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„Herr Sattler ist leider nicht im Haus.“

Christina schaute auf die Uhr. Es war mittlerweile knapp vor zwölf Uhr, der Steyrtalerhof war nur mäßig besucht, die meisten Gäste fanden sich abends zum Essen ein. Wilhelm und sie waren auch stets abends hier gewesen. Christina schaute sich im Restaurant um. Mittags wirkte das Ambiente angenehmer als abends, die großzügigen Fensterflächen ließen den hellen Spätsommertag in das Innere und die Geräuschkulisse eines Speiserestaurants lag dezent im Raum, die Stimmung wirkte entspannter und ruhiger als abends.

„Kommt er später?“

„Nein, heute nicht. Herr Sattler hat seinen freien Tag. An solchen Tagen stören wir Herrn Sattlers wohlverdiente Ruhe nur, wenn der Steyrtalerhof in lodernden Flammen steht, ein Sturm das Dach fortgerissen hat oder ein Stammgast einen tödlichen Herzinfarkt vor Zustellung der Rechnung erlitten hat.“

Christina kannte den Empfangschef des Steyrtalerhofes von ihren Besuchen hier. Der Mann hätte mit etwas gutem Willen als Conférencier im Varieté seine Brötchen verdienen können, er glänzte Tag um Tag mit höflichen und doch distanzierten Manieren und mit auffälliger Zungenfertigkeit. Sie schmunzelte.

„Darf ich für Sie auch in Abwesenheit unseres allseits verehrten Herrn Patron einen stilvollen Platz für das Mittagsmahl auswählen?“

Christina überlegte, ob sie etwas essen sollte, sie hatte außer Kaffee heute noch gar nichts zu sich genommen. Sie entschied sich schnell dagegen, der Kaffee und die Arbeit hatten ihren Magen in so miserable Stimmung versetzt, dass an eine geordnete Nahrungszufuhr derzeit nicht zu denken war. Sie wies sich aus.

„Besten Dank, aber ich bin im Dienst und ich habe es eilig.“

Der Chef de Rang warf die Augenbrauen in Wellen.

„Sie sind von der Kriminalpolizei?“

„Irgendeine Arbeit braucht der Mensch. Sagen Sie, waren Sie gestern bei der Abendgesellschaft von Herrn Felder hier?“

„Allerdings. Wenn Herr Felder seine Gäste zum Diner bittet, ist immer mit vollem Personaleinsatz zu rechnen.“

„Wann ist Herr Felder gekommen und wieder gegangen?“ „Er ist knapp vor sieben im Kreise seiner Gäste gekommen, hat den Abend genossen und ist ungefähr um halb zwölf, vielleicht knapp danach, als sich die Gesellschaft in Luft aufgelöst hat, wieder seiner Wege gegangen. Ach ja, er war auch am späten Nachmittag hier, aber das weiß ich nur vom Hörensagen, weil ich da noch nicht im Hause war.“

Christina überlegte.

„Ist Ihnen zufälligerweise ein Mann Mitte zwanzig mit mittellangem Haar aufgefallen, der mit Herrn Felder gesprochen hat? Das muss so gegen acht gewesen sein.“

„Zufälligerweise nicht, sondern planmäßig. Ein junger Mann, auf den die sehr ungefähre Beschreibung passt, ist um neunzehn Uhr fünfundfünfzig erschienen und hat sich als Benjamin Felder vorgestellt, hat aus meiner Hand ein Glas Schilcherol empfangen und dann an der hinteren Bar ein Weilchen gewartet, um sodann ein Gespräch mit seinem Herrn Papa zu führen. Herr Felder junior hat nach etwa zwanzig Minuten das Etablissement wieder verlassen.“

„Die Zeiten wissen Sie so genau?“

„Genau aus diesem Grund erhalte ich ein zwar nicht fürstliches, immerhin aber für ein halbwegs gedeihliches Auskommen ausreichendes Gehalt.“ Christina erwog kurz, ob der Mann ihr gegenüber sich nicht etwa an illegale psychoaktive Substanzen hielt, aber das war jetzt nicht ihr Fall, sie hatte andere Sorgen.

„Gab es im Verlauf des Abends irgendeine auffällige Begebenheit?“

Der Chef de Rang wiegte den Kopf.

„Unser Souschef hat sich mit Ruhm bekleckert und von den Gästen für ein bestens gelungenes Steirisches Wurzelfleisch Applaus empfangen, obwohl, wie mir zugetragen wurde, es zuvor diesbezüglich eine Dissonanz im Hause gegeben hat, in die Herr Felder involviert gewesen sein soll.“

Christina war gleich neugierig.

„Eine Dissonanz? Erzählen Sie mir davon.“

„Wie schon erwähnt, war ich bei Herrn Felders erstem Aufenthalt im Haus am Nachmittag noch nicht hier, ich berichte von der Begebenheit also nur aus Erzählungen. Unser Souschef hat es offenbar gewagt, Herrn Felder zu beleidigen, so dass es zu einem intensiven Wortwechsel gekommen sein soll, den Herr Felder, wie es nun seine Art und sein Recht als Inhaber des Restaurants ist, siegreich für sich entschieden hat. Herr Felder soll, so die Kunde, unserem Souschef einen Tritt in den Allerwertesten in Aussicht gestellt haben. Im Prinzip nichts Unübliches in gut geführten Küchen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, also eigentlich eine Kleinigkeit.“

Christina hörte zwar die Beschwichtigung, aber angesichts der Verfassung, in der sie frühmorgens Herbert Felder vorgefunden hatte, musste sie jede Kleinigkeit ernst nehmen.

„Wie heißt denn Ihr Souschef? Ist er im Haus?“

„Der Name ist Albrecht Kammerhofer. Er ist heute nicht im Haus, er hat auch seinen freien Tag.“

„Können Sie mir seine Adresse sagen?“

„Die Adresse weiß ich nicht auswendig, die müsste ich nachschlagen.“

„Wenn ich Sie darum bitten darf“, forderte Christina.

Der Chef de Rang rührte sich nicht von der Stelle und überlegte, ob er den Betrieb, eben traten einige Gäste zur Tür herein, auch nur für eine Minute alleine lassen konnte.

„Darf ich erfahren, warum Sie so hartnäckig Fragen stellen, Frau Inspektor?“

Christina maß den Mann kühl.

„Weil wir heute früh Herbert Felders Leiche gefunden haben.“

Die glatt polierte Oberfläche des Mannes wurde schlagartig brüchig, er schaute nervös um sich.

„Kommen Sie mit, Frau Inspektor.“