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„Hast du das schon gelesen? Jetzt schwimmen die Schwarzen nach Europa!“

Roswitha hatte gar nicht richtig zugehört, sie war damit beschäftigt, einen Kürbis zu zerlegen. Sie bereitete Kürbisgulasch mit Erdäpfeln zu, mit viel Zwiebeln und einer gehörigen Portion Pfeffer, dazu würde es Schwarzbrot geben. Ein deftiges Essen für hungrige Handwerker. Vegan natürlich, sie verwendete keinerlei tierische Fette, Fleisch sowieso nicht. Roswitha versuchte immer sogenannten Tierfreunden, die ihre Hunde, Katzen, Meerschweinchen oder Reitpferde über alles liebten und verwöhnten, denen keine Tierarztrechnung zu hoch sein konnte, die in wochenlange Depressionen verfielen, wenn ihr Schätzchen starb, die aber ohne mit der Wimper zu zucken Schweinebraten und Kalbsschnitzel aßen, nicht mit zu viel Herablassung zu begegnen. Die wenigsten Menschen verfügten über genug Verstand und Empathie, über ihre engen Horizonte zu blicken. Von allen Primaten waren die Menschen die gelehrigsten, aber wirklich klug waren sie nicht, sie waren vielmehr für andere Primaten wegen ihrer unbehaarten Haut wohl entsetzlich hässliche und wegen ihrer furchterregenden Denkfähigkeit höchst gefährliche Verschmutzer des gemeinsamen Nestes, genannt Erde. Aber immerhin, das musste Roswitha ihren Artgenossen zu Gute halten, eröffnete die Denkfähigkeit des Homo sapiens rein theoretisch die Möglichkeit, gewisse Lebenszusammenhänge zu verstehen. Und so wie Roswitha es verstand, war völlig klar, dass Menschen, die Hunde und Katzen liebten, auch Schweine und Rinder lieben mussten, zumindest so lieben, dass sie ihnen nicht die Torturen der Massentierhaltung und der industriellen Schlachtung zumuten würden. Schließlich würden die sogenannten Tierliebhaber solche Prozeduren für treue Hunde und süße Kätzchen auch nicht gutheißen. Roswitha liebte Tiere und da sie in ihrem Leben gelernt hatte, eins und eins zusammenzuzählen, landeten in ihren Kochtöpfen keine Leichenteile, sondern ausschließlich Pflanzen. Sie war Österreicherin, sie lebte in einem der reichsten Länder der Welt, Wasser fiel in verschwenderischem Maße vom Himmel, im Sommer war es hell und warm, die Böden waren fruchtbar, Pflanzen, egal ob unscheinbare Kräuter auf der Wiese oder tausendjährige Linden auf sonnenhellen Bergflanken, gediehen in diesem Land prächtig, und wenn schon die klugen Primaten so wertvolle Pflanzen wie Kürbis, Bohne, Weizen und Soja domestiziert hatten, dann gab es wirklich keinen einzigen ihr einleuchtenden Grund, Tiere in gewaltige Konzentrationslager zu sperren und industriell zu massakrieren. Die Wildbeuter, die nach dem Abschmelzen der eiszeitlichen Gletscher in den Alpenraum eingewandert waren, mussten Hirsche, Wildschweine und Hasen jagen, damit ihre Familien nicht im nächsten Winter verhungerten, aber Europäer, die nach den Erkundungsreisen der Seefahrer über die besten und wertvollsten Nahrungspflanzen der gesamten Erde verfügten, waren, wenn sie sich von der Fleischindustrie massenhaft tote Tiere für ihre Bratpfannen aufschwatzen ließen, einfach nur ignorante Arschlöcher oder Hohlköpfe. Gelegentlich gelang es Roswitha, diese ihre Meinung nicht allzu unhöflich ihren Mitmenschen mitzuteilen, in der Regel hielt sie aber den Mund, denn sie hatte in den Jahren ihres Studiums und der Zeit in diversen Tierschutzgruppen gelernt, dass im Gegensatz zu ihrer Zurückhaltung die Menschen, die anderer Meinung waren als sie und es als ihr stammesgeschichtliches Recht erachteten, jederzeit nahrhafte Schnitzel zu essen, keinerlei Zurückhaltung kannten, sie als Spinnerin, Fanatikerin oder Idiotin zu bezeichnen. Die Arbeit bei den Infoständen in der Wiener Innenstadt hatte sie entmutigt, hatte sie fast verbittert, irgendwann war es ihr einfach unerträglich gewesen, sich als Studentin mit hervorragendem Notendurchschnitt von rüpelhaften Kerlen, die kaum ihre Namen buchstabieren konnten, oder von geistig kaputtparfümierten Hutschachteln, die ihre Schoßhündchen in der Fußgängerzone spazieren trugen, beflegelt zu werden. Sie hatte aus der Stadt unbedingt wieder raus müssen, zu viel Lärm, zu viel Gestank, zu viel konzentrierte menschliche Dummheit, kaum war ihr der Doktortitel verliehen worden, war sie zurück nach Leonstein gegangen, zurück in das an dieser Stelle weitläufige Steyrtal und zu den ringsum aufragenden dicht bewaldeten Bergen. Hier hatte sie wieder Luft zum Atmen gefunden.

„Was hast du gesagt?“, fragte Roswitha ihre Mutter und hielt in ihrer Arbeit inne.

Annemarie Gerstenbauer tippte auf den Artikel in der Zeitung und schaute dabei mit verstörendem Blick ihre Tochter an.

„In der Zeitung schreiben sie, dass jetzt die Schwarzen nach Europa schwimmen!“, ereiferte sich die Frau Mitte fünfzig. „Sie schreiben, dass jetzt immer mehr Asylanten kommen. Die kommen zu tausenden zu uns. Bald sieht man nur mehr Schwarze auf der Straße!“

Roswitha verzog säuerlich ihre Miene.

„Mama, siehst du hier irgendwo tausende Afrikaner? Vielleicht im Supermarkt? Oder im Wirtshaus? Die paar, die es auf diese felsige Insel bei Marokko schaffen, die also nicht von der Strömung fortgeschwemmt werden und ertrinken, werden von der spanischen Grenzpolizei aufgefangen und gleich wieder nach Afrika abgeschoben.“

Annemarie Gerstenbauers Hände zitterten vor Erregung.

„Aber wenn sie doch in der Zeitung schreiben, dass sie zu tausenden kommen!“

Roswitha zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder dem Kürbis. „Die Zeitungsfritzen schreiben sowieso nur Lügen oder Schwachsinn. Warum liest du immer wieder dieses idiotische Hetzblatt?“

Annemarie Gerstenbauer war vom Tonfall ihrer Tochter beleidigt. „Aber vorige Woche habe ich einen Schwarzen gesehen. Der hat mich sogar angeschaut.“

„Was hat er gemacht? Hat er Drogen verkauft? Waffen geschmuggelt? Hat er kleine Kinder entführt?“

„Nein, die Zeitung hat er verkauft.“

Roswitha ersparte sich jeden weiteren Kommentar, der nichts anderes als zusätzliche Aufregung ihrer hilflosen Mutter bewirken würde. Annemarie Gerstenbauer klappte die Zeitung zu, trank die Teetasse leer und erhob sich vom Küchentisch. Sie hatte schon den kleinen Disput mit ihrer Tochter vergessen und trat an das Fenster. Für eine Weile schaute sie nach draußen.

„Die sind tüchtig. Mit zwei solchen Knechten kann man arbeiten. Die sind tüchtig. Der Lukas war auch so ein tüchtiger Knecht. Immer hat er gearbeitet, immer fleißig, immer lustig. So war er halt, der Lukas. Tüchtig.“

Roswitha kannte die Geschichten von Lukas seit ihrer frühesten Kindheit. Er war der letzte Knecht auf dem Rosskogelhof gewesen, Annemarie Gerstenbauer hatte in ihren Kinderjahren den vierschrötigen alten Mann noch gekannt, als dieser trotz vielerlei rheumatischer Beschwerden ohne sich je zu schonen schwerste körperliche Arbeit verrichtet hatte, bis er eines Tages beim Holzschneiden zusammengebrochen und an einem Herzinfarkt verstorben war.

„Du, Rosi“, sagte Annemarie Gerstenbauer und trat mit schuldbewusster Miene auf ihre Tochter zu, „mir ist ein bisschen schwindelig. Ich lege mich für einen Moment aufs Ohr. Danach helfe ich dir eh beim Kochen, gell, nur ein paar Minuten.“

Roswitha nickte ihrer Mutter zu.

„Freilich, Mama, leg dich hin und ruhe dich aus. Wenn das Essen fertig ist, rufe ich dich.“

Obwohl Annemarie Gerstenbauer erst fünfundfünfzig Jahre alt war, schlich sie wie eine Achtzigjährige aus der Küche. Roswitha schaute ihr eine Weile hinterher.