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Kerstin hielt am Briefkasten an und zog die Zeitungen heraus. Nicht, dass Sofia sie normalerweise las, aber bei ihr konnte man nie wissen.

An der Haltebucht vor der Hauptstraße fuhr sie auf die Bushaltestelle und überflog die Titelseiten. Die Uppsala Nya brachte nichts über das Wunder in der Östmora-Kirche, das war gut.

Die Lokalzeitung begnügte sich mit einem Zweispalter ganz unten auf der ersten Seite: »Wunder« in Östmora.

Kerstin fluchte mit zusammengekniffenen Lippen, tröstete sich aber mit den Anführungszeichen um Wunder. Auch der Text war in scherzhaftem Ton gehalten: Keine Spur im Gewölbe, dass das Kirchendach angehoben worden war, die beiden fliegenden Kinder nachweislich krank und so weiter. Kein Name außer dem der Brüder Björkman, die versicherten, dass die ganze Gemeinde das Ereignis gesehen habe. Der Pfarrer hatte sich geweigert, etwas zu sagen, der Kantor auch. Zum Schluss tischte der Reporter eine Diagnose auf: kollektive Halluzination.

Gut. Jetzt hatten die Bewohner von Östmora einen Namen für das Kind.

 

Wie die meisten anderen alten Siedlungen an der Küste war auch Östmora in den 60ern in die Höhe und Breite geschossen. Aus dem Konsum war der Domus-Supermarkt geworden, dreigeschossige Wohnblöcke zerschnitten die Hauptstraße, die neuen Mitbürger bauten ein Kino, eine Diskothek und wimmelten in den Geschäften mit ihren Plastiktüten herum.

Schlechte Sitten.

Anfangs hatten die neu Hinzugezogenen es schwer, unverstellt, wie sie waren. Aber während die Jahre vergingen und sie immer zahlreicher und sicherer wurden, lernten sie, die alten, unfreundlichen Ureinwohner zu ignorieren. Inzwischen hatten sie die deutliche Majorität und schauten auf die Urbevölkerung wie auf eine Sammlung von Originalen herab. Aber dennoch gab es in beiden Gruppen die unumstrittene Ansicht: Es war feiner, hier geboren zu sein, und am allerfeinsten war es, seit Generationen hier ansässig zu sein.

Deshalb war Kerstin fein, als Tochter des alten Lotsen. Und gleichzeitig war sie eine Art Dorfunikum, wie sie selbst es in einer Anwandlung von Galgenhumor nannte.

Sie freute sich über die Zuwanderung, denn sie hatte es während ihrer Jugend schwer gehabt. Die Leute waren engstirnig und jeder beobachtete jeden.

Plötzlich fiel ihr ihre Liebesaffäre mit dem Arzt ein, die versteckten Blicke und die tratschenden Mäuler in der ganzen Stadt. Sie schmunzelte ein wenig, während sie im Auto saß und daran dachte, wie oft sie überlegt hatte, ob sie nicht wegziehen sollte.

In die Großstadt.

Aber da war die Sache mit Hans, dem Mann, der Östmora liebte. Und er bekam seinen Willen, sie kauften eines der alten Häuser am Rande der Siedlung, und dort war sie mit Kind und jetzt sogar mit Enkelkind sitzen geblieben.

Östmora liebt man am besten aus der Ferne, dachte Kerstin. Und Hans befand sich fast immer in der Ferne.

Heute Abend werde ich ihn anrufen. Aber was in Herrgottsnamen soll ich sagen – »Tja, wir haben hier Probleme, weil Sofia in ein Wunder verwickelt ist.«

Nein, so etwas sagte man nicht über Sprechfunk, der in jeder Kabine des Schiffs abgehört werden konnte. Ganz zu schweigen von all den Leuten, die hier Göteborg Radio heimlich mithörten.

Klara müsste ich auch anrufen, dachte sie. Aber wie üblich bei dem Gedanken fühlte sie sich schwerfällig und handlungsunfähig.

In der Schule summte es wie in einem Bienenstock. Im Lehrerzimmer stellte sie zufrieden fest, dass keiner aus dem Kollegium in der Kirche gewesen war, zum Glück waren die Lehrer heutzutage nicht mehr so gläubig.

Aber dennoch war das Ganze sonderbar, darüber war man sich einig. Und als die Sozialarbeiterin, Kajsa Hagvall, kam, die bekannt war für ihre Bodenständigkeit und praktische Veranlagung, wurde es still.

Sie war Kirchengängerin.

»Ob sie …«

»Ja«, sagte sie, und alle stellten fest, dass sie ungewöhnlich blass war. »Doch«, sagte sie, »ich habe es gesehen. Ihr könnt ja den Arzt fragen, er war auch da.«

»Die ganze Geschichte hier ist äußerst unangenehm«, sagte der Rektor. »Ich gehe davon aus, dass du nicht darüber redest.«

Kajsa öffnete den Mund, aber sie erfuhren nie, was sie sagen wollte, weil es in dem Moment zur ersten Stunde klingelte.

Kerstin hatte an diesem Morgen in ihrer eigenen Klasse Schwedisch, das gab ihr ein gutes Gefühl, weil sie die Kinder so gut kannte, all die Vierzehnjährigen in der Achten. Sie waren offen und wissbegierig, sie würden ihr erzählen, was im Ort so geredet wurde.

Es wurde abrupt still, als sie hereinkam, »Hallo« sagte und ihren Blicken begegnete, die vor Neugier leuchteten.

Sie hatten Satzlehre.

»Ich möchte nur eine Sache im Hinblick auf die merkwürdigen Gerüchte sagen«, verkündete sie. »Meine Enkeltochter hat nichts damit zu tun, sie lag mit hohem Fieber im Bett.«

»Woher wissen Sie, dass sie sich nicht rausgeschlichen hat?«, fragte Peter und leckte sich die Lippen. »Ich kenne Sofia, bei ihr kann man nie sicher sein.«

Sie lachten, leicht geniert und lange genug, um Kerstin Zeit zum Überlegen zu geben.

»Ich habe den ganzen Sonntagvormittag oben im Flur gesessen und Schreibhefte korrigiert«, erklärte Kerstin und dachte, dass das eine gute Lüge sei, an der wollte sie festhalten.

»Die Tür zu ihrem Zimmer war offen und ich hatte sie die ganze Zeit im Auge«, fuhr sie ruhig fort.

»Warum das denn?«

Das war wieder Peter, und Kerstin antwortete sachlich und überzeugend.

»Weil ich mir Sorgen um sie gemacht habe. Sie hatte hohes Fieber und schlief unruhig. Um elf Uhr am Vormittag war ich bei ihr, habe ihr ein frisches Nachthemd angezogen und ihr Alvedon gegeben.«

Elf Uhr, das ist gut, dachte Kerstin. Aber dann wurde sie unsicher, ob diese Heidenkinder überhaupt etwas von Kirchenzeiten wussten:

»Ihr wisst doch sicher, dass die Hauptmesse in der Kirche um elf Uhr anfängt.«

Doch, sie nickten. Danach sagte Louise, während sie wie üblich die rote Haarlocke an ihrer Schläfe drehte:

»Was bedeutet kollektive Halluzination?«

Kerstin sprach also in der Stunde über Parapsychologie, was man zu wissen glaubte, wie man versuchte, nachvollziehbare Experimente zu machen. Telepathie, sagte Kerstin, und alle hatten über Hellsehen gelesen, einige hatten sogar eigene Erfahrungen. Sie ließ sie erzählen in dem sicheren Gefühl, dass das genau das war, was sie jetzt brauchten. Erst als sie mit Gespenstergeschichten anfingen, hob sie warnend die Hand. »Wir müssen«, sagte sie, »dem Aberglauben bestimmte Grenzen setzen.«

Sie waren sich einig darin, dass es so vieles zwischen Himmel und Erde gab. Und widerwillig erklärte Kerstin, dass man für die Erlebnisse der Menschen einen gewissen Respekt aufbringen müsse, auch wenn man skeptisch sei.

Darüber musste die Klasse lachen:

»Respekt vor diesen Kirchenheinis? Wenn man an die unbefleckte Empfängnis glaubt, ist man doch nicht ganz klar im Kopf!«

»Aber Jesus ist doch auch in den Himmel geflogen«, sagte Peter und erntete lautes Lachen. »Dann war das wohl auch eine kollektive Halluzination.«

Kerstin sagte streng, dass man den Glauben der anderen achten solle und dass es religiöse Erfahrungen jenseits der Vernunft gebe.

»Doktor Arenberg ist ja auch gläubig«, sagte sie boshaft. »Er war bestimmt auch in der Kirche.«

Dann klingelte es, und Kerstin ging zum Neun-Uhr-Kaffee, zufrieden mit sich, aber ein wenig beschämt darüber, was sie über den Arzt gesagt hatte.

Als die Essensschlange in der Schule ein paar Stunden später am lautesten klapperte, flog das Gerücht durch die Kantinentür herein. Die überregionalen Abendzeitungen waren mit Fotografen und Journalisten im Ort. Sie hatten den Pfarrer gesucht, aber er war nicht zu Hause.

»Er ist nach Uppsala berufen worden«, sagte das Gerücht, und Kinder und Lehrer flüsterten: Das konnte man sich ja denken, das konnte man sich ja denken. Kerstin machte sich Sorgen um Sofia, sie bewegte eine Kollegin dazu, ihre Nachmittagsstunden zu übernehmen, und fuhr heim.

»Wenn ich einen Zeilenschinder bei uns zu Hause finde, bringe ich ihn um«, sagte sie der Kollegin, die lachte und meinte, das wäre dann erst eine richtige Sensation für Östmora.

Sie fuhr bei Berglunds vorbei und klingelte. Katarina war zu Hause, bleich und unruhig. Anders gehe es besser, sagte sie, mit der Erkältung. Aber ansonsten sah es schlecht aus mit dem Jungen, er lag im Bett und weigerte sich, mit ihr zu sprechen.

»Und dann dieses schreckliche Weinen, weißt du«, sagte sie.

Kerstin kannte es, dieses trockene Weinen.

»Hat er sich dieses dumme Gerede über den Flug in der Kirche so zu Herzen genommen?«

»Ich glaube nicht, dass es das ist«, entgegnete Katarina. »Wir haben es ihm gestern erzählt, und da hat er nur mit den Schultern gezuckt. Aber heute Morgen hat er etwas Merkwürdiges zu mir gesagt, dass es stimme, was die Leute in der Kirche gesehen haben. Sie seien durchs Dach geflogen, Sofia und er.«

Kerstin hatte so einen trockenen Mund, dass sie sich anstrengen musste, etwas herauszubringen:

»Vielleicht solltest du den alten Arzt anrufen.«

Katarina nickte, ja, daran hatte sie auch schon gedacht.

»Ich werde mit Sofia reden«, sagte Kerstin. »Wenn ich etwas herausbekomme, rufe ich dich an. Und noch was, lass bloß keine Journalisten rein.«

»Einen habe ich schon rausgeworfen. Der kommt nicht wieder, da bin ich mir ganz sicher.«

Kerstin versuchte zu lachen, sie konnte sich vorstellen, was Katarina gesagt hatte.

 

Daheim stand kein Auto auf dem Hof, zum Glück. In der Küche saß Inger und legte Patiencen. Es duftete nach Kaffee.

»Möchtest du eine Tasse?«

»Danke, gern. Ich will nur erst schnell nach Sofia sehen.«

»Sie ist so schrecklich verschnupft.«

Aber das war kein Schnupfen, das sah Kerstin auf den ersten Blick. Das Kind war verheult und verzweifelt.

»Du sollst bei mir schlafen.«

»Ja, gut. Ich muss nur erst Inger wegschicken.«

Kerstin brauchte keine fünf Minuten, um zu berichten, was über die Geschehnisse in der Kirche erzählt wurde. Wie erwartet, wurde Inger ganz fiebrig vor Aufregung, mein Gott, wie interessant.

»Ich habe ja immer schon gesagt, dass Sofia besondere Gaben hat«, sagte sie, und Kerstin schluckte die Worte runter, die ihr bereits auf der Zunge lagen.

»Willst du in die Stadt, um einzukaufen?«

»Ja, sicher.«

»Dann komm doch auf dem Rückweg vorbei und erzähl mir, was du gehört hast.«

»Das mache ich.«

Kerstin trank ihren Kaffee im Stehen, um danach schnell zu Sofia hinaufzueilen.

»Ich mache alles für uns im Schlafzimmer zurecht«, sagte sie. »Kannst du gehen, oder soll ich dich tragen?«

Das war ein Scherz, aber Sofia verzog keine Miene. Sie nahm ihr Kissen unter den Arm, wie damals, als sie noch klein war, und dann krochen beide zusammen in das große Bett. Kerstin legte einen Arm um das Mädchen und zog sie an sich.

Lange Zeit war es still, bis Sofia flüsterte:

»Anders ist so schrecklich traurig.«

»Ich weiß, ich bin vorbeigefahren und habe mit seiner Mama gesprochen.«

»Hat er was gesagt?«

»Nein, du weißt doch, dass Anders zu allem, was für ihn schwierig ist, lieber schweigt.«

Sofia schloss die Augen, Kerstin blieb still: Keine Fragen, jetzt keine Fragen.

»Ich bin die Einzige, die weiß, warum er so traurig ist«, sagte das Mädchen.

»Vielleicht erleichtert es dich, wenn du darüber sprichst.«

»Aber Oma, es hat doch keinen Sinn, dir so etwas zu erzählen. Du verstehst immer alles falsch und kriegst Angst.«

»Ich werde versuchen, das nicht zu tun«, sagte Kerstin und spürte, wie die Angst in ihr hochstieg. Doch ihre Stimme war ruhig, als sie sagte:

»Warum ist Anders traurig?«

»Weil er die Welt gesehen hat, wie sie ist, und er sie schrecklich findet. Für ihn ist nichts mehr so, wie es war, verstehst du?«

»In etwa. Aber vielleicht solltest du von Anfang an erzählen.«

»Wir haben geübt, zusammen zu träumen, weißt du.«

»Von Anfang an, Sofia.«

Und dann kam sie, die ganze lange Geschichte vom Berg, der mit ihnen sprach, von den wilden Stiefmütterchen, dem Wacholder und der feierlichen Stimmung auf dem Bergplateau.

»Das kann ich verstehen«, sagte Kerstin. »Die Stimmung dort oben auf der Heide ist merkwürdig. Ich war oft dort, als ich noch klein war. Ich glaube, das liegt an dem großen Grab.«

»Dem Grab?«

»Du kennst doch diese Steine, die zwischen den Wacholderbüschen liegen. Das sind die Reste eines Hünengrabs, eines Schiffsgrabs, das die Menschen für ihren toten Häuptling errichtet haben.«

»Toll«, sagte Sofia. »Ich dachte, das wäre der Wurf eines Riesen, aber Anders hat gesagt, das war die Eiszeit.«

»Da habt ihr euch beide geirrt. Aber erzähl jetzt weiter!«

Sofia erzählte, wie sie mit den Kirchenliedern anfingen. Zuerst mit »Felsen, der du zerbrachst«.

»Das gefiel mir am besten«, sagte sie, und Kerstin schluckte die Frage herunter, die in der Luft hing.

»Wir haben viel über Gott gesprochen«, sagte Sofia schließlich. »Anders meint, dass die Erwachsenen nicht wirklich an Gott glauben, er sagt, die tun nur so. Und geben an, wenn sie so reden, als würden sie ihn kennen. Glaubst du an Gott, Oma?«

»Manchmal schon, aber es ist nicht einfach, darüber zu reden. Irgendwie ist Gott zu groß für Worte.«

Sie spürte die Verwunderung des Mädchens. Darüber hätten sie schon lange reden sollen.

»Warum gehst du dann nicht in die Kirche – wenn du glaubst?«

»Dort finde ich ihn nicht«, antwortete Kerstin. »Für mich ist er eher im Wald, am Meer und so. Bei anderen Menschen, vor allem bei dir, in deinen Augen.«

Sofia setzte sich auf, holte tief Luft und sagte: »Aber Oma, jetzt bist du nicht recht gescheit. Er hängt doch da in der Kirche am Kreuz. Übrigens ist er nicht mitgekommen, er saß mit all den Nägeln fest.«

»Leg dich wieder hin und denke dran, dass du mir alles von Anfang an erzählen wolltest.«

Dann erfuhr sie von den Träumen, von Anders‹ Engel: Er war grauer, als er gesagt hatte, und sonderbar verschwommen. Und von Sofias Boot, das des Nachts durch die Fluten glitt.

»Da sind wir auf die Idee mit der Kirche gekommen.«

Sofia erzählte, wie sie geübt hatten, wie sie sich den Sonntag ausgesucht hatten, an dem die Gemeinde sang: »Bereitet den Weg für den Herrn! Die Berge versinken, die Tiefen erheben sich.«

»Das haben wir gemacht, den Weg bereitet und das Dach zum Öffnen gebracht«, sagte sie. »Aber Gott konnte nicht mitkommen. Das war schade für ihn.«

Zum Schluss kam sie zu dem Telefongespräch, bei dem Anders sie angeschrien hatte, dass er ihre Welt hasse, dass sie gefährlich, schrecklich und eklig sei.

»Ist das nicht merkwürdig?«, sagte Sofia. »Wo es in der Kirche doch so schön ist.«

Kerstin sagte nichts, sie fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, sie musste aufstehen, ein Taschentuch holen. Als sie zum Bett zurückkam, weinte Sofia, laut und verzweifelt.

»Aber Oma, erkläre es mir.«

Lange lagen sie da und sprachen über die Wirklichkeit, dass sie natürlich für jeden Menschen anders war, aber dass man lernen musste, sie in einer bestimmten Weise zu sehen: Das ist schön, das ist hässlich.

»Wir können ja nicht verstehen, wie die Wirklichkeit für die Blinden aussieht«, sagte Kerstin. »Deren Welt baut sich auf aus Geräuschen, Gerüchen, dem Fühlen und so.«

»Das war mir ja klar«, sagte Sofia. »Aber als er sie mir erklärt hat, erschien sie mir wie, wie meine Welt.«

»Wahrscheinlich kann man das gar nicht beschreiben. Ich will dir von einem Jungen erzählen, der vor vielen Jahren bei mir in die Klasse ging. Er war farbenblind, rotgrünblind, wie das heißt. Das bedeutet, er konnte nicht zwischen rot und grün unterscheiden, er sah nur eine Farbe, wo wir zwei sehen. Wir haben nach einer Stunde einmal darüber gesprochen, nur er und ich. Und er sagte, dass er nie erfahren würde, ob der Wald, den er sah, rot oder grün war. Es gab keine Möglichkeit, das für ihn zu beschreiben. Ich habe darüber hinterher oft nachgedacht, über den Jungen, der vielleicht in einem roten Wald herumging.«

»Das heißt, niemand kann wissen, wie Anders‹ Welt aussieht?«

»Ja, ich glaube, niemand kann das wissen.«

»Und jetzt hat er so viel Angst, und daran bin ich schuld.«

»Ich verstehe, was du meinst. Aber du konntest doch nicht wissen, dass es so ein Unglück werden würde.«

Möglicherweise trösteten die Worte Sofia, denn nach einer Weile schlief sie ein, während Kerstin wach liegen blieb und dachte, dass sie kein Wort darüber verloren hatten, wie sonderbar es doch war, dass die beiden Kinder ihre Träume steuern konnten. Oder über das Merkwürdigste von allem, dass die Leute in der Kirche den Traum der Kinder hatten sehen können.

Die alte Unruhe wegen Sofia nagte in ihr.

Nach einer Weile schlief auch Kerstin ein, das Mädchen fest an sich gedrückt. Sie wurden von Inger geweckt, die aus der Stadt zurückgekommen war. Ihre Augen funkelten, und das volle, graumelierte Haar stand ihr wirr um den Kopf herum.

Doch bevor sie auch nur ihren Mund öffnen konnte, sagte Kerstin mit ihrer entschiedenen Lehrerinnenstimme:

»Hast du alles eingekauft? Sofia und ich, wir sind schrecklich hungrig.«

Das Mädchen blieb im Bett liegen, während die beiden Frauen in die Küche hinuntergingen, um zu kochen. Kerstin machte die Tür hinter ihnen zu und sagte dann: »Flüstere, Inger, um Gottes willen, flüstere.« Und die Worte purzelten aus Inger heraus. Der Pfarrer war zum Rapport beim Bischof, hieß es. Der Arzt hatte darüber geschwiegen, was er in der Kirche gesehen hatte, nur eingeräumt, dass die beiden Kinder mit hohem Fieber in ihren Betten gelegen hatten. Auf die Frage, was er von einer kollektiven optischen Täuschung hielt, hatte er geantwortet, dass er kein Psychologe sei.

Die meisten, die in der Kirche gewesen waren, waren seinem Beispiel gefolgt. Nur die Brüder Björkman und die gutherzige Mia Johansson hatten geredet, lang und breit, über das sonntägliche Wunder. Und natürlich Linnea Haglund, die jede Gelegenheit nutzte, sich hervorzutun.

Es hatte Streit gegeben, die Björkmans waren wütend auf den Arzt und die anderen, die schwiegen.

Alle warteten darauf, dass der Pfarrer zurückkommen würde.

»Ich glaube, ich werde am nächsten Sonntag mal in die Kirche gehen«, sagte Inger, und Kerstin dachte, dass an diesem Tag – endlich einmal – die Östmora-Kirche voll besetzt sein würde.

Inger ging nach Hause, Kerstin konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihr Telefon an diesem dunklen Dezemberabend heißlief. Inger glaubte, hellseherische Fähigkeiten zu haben, und deutete wortreich die Sterne für alle, die ihren Weg kreuzten. Sie hatte in den verschiedensten okkulten Kreisen ihre Freunde.

Mein Gott, dachte Kerstin, während sie zu der Wurst Kartoffeln pürierte. Sie verteilte zwei große Portionen auf die Teller und legte Tomaten dazu. Aus Prinzip, Sofia mochte keine gesunden Sachen.

Sie aßen schweigend, beide dachten an Anders. Schließlich fragte Kerstin: »Soll ich Anders‹ Mama etwas davon erzählen?«

Sofia blieb vor Schreck fast das Essen im Halse stecken, als sie schrie: »Nein, nein. Er würde es mir nie verzeihen, wenn er herauskriegte, dass ich dir alles erzählt habe.«

»Okay. Dann reden wir nicht drüber. Du auch nicht, versprich mir das. Kein Wort zu keinem Menschen von den Träumen.«

»Ehrenwort«, sagte Sofia und kreuzte zwei Finger.

Kerstins Erleichterung war voller Scham.

»Jetzt rufe ich Anders‹ Mama an«, sagte sie.

Sie holte das Telefon vom Nachttisch und wählte die Nummer. Wie es Anders gehe?

»Immer noch unverändert.«

»Und der Arzt?«

»Ja, der kommt am Freitag. Aber seine Betreuerin sagte, sie würde Rune schon morgen vorbeischicken. Und wie geht es Sofia?«

Bildete sie sich das nur ein, oder gab es eine Spitze in der Frage? Kerstin überlegte kurz, bevor sie antwortete.

»Ziemlich elend. Sie hat den ganzen Tag geweint.«

»Aber was ist denn nur passiert?«, fragte Katarina verwundert.