Ein gepflegter Rasen, Blumenbeete, akkurat geschnittene Hecken und einige Obstbäume umrahmten das große Haus. Christina stand diesmal vor keiner neuen Herrschaftsvilla, sondern vor einem makellos renovierten ländlichen Gutshaus aus dem 19. Jahrhundert. Vor der Garage parkte ein Volvo Kombi der Oberklasse. Christina betätigte die Türklingel. Nach einer Weile noch einmal. Schließlich hörte sie Stimmen im Haus.
„Guten Morgen“, begrüßte sie den großgewachsenen älteren Herrn in unauffälliger Freizeitkleidung.
„Guten Morgen. Ja, bitte?“
Christina wies sich aus.
„Mein Name ist Kayserling, Kriminalreferat Steyr. Sind Sie Engelbert Bernsteiner?“
„Kriminalpolizei?“
„Herr Bernsteiner?“
„Ja, ich bin Engelbert Bernsteiner. Worum geht es?“
„Darf ich eintreten? Ich hätte ein paar Fragen an Sie und vor der Tür plaudert es sich so ungemütlich.“
Engelbert Bernsteiner trat zur Seite und vollführte eine einladende Geste.
Kaum in der Vorhalle, schaute sich Christina unverfänglich und doch sehr präzise um.
„Kommen Sie doch weiter, Frau Kayserling. Gehen wir in mein Büro. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“
Christina schenkte dem grauhaarigen Mann ein freundliches Lächeln.
„Eine Tasse Kaffee wäre sehr nett.“
„Na dann, kommen Sie. Ich werde das gleich veranlassen.“
Bernsteiner führte Christina in sein Privatbüro im Parterre. Er rückte ihr einen Stuhl vor seinem Schreibtisch zurecht und entschuldigte sich. Während sie auf seine Rückkehr wartete, schaute sie sich um. Ein durch große Fenster zum hinteren Teil des Gartens heller und stiller Raum, das Interieur bestand aus alten, vielleicht auch ein wenig altmodischen Möbeln, ein Bücherregal nahm die gesamte Rückwand des Raumes ein.
„So, Frau Kayserling, hier eine Tasse Kaffee. Milch und Zucker?“
„Nur eine Prise Zucker. Vielen Dank, Herr Bernsteiner.“
Der Mann goss reichlich Milch in seine Tasse, setzte sich und rührte bedächtig den Zucker in den Kaffee.
„Sehr gut, eine Wohltat. Wissen Sie, Herr Bernsteiner, ich bin schon seit einiger Zeit auf den Beinen und habe frühmorgens nur schnell einen Espresso hinuntergewürgt.“
„Ich kenne Sie, Frau Kayserling. Also wir sind uns noch nicht persönlich begegnet, aber ich kenne Ihren Mann. Und habe Sie schon gemeinsam mit ihm gesehen. Umso mehr freut es mich, Sie jetzt einmal zu treffen.“ „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, wenngleich der Anlass, weswegen ich hier bin, wenig Grund zur Freude gibt.“
Ein dunkler Schatten legte sich in das Gesicht Bernsteiners.
„Sie sind dienstlich hier, das habe ich schon verstanden. Was kann ich für Sie tun?“
Christina nahm einen kleinen Schluck Kaffee und stellte dann die Tasse ab.
„Herr Bernsteiner, erzählen Sie mir doch etwas über die Bernsteiner Fleischwaren AG.“
„Was wollen Sie wissen?“
„Alles. Aber am besten fangen wir mit dem Logistikzentrum an. Was können Sie mir darüber sagen?“
„Nun, das Logistikzentrum ist das Kernstück des Unternehmens. Ein hochmodernes Automatiklager, in dem die gesamte Ware aus den eigenen Produktionsstätten und von den sonstigen Lieferanten gesammelt wird.“ „Laufen da große Warenmengen durch?“
„Sehr große! Wir beliefern drei Großkunden und rund zweihundert Kleinkunden mit unseren Produkten. Wobei die drei Großkunden dreiviertel des Gesamtumsatzes ausmachen. Spar, Billa und Hofer. Die drei großen Retailer im Land beziehen einen erheblichen Teil ihres landesweit angebotenen Fleischsortiments und viele Wurstprodukte von uns. Die Kleinkunden sind selbständige Fleischhauer, Gewerbeküchen und einige Gasthäuser in Oberösterreich, Salzburg und Niederösterreich. Wir haben auch Kunden in Bayern und Tschechien. Der Herbert hat diese Geschäfte aufgebaut. Die Firma gehört mittlerweile zu den drei größten Fleischversorgern in Österreich.“
„Mit Herbert meinen Sie Herbert Felder?“
„Ja, der Herbert. Er hat die Firma großgemacht. Unter seiner Leitung ist auch das Logistikzentrum errichtet worden. Es gehört zu den modernsten Umschlagzentren für Frischfleisch in ganz Europa, wenngleich es nicht die Größe wie vergleichbar moderne Anlagen in Deutschland und Holland hat. Österreich ist ein überschaubarer, aber sehr stabiler Markt.“
Bernsteiner nahm einen tüchtigen Schluck Kaffee und stellte die Tasse ab. „Sind Sie mit der operativen Leitung des Unternehmens betraut?“
„Nein, ich bin stiller Teilhaber. Ich halte fünfzehn Prozent der Aktien.“
„Und die anderen Aktien?“
„Herbert hält fünfundsiebzig Prozent. Zehn Prozent sind an mehrere Kleinanleger verteilt.“
„Aber die Firma trägt Ihren Namen.“
Engelbert Bernsteiner schaute eine Weile aus dem Fenster. Christina wartete geduldig.
„Herr Bernsteiner?“
„Entschuldigen Sie bitte. Also, die Sache ist so. Mein Urgroßvater hat das Unternehmen in Sierning gegründet. Mein Großvater hat die Fleischerei Bernsteiner weitergeführt. Mein Vater hat expandiert und insgesamt fünf Filialen aufgebaut. Als ich die Firma übernommen habe, habe ich weiter expandiert und noch einmal sechs Filialen eröffnet. Ich war jung und tatendurstig, ich habe auf Qualität gesetzt und für die Lieferanten, allesamt Bauern aus der Region, Einkommenssicherheit gewährleistet. Natürlich nur bei Lieferung guter Qualität. Ich habe ein, wie ich heute noch felsenfest überzeugt bin, ausgeklügeltes Vertriebsnetz und eine mustergültige Qualitätskontrolle aufgebaut. Es gab in meinen guten Jahren nicht eine Klage der Lebensmittelaufsicht! Nicht eine!“
Christina nahm zur Kenntnis, dass der ältere Herr durchaus in Fahrt kommen konnte.
„Aber der Zug ging immer mehr in Richtung niedriger Preise. Gerade die Supermärkte, die jetzt die Hauptkunden des Unternehmens sind, haben mich damals fast ruiniert. Da habe ich Herbert getroffen, das ist über zwanzig Jahre her. Sein dynamisches Auftreten, seine energisch vorgetragenen Ideen und sein Verhandlungsgeschick haben mir mächtig imponiert. Er hat beträchtliches Kapital in das Unternehmen investiert und nach und nach die Geschäftsleitung übernommen. Und er hat die Marke Bernsteiner mit TV-Werbung bekannt gemacht. Mir wäre das nie eingefallen! TV-Werbung! Ich bezeichne mich als Fleischhauer der alten Schule, Frau Kayserling. Ich habe in jungen Jahren Wirtschaft studiert, aber im Herzen bin ich ein einfacher Bub vom Land geblieben. Ich kenne mich mit der Werbebranche nicht aus. Herbert hat diese Karte gespielt und sie hat gestochen. Die Retailer haben bei uns bestellt, die Umsätze sind kräftig gestiegen, also haben wir expandiert, drei Produktionsstandorte eröffnet und das Logistikzentrum gebaut. In erster Linie hat Herbert das alles gemacht. Ich bin seit elf Jahren nur mehr der Mann mit dem bekannten Namen im Hintergrund.“
Es lag offen, dass die geschilderten Entwicklungen Bernsteiner nicht mit großer Freude erfüllten, dass der Mann eher mit altem Groll und bitterer Resignation darüber berichtete.
„Aber, Frau Kayserling, das alles kann Ihnen der Herbert viel genauer erzählen.“
Christina lauschte genau in die Worte Bernsteiners. Was wusste er? Log er? Sie legte die Fingerspitzen beider Hände aufeinander.
„Herr Bernsteiner, das ist leider nicht möglich.“
Bernsteiner legte seine Stirn in Falten.
„Was meinen Sie?“
„Herbert Felder“, fuhr Christina langsam, fast tonlos fort, „ist heute früh um halb drei Uhr von einem Regalbediengerät überfahren und tödlich verletzt worden.“
Bernsteiners Atem stockte. Seine Lippen waren mit einem Mal blutleer. Er blinzelte verwirrt, verunsichert, schockiert. Spielte er ein Spiel? Christina war sich nicht sicher.
„Was …“
Christina musterte den älteren Mann. War er fähig, seinen ehemaligen Geschäftspartner zu töten? War er der Mann, der im Steuerungskasten den Schlüssel angesteckt hatte? Oder der jemandem den Auftrag zu dieser Tat gegeben hatte?
„Herr Bernsteiner, wo waren Sie heute um halb drei Uhr früh?“
„Ich … ich …“
Christina wartete, bis Bernsteiner sich gefangen hatte.
„Ich war die ganze Nacht zuhause.“
„Entschuldigen Sie, Herr Bernsteiner, es ist meine Pflicht, solche Fragen zu stellen. Kann jemand Ihre Aussage bestätigen?“
Bernsteiner schnappte nach Luft, erhob sich mühsam und taumelte zur Tür.
„Mathilde! Mathilde! Komm doch bitte her!“
Christina stellte sich neben Bernsteiner. Mathilde Bernsteiner kam mit fragendem Blick auf ihren Mann und Christina zu.
„Mathilde, die Frau Inspektor will wissen …“
„Frau Bernsteiner“, fiel Christina dem Mann ins Wort. „Wo war Ihr Mann letzte Nacht?“
„Er war hier. Wo soll er denn sonst gewesen sein?“
Engelbert Bernsteiner ging auf seine Frau zu und fasste sie an den Händen.
„Hilde, stell dir vor, der Herbert ist tot!“
Christina vermerkte im Kopf, dass Engelbert Bernsteiner wohl kaum in der Lage wäre, einen Mord zu beauftragen, geschweige denn, ihn selbst durchzuführen. Das hier war echte Erschütterung. Oder aber großartiges Schauspiel.
„Sie sagten, er wäre von einem Regalbediengerät überfahren worden? Vermuten Sie einen Mord?“
Christina trat einen Schritt zurück.
„Ich kann es nicht ausschließen, deshalb bin ich mit den Ermittlungen beauftragt. Herr Bernsteiner, wann haben Sie Herbert Felder zum letzten Mal gesehen?“
Das Ehepaar Bernsteiner stand sich aneinanderklammernd und gegenseitig stützend vor Christina.
„Gestern Abend. Herbert hat einen Empfang im Steyrtalerhof gegeben. Ich habe mich gegen elf Uhr von ihm verabschiedet. Danach bin ich direkt nach Hause gefahren, habe geduscht und bin zu Bett gegangen.“
Mathilde Bernsteiner nickte.
„Ja, der Berti ist ungefähr um halb zwölf nach Hause gekommen. Wir haben bis halb sieben geschlafen und dann gemeinsam gefrühstückt.“
„Also ein Empfang im Steyrtalerhof. Herr Bernsteiner, bei Bedarf melde ich mich wieder bei Ihnen. Danke für den Kaffee. Auf Wiedersehen.“
Christina schüttelte dem Ehepaar die Hände und warf die Tür hinter sich zu. Ihr Auto war wieder um einen Tick zu schnell unterwegs.