sagte. Dann … nein, weiter erinnere ich mich nicht mehr.«

»Dann kam die Gestapo«, sagte Renate. »Das passierte ein paar Mal, wir wussten, dass wir unter Verdacht standen, aber das Geheimfach mit den falschen Papieren und den vielen Stempeln, mit denen Keller des Nachts arbeitete, fanden sie nie.«

»Und wo war meine Mutter, als das passierte? War sie draußen und erschoss mit ihrer Pistole deutsche Soldaten?«

 

Die Stille im Zimmer war jetzt eiskalt. Judith Dorf brach sie, indem sie sagte:

»Bevor wir weitermachen, Kapitän Horner, möchte ich Sie auf etwas aufmerksam machen. Sie sitzen zwei Frauen gegenüber, die mit Sicherheit in Auschwitz vergast worden wären, wenn Ihre Mutter nicht gehandelt hätte, wie sie es getan hat. Und wir sind nur zwei von vielen.«

Er schämte sich, konnte seine Wut jedoch nicht beherrschen.

»Entschuldigung. Aber es ist doch nur menschlich, wenn man darüber traurig ist, dass eine Mutter keine Zeit für ihr Kind hat, dass sie mich anlog und mir etwas vormachte und meinen Vater einen feigen, jämmerlichen Wurm nannte.«

»Ihren Vater lassen wir erst mal außen vor. Aber der achtjährige Hans hatte starke nazistische Sympathien.«

»Ein Kind kann kein Nazi sein.«

Er schrie die Worte, doch Renate wich keinen Fingerbreit zurück.

»Sie gingen in die Schule. Sie hatten einen Lehrer, den Sie bewunderten. Er war Nazi, hatte die göttliche arische Reinheit und Deutschlands Ehre im Gehirn. Heim kamen Sie oft mit Wangen, die vor Heldentum glühten. Dann saßen Sie in der Küche und haben das Horst-Wessel-Lied gesungen. Keiner von uns wagte ein Wort zu sagen, Sofia lief in ihr Zimmer und weinte, und Ihr Vater zitterte vor Wut.«

Langsam traten neue Bilder in Hans‹ Gehirn, er erinnerte sich an die Szene, an das Lied:

»Die Fahne hoch

die Reihen fest geschlossen

sa marschiert mit ruhig festem Schritt …«

 

»Mein Gott«, sagte er schließlich. »Mein Gott!«

Er stand auf und ging wie ein eingesperrtes Tier im Zimmer herum. Aber Judith Dorf griff ein: »Setzen Sie sich wieder Hans, ich hole Ihnen noch ein Bier. Bevor Sie sich selbst anklagen, sollten Sie sich darauf besinnen, dass alle kleinen Jungs Heldenverehrer sind und leichte Opfer für wahnsinnige Demagogen.«

Das half ihm, er holte tief Luft, dachte an seinen toten Sohn.

»Jan schwärmte für schwedische Eishockeyhelden.«

Renate schaute fragend drein, aber Judith lachte:

»Ich habe doch gesagt, dass alle kleinen Jungs diese Periode durchlaufen. Und eines der Probleme dieser Welt besteht darin, dass viele Jungs dabei bleiben.«

Er bekam sein Bier und nickte ihr dankbar zu:

»Das habe ich mir auch schon gedacht. Aber mir ist nie die Idee gekommen, dass es auch mich selbst betreffen könnte.«

Neue Bilder gingen ihm durch den Kopf: »Ich erinnere mich«, flüsterte er, »ich erinnere mich an die Bombennacht, an den ersten unerwarteten großen Angriff, als Hamburg fast dem Erdboden gleichgemacht wurde. Mutter verließ den Luftschutzkeller zusammen mit Keller, ich schlich mich hinterher und hörte, wie sie im Garten hinterm Haus standen und laut dafür beteten, dass Gott die englischen Piloten vor unseren Luftabwehrraketen beschützen sollte. Ich erinnere mich, dass ich sie hasste, und nachts, als wir uns endlich trauten, uns schlafen zu legen, da habe ich es ihr gesagt. Sie hat geantwortet, ich hätte das missverstanden. Ihr Gebet hätte allen gegolten, die in dieser Nacht ihr Leben riskierten. Sie hat mich angelogen, immer und immer wieder!«

»Was hätten Sie an ihrer Stelle gemacht?«

Es dauerte lange, bis er eine Antwort fand:

»Sicher das Gleiche.«

 

Er hatte fürchterliche Kopfschmerzen, bat um eine Tablette und bekam Aspirin mit Koffein.

»Sie müssen mir von meinem Vater erzählen. Meine Tante in Skåne kann sich heute noch keinen Reim darauf machen, warum das schöne adlige Mädchen sich mit ihrem unbedeutenden Bruder verheiratete.«

Zum ersten Mal zögerte Renate, aber Hans sagte: »Reden Sie nur weiter, ich schaffe es jetzt.«

»Sofia verliebte sich in einen verheirateten Mann. Sie war jung, fast ein Kind noch. Er war ein bekannter jüdischer Intellektueller, und sie gehörte zu jenen Frauen, die sich nur einmal in ihrem Leben wirklich verlieben.

Als sie schwanger war, fuhr sie zu ihrem Vater. Er akzeptierte die Situation, ich glaube, sie sagte, der Mann wäre tot.«

»Und nicht, dass er Jude war.«

»Das weiß ich nicht. Das gräfliche Geschlecht hatte entfernte Verwandtschaft in Hamburg, eine Familie Horner. Von Bredenau hatte ihnen bei mehreren Gelegenheiten finanziell geholfen. Jetzt kaufte er sich einen Schwiegersohn mit einer Summe, die groß genug war, damit die Maklerfirma überleben konnte. Das Kind wurde im Bredenauer Schloss geboren, und die kleine Klara wurde bald der Augenstern des Alten. Sie sah übrigens der Familie ungemein ähnlich, abgesehen von einer fein gebogenen, kleinen Nase.

Klara Horner blieb das erste Jahr bei den Bredenaus, mit einem englischen Kindermädchen, das die Kleine genau so innig liebte wie der Graf. Sofia, verheiratete Horner, benutzte ihren neuen Namen während ihrer Studienjahre in Berlin jedoch nicht. Als es für Juden immer gefährlicher wurde, machte sie sich Sorgen um das Kind, holte es zu sich und ließ sich als Frau Horner in Hamburg nieder. Maria von Maltzan fand das wunderbar, die geheime jüdische Befreiungsbewegung bekam damit einen Außenposten im Norden. Wie Sie verstehen werden, konnte das gar keine glückliche Ehe werden.«

Hans Horner versuchte, seine Gedanken zurückzuhalten, doch es gelang ihm nicht:

»Also war Klara ein Kind von dem Mann, den sie liebte. Während ich …«

Die Schlussfolgerung blieb in der Luft hängen. Renate war müde, er sah es und sagte:

»Lassen wir das. Erzählen Sie mir noch, wie sie starben, Mutter und Klara.«

»Ich war nicht dabei. Als Ihre Mutter merkte, dass ihr der Boden unter den Füßen brannte, schickte sie mich mit einem der heimlichen Transporte nach Schweden. Klara sollte mitkommen, so hatte Sofia von Bredenau es beschlossen. Aber das Mädchen weigerte sich.

Ich erinnere mich an die Nacht vor der Abreise, wie die Mutter weinte und das Mädchen anflehte. Aber das Kind ließ sich nicht überreden, es wollte das Schicksal seiner Mutter teilen. Wie Hans Keller erzählte, teilte Ihre Mutter ihm ein paar Wochen später mit, dass die Gestapo am Nachmittag zuschlagen würde. Sie befahl ihm, alles zu verbrennen, was sie verraten könnte. Sie zeigte ihm die Selbstmordpillen, die sie sich beschafft hatte, und die sie und Klara vor der Folter retten sollten. Zum Schluss beschwor sie ihn, den Jungen zu retten.

Keller versprach es. Nachdem er seine Papiere verbrannt und seine Stempel ins Hafenbecken geworfen hatte, ging er los, den Jungen zu suchen.«

»Daran erinnere ich mich! Er traf mich auf dem Heimweg von der Schule und sagte, wir sollten zur Bibliothek gehen. Aber die war zerbombt, deshalb schlüpften wir zwischen die Ruinen, die immer noch rauchten. Er gab mir einen Briefumschlag und sagte, ich solle zur Küste gehen, zu einer Stadt, wie hieß sie noch … nein, ich erinnere mich nicht mehr daran. Dort sollte ich den Umschlag seinem Bruder geben. Das sei sehr wichtig, sagte er.

Ich ging los. Aber ich habe mich verlaufen. Die Bomber kamen an diesem Abend ungewöhnlich früh. Und was dann passierte, habe ich ja schon erzählt.«

 

Der Rest des Abends in der Wohnung der Schwestern Dorf verschmolz für ihn. Er konnte sich daran erinnern, dass er etwas zu essen bekam, aber nicht, was. Und dass er Kerstin anrief und ihr sagte, er würde mit dem Taxi zur Landzunge vor Lerkil fahren.

»Ich werde dort am Meer entlanggehen. Kannst du mich da treffen?«

 

Hans Horner wanderte am Strand entlang, das Kattegatt spülte ihm lange Wellen über die Füße. Es war eine warme Nacht.

Er blieb stehen, zog sich die Schuhe aus, krempelte die Hosenbeine auf und hängte sich die Jacke über die Schultern. Er dachte daran, dass er endlich eine Kindheit bekommen hatte, dass er fünfzig Jahre alt war und arbeitslos, dass er vielleicht hier bleiben würde, hier am Meer, und Agnes‹ Haus renovieren. Dachte an Klara, an die tote und die lebende. An Sofia und den alten Grafen, der stolz war und dankbar für die geheimen Fähigkeiten seiner Tochter.

Er versuchte an seine Mutter zu denken, aber das gelang ihm nicht. Die beiden Schwestern hatten ihm kein lebendiges Bild von ihr geben können. Vielleicht lag das an ihm, er hatte eine Scheu vor Sofia von Bredenau, wie er immer das Großartige und Grandiose gescheut hatte. Das Deutsche.

Dann sah er sie, Kerstin, als Silhouette gegen das Meer, weit entfernt. Seine Wirklichkeit.

Als sie aufeinander trafen, hatte er nicht viele Worte, er erklärte nur:

»Ich muss erst mal schlafen. Kannst du morgen früh Landvetter anrufen und zwei Flugtickets nach Hamburg bestellen?«