Wahrscheinlich gibt es in jedem Leben so einen Augenblick, eine Stunde, einen Tag oder eine Nacht, wo jedes Bild der Erinnerung eine bestimmte Farbe und Schärfe bekommt und der Zusammenhang offensichtlich wird.
Bei Kerstin begann das, woran sie später oft dachte, in jener erinnerungsträchtigen Nacht mit dem Funkgespräch mit der Ocean Seal, dem Tanker, der trächtig und schwerfällig sich seinen Weg zur Südspitze Afrikas bahnte.
»Guten Abend, hier ist Göteborg Radio. Sie haben Verbindung zur Ocean Seal, zu Kapitän Horner.«
Seine Stimme klang, wie sie klingen sollte, warm vor Freude, sobald sie gesagt hatte, dass zu Hause alles in Ordnung war.
»Fühlst du dich einsam?«
»Ja.«
»Ich auch. Aber jetzt kann ich die Tage bis Rotterdam schon zählen.«
»Sofia hat die Grippe, aber es geht ihr schon besser.«
Sie wusste, dass er die Kerbe in ihrer Stimme bemerken würde. Ängstlich, er könnte sie missverstehen, beeilte sie sich hinzuzufügen:
»Kein Grund zur Beunruhigung. Der Arzt war hier, und er ist überzeugt, dass sie in ein paar Tagen wieder auf den Beinen ist.«
»Gut«, sagte er, aber er klang verwundert. Sie erzählte von dem ungewöhnlich schönen Winterwetter, Sonne an jedem Tag im Dezember. Und Schnee, so viel, dass es wirklich wunderschön aussah.
»Das klingt gut.«
Er war kurz angebunden, wie immer, wenn er verwirrt war. Das machte nichts, sie redete einfach weiter.
»Hier ist nicht viel los«, sagte sie. »Aber heute stand etwas Merkwürdiges in der Zeitung.«
Sie kicherte, auch das war ungewöhnlich für sie. Und dann las sie ihm den Artikel mit einer deutlichen Betonung am Ende vor: Die beiden Kinder lagen krank in ihren Betten.
»Sonderbare Geschichte«, sagte er mit lang gedehntem rollendem R. Sie seufzte vor Erleichterung: Er hatte verstanden.
»Ja, nicht wahr«, erwiderte sie. »Du kannst dir denken, wie sich die Klatschmäuler in ihren Stuben heiß reden.«
»Ich habe eine Idee«, sagte er. »Aber ich kann noch nicht darüber sprechen. Bist du morgen Nachmittag zu Hause?«
»Ja, auf jeden Fall nach zwei Uhr.«
»Dann rufe ich dich an.«
»Gut, und pass auf dich auf.«
»Du auch.«
Als sie den Hörer auf die Gabel legte, glänzte er von ihrem Schweiß. Dann schloss sie die Augen und sah sein Gesicht vor sich, wie sie es gesehen hatte, als er vor jetzt fast dreißig Jahren an einem Frühlingsabend ins Lotsenhaus gekommen war.
»Hier haben wir Hans Horner, einen deutschen Steuermann, der sich einen Schnaps verdient hat«, hatte der Lotse gesagt, wie er es zu tun pflegte, wenn er Leute von den Schiffen, die er durch die lange Einfahrt nach Östmora gezirkelt hatte, mit nach Hause brachte.
Wie viel Leben in dem jungen Gesicht war, hatte sie gedacht. Und so eine Neugier in den hellbraunen Augen, die sie fast schamlos anstarrten.
Es war gegen Ende des langen Sommers gewesen, als sie die Affäre mit Åke Arenberg gehabt hatte, dem neuen Arzt, der Trost brauchte, da seine Frau im Krankenhaus lag. Sie hatte im Laufe des Jahres oft darüber nachgedacht, wie sie eigentlich in seinem Bett gelandet war, zwanzig Jahre alt und Lehrerstudentin in Uppsala. Sie hatte viele Freunde und ein solides Selbstvertrauen, sie war hinlänglich nett und nicht besonders romantisch veranlagt.
Da sah sie ihre Mutter vor sich, das verhärmte Gesicht in den weißen Kissen des Krankenhauses, und ihr fiel ein, dass es der Frühling war, in dem ihre Mutter starb.
Langsam nahm sie sich zusammen, zog sich aus, ging ins Bad und kroch schließlich neben Sofia in das breite Bett.
Das Mädchen schlief.
Kerstin wollte nicht an ihre Mutter denken. Nicht an sie, nicht an Klara, nicht an ihren Vater. Mein Gott, sie hatte vergessen, ihn anzurufen. Jetzt war es zu spät, jetzt war er sauer, der Alte auf dem Berg.
Die Gedanken kreisten wieder um Arenberg, um etwas, was Hans über den Arzt gesagt hatte, dass er sein Leben auf der Treulosigkeit gegenüber der Vergangenheit aufbaue. Deshalb bräuchte er einen Glauben. Sicher wäre es besser gewesen, wenn Arenberg sich hätte erinnern und trauern können.
Bevor er gläubig wurde, hatte Hans gesagt.
Damals hatte Kerstin nicht zu antworten vermocht, da sie glaubte zu wissen, warum Åke Arenberg die Erinnerung an die verstorbene Ehefrau von sich schob. Wusste Hans es?
Vielleicht, es war schon lange her, dass diese Frage ihr Sorgen gemacht hatte.
Plötzlich standen sie ihr deutlich vor Augen, die Spätsommerabende in Stockholm, als sie mit dem Steuermann Horner langsam und voller Genuss durch die Gassen der Altstadt gezogen war, offen füreinander. Und die Nächte in seiner Kajüte an Bord, als sie endlich begriff, wovon die Lieder sangen. Mein Gott, wie sie ihn liebte, seinen Haaransatz, den Rücken mit der Narbe von dem Bombensplitter, die Hände, die Stimme. Und seine Liebe, seine immer währende Neugier. Und sein Staunen.
Mein Wunder, so nannte er sie.
Sie bekam eine Stellung auf Probe in Östmora. Und eine Wohnung. Das ist gut für den Lotsen, sagten die Leute und lobten sie. Aber sie selbst zweifelte, dachte, sie müsste sich befreien.
Er war ein starker Mann, ihr Vater.
Zwei Tage vor Weihnachten hatte es an ihrer Tür geklingelt. Da stand Steuermann Horner, abgemustert, glücklich wie ein Narr.
Sie feierten Weihnachten gemeinsam mit dem Lotsen, der sehr eifersüchtig war und wie ein zurückgesetztes Kind aussah, als sie am zweiten Tag Richtung Norden fuhren. In einer Pension in Dalarna verglichen sie ihre Erinnerungen, seine wenigen, düsteren und ihre hellen. Ihre sanften Bilder gaben ihm Trost, er gab ihr dafür die Wirklichkeit und die Schatten.
So schien es zumindest anfangs. Erst viel später begann sie zu zweifeln, als sie entdeckte, wie offen er für Freuden war. Sie selbst war allen Freuden gegenüber misstrauisch und ging davon aus, dass sie ihren Preis forderten – hinterher.
Viel später begannen sie, darüber zu streiten, sie konnte seine Verzweiflung sehen, als er sie schüttelte und schrie: »Zum Teufel, Kerstin, sei doch ein bisschen kindlich. Man muss unschuldig sein, um zu verstehen, was Freude ist.«
Hier in der Pension im Schnee konnte sie sich endlich an ihre Mutter, an deren Tod erinnern. Davon erzählen. Er sagte nicht viel, blieb still, brachte sie zu Bett und kochte ihr Tee. Dann ging er hinaus, ließ sie zu Ende weinen.
Am nächsten Tag begann er von den Bombardierungen auf Hamburg zu erzählen, bei denen die ganze Familie Horner verschwand. Außer dem Zehnjährigen, der zu spät kam – zum Mittagessen und zum Tod in seinem Viertel.
Sein Vater hatte eine Exportfirma gehabt, die ein gutes Auskommen garantierte. Sie lag an einem der Kais, das Kontor im Erdgeschoss und die elterliche Wohnung darüber. Eine große, altmodische Wohnung, voller Palmen und Geheimnisse.
»Meine Mutter«, sagte er, und sein Blick verschwand im Schneereich, »meine Mutter war einer der seltenen Menschen, die verstehen, dass man nicht glücklich sein kann, ohne gleichzeitig traurig zu sein.«
»Ich glaube, die ersten Jahre waren sehr ruhig, ein Glück am Rande einer großen Angst«, sagte er. Deshalb musste er zur See fahren, das hatte er sich schon früh vorgenommen.
»Und die Angst?«
»Ach, Kerstin«, sagte er. »Ihr werdet es nie verstehen, und wir können es niemals erklären.«
»Versuch es.«
Er sang das Horst-Wessel-Lied, trommelte den Takt mit den Fingern auf ihrer Stirn.
»Soweit ich mich zurückerinnern kann, marschierten sie, die Stiefelidioten. Tam, tam, tamtaratam dröhnte es von der Straße. Und jedes Mal wurde es still bei uns daheim, und in Papas Augen stand die Angst.« Er erzählte von den Juden, den Kameraden, die verschwanden, von der Hausangestellten, die in Papas jüdischen Buchhalter verliebt war und die Nächte durch weinte. Mama, die Juden auf dem Dachboden versteckte, und Papa, der wahnsinnig vor Angst wurde, als er das erfuhr.
»Dieser Streit«, sagte er, »dieses schreckliche Gezanke, wenn sie ihm Feigheit vorwarf. Er weinte, sie schrie.«
»Jeden Morgen«, sagte er, »jeden Morgen, kannst du dir das vorstellen, mussten wir zu Papa rein, bevor wir zur Schule gingen. Er verbot uns zu reden, über dieses und jenes mit den Freunden und Lehrern zu sprechen. Es ging ums Leben.«
»Es war fast eine Erleichterung, als die Bomber damit begannen, Hamburg dem Erdboden gleichzumachen. Kannst du verstehen, dass es eine Erleichterung war, als die Gefahr offensichtlich und greifbar wurde?«
»Bis zu dem Tag …«, sagte er, konnte aber nicht weiterreden; er zog sie an sich und schlief ein. Wachte ein paar Stunden später auf.
»Und was passierte mit dem Zehnjährigen?« Sie hörte ihre eigene Stimme, scheu, aber entschlossen.
»Nun ja«, er räusperte sich. »Er lebte wie eine Ratte zwischen den anderen Ratten in den Ruinen, stahl, was er kriegen konnte, bettelte meistens. Wurde dabei erwachsen, dieser Zehnjährige.«
Er lachte, klang fast zufrieden. Und dann erzählte er von dem Leichengestank, vom Hunger und dem Jungen, der immer wieder zum Kai zurückging, wo sein Heim gewesen war und wo er in den Ruinen ein Kellerbüro entdeckte. »Darin saß einer von Papas Buchhaltern«, sagte er. »Und betrieb ein Maklergeschäft für die Schiffe, die sich mit Lebensmitteln hereinwagten. Sie hatten es immer eilig, mussten binnen eines Tages löschen, vor der Verdunkelung und den Bombern.
Ich konnte bei ihm im Kellerverschlag wohnen. Er hatte Brot, manchmal sogar einen Fisch. Er wartete auf jemanden, auf etwas.«
Eines Morgens stand der Junge am Kai und sah ein Schiff im Nebel Gestalt annehmen, einen alten dänischen Dampfer, den er wieder erkannte.
»Die Erinnerungen kamen erst nach und nach«, sagte er. »Es war das Schiff, mit dem Mama ihre Juden rausgeschmuggelt hatte.«
Es dauerte seine Zeit, bis der Däne an dem kaputten Kai angelegt hatte und mit dem Löschen begann. An Bord wimmelte es von deutschen Uniformen. Aber der Nebel hielt sich, und der Buchhalter schickte den Jungen mit einem Brief für den Kapitän an Bord.
»Was in dem Brief stand, weiß ich nicht, aber ich erzählte dem Kapitän die ganze Geschichte, er hatte meine Eltern ja gekannt. Und er wusste, dass es stimmte, was ich ihm sagte, dass ich nämlich eine Tante in Malmö hatte. Also versteckte er mich im Laderaum mit einem Brot und einer Flasche Wasser, und als ich aufwachte, hörte ich die Maschinen dröhnen und roch das offene Meer.
Diese Zeit werde ich nie vergessen.
In Dänemark waren die Fluchtwege organisiert, ein Lastwagen zum Sund und dann ein Fischerboot, das mich mit einigen jüdischen Familien hinüberschmuggelte. Am Kai von Malmö wartete die Polizei, gab mir heißen Kakao, verhörte mich. Und telefonierte. Nur eine Stunde später war Papas Schwester mit ihrem schwedischen Mann da.«
»Dann ging es also gut aus«, sagte sie.
Erst jetzt, dreißig Jahre später, konnte sie die Kälte in seiner Stimme hören, als er ihr zustimmte:
»Doch, ja.«
Und dann ein Auflachen:
»Sie waren Nazis, kannst du dir so was vorstellen. Die Schwester meines Vaters und ihr blöder Kerl waren Nazis.«
Sie sah wieder sein Gesicht in den Kissen, das schiefe Lachen, den Schmerz. Mein Gott, was für eine Idiotin war sie gewesen, dieses Mädchen, das nicht wollte, dass ihre Träume zerstört wurden. Ihr Heim sollte dort errichtet werden, wo es Glück und Frieden gab.
Am Rande einer großen Angst.
Wie blind kann man eigentlich sein?
Sie war so aufgewühlt, dass sie aus dem Bett steigen musste, nahm Decke und Kissen mit und legte sich im oberen Flur aufs Sofa, die Tür zum Schlafzimmer und zu Sofia ließ sie offen. Sie trank ein Glas Wasser und versuchte zu verstehen.
Ich habe einen kriegsversehrten Mann geheiratet, einen Mann, der seinen Halt verloren hatte und sich nicht traute, sich an seine Kindheit zu erinnern. Und ich glaubte anfangs, er hätte Angst im Dunkeln und wäre traurig.
Natürlich musste er weiter zur See fahren, wo er die Einsamkeit und den Schmerz finden konnte, dachte sie und erinnerte sich wieder daran, was er über Arenberg gesagt hatte, der treulos gegenüber der Vergangenheit zu leben versuchte und dadurch nur ein halber Mensch war.
Wie wahr. Warum hatte sie es nicht verstanden?
Im nächsten Moment sah sie ihren Vater, jung und stark an einem Werktag im blauen Licht und bei starkem Wind. Er kam vom Hafen, die Uniformmütze schräg auf dem Kopf, und hob sie in die Luft.
Seine Hände, die Stärke. Die wilde Lust des Augenblicks. Sie spürte, wie sie errötete, während sie hier auf dem Sofa lag, und schob das Bild beiseite. Es gab auch andere, dachte sie.
Papa war die Sicherheit in Person, hatte Mama gesagt und den Preis dafür jahrein, jahraus bezahlt. Ihm gehörte ihr Leben, ihre Arbeit, ihre Meinung. Zeit, nie hatte sie Zeit, nicht einmal, um in die Kirche zu gehen.
Der rote Zorn gegen den Alten auf dem Berg schoss in ihr hoch.
Inzwischen hatte Kerstin erfahren, wie es mit der Sicherheit bei diesem Mann stand, der jetzt fast neunzig war, ängstlich und wimmernd wie ein verlassener Säugling.
»Jämmerlich«, sagte sie und verdrängte das Bild.
Nichts davon hatte sie damals verstanden, mit zwanzig. Sie war auf das Glück fixiert, und das glaubte sie in der Sicherheit zu finden, bei einem richtigen Mann mit einer Uniformmütze schräg auf dem Kopf und starken Händen voller Begierde.
Mit großer Kraftanstrengung brachte sie sich zurück ins Schneereich von Dalarna, zu den längst vergangenen Tagen. Schien jeden Tag die Sonne? Ja, sie meinte schon.
Sie fuhren Ski und standen eines Tages windgeschützt hinter einigen großen Kiefern, tranken Kaffee aus der Thermoskanne und schauten über die funkelnde Landschaft. Da sagte er:
»Das würde ich gern Klara zeigen.«
Und da hörte sie zum ersten Mal von seiner Schwester, von diesem Mädchen, das seine Kindheit mit Geheimnissen, Märchen und Bildern gefüllt hatte.
»Sie war so begabt«, sagte er. »So empfindsam und begabt. Sie hatte die sonderbare Gabe, um die Ecken zu sehen, Dinge zu wissen, die man gar nicht wissen kann. Unsere Mutter«, sagte er, »war deshalb beunruhigt. Klara war hellseherisch, das lag in der Familie, und das brachte meistens nur Unglück.«
Das brachte meistens nur Unglück.
Sie heirateten im April in der schwedischen Seemannskirche in Genua und machten danach ihre Hochzeitsreise nach Südamerika, um das Kap Horn nach China und Japan. Es war eine Zeit, in der die Schiffe ihre Fahrten noch ohne bindende Zeitvorgaben machten, mit langen Aufenthalten in jedem Hafen. Nicht wie jetzt, nein, nicht wie jetzt.
Dann kam sie eines Spätsommertags nach Hause, nahm ihre Arbeit wieder auf und stellte fest, dass sie ein Kind erwartete. Und als die Bäume ausschlugen, gebar sie ein Mädchen, das Klara getauft wurde, nach der Schwester seines Vaters.