Sie stellte den Wagen ab, stieg aus und schaute sich um. Rund um sie lag eine Siedlung mit schmucken Einfamilienhäusern, gepflegten Gärten und voluminösen Familienautos unter solide gezimmerten Carports. Auch im Garten vor ihr stand ein solches Auto mit sechs Sitzen und großer Heckklappe. Daneben parkte ein Motorroller. Ein struppiger Hund trottete gemächlich zum Gartentor und musterte Christina. Der Hund war nicht mehr der Jüngste und er schien keinerlei Anwandlungen zu entwickeln, die fremde Frau vor dem Gartentor freudig anzubellen, grantig anzuknurren oder sonst irgendwie begrüßen oder verjagen zu wollen. Christina betätigte die Türklingel. Nicht die erste des heutigen Tages. Sie wartete.
Aschach also wieder, diesem Hügel hatte sie heute schon einen Besuch abgestattet. Lief sie im Kreis? Jetzt schon, wo doch ihre Ermittlungen gerade erst begonnen hatten? Christina hob den Blick zum Gipfel des Hügels. Die ausladende Villa der Felders prunkte im Sonnenlicht, der Garten zeigte sich im heranziehenden Herbst von seiner prächtigsten Seite, eine Gruppe junger Ahornbäume in leuchtendem Rot, drei beieinanderstehende, sich gelb verfärbende schlanke Birken, eine ausladende Buche und zwei hohe Fichten standen beim Haus. Malerisch, dachte Christina, sehr malerisch, ein schöner Anblick, und doch zeigte der Hügel auch ein soziales Gefälle im Dorfleben, oben die Herrschaftsvilla, unten die Häuser der kinderreichen Durchschnittsfamilien.
Christina betätigte erneut die Klingel. Der Hund stand regungslos und hielt sie unbeirrt im Blick. Die Haustür wurde geöffnet. Eine brünette Frau um die vierzig erschien im Türrahmen.
„Kommen Sie ruhig herein. Aznavour tut Ihnen nichts. Er ist zu faul, um jemanden zu beißen.“
Christina hörte schon in der ersten Silbe der Frau ihren französischen Akzent. Christina schmunzelte. Liebte der Hund Chansons oder schwärmte die Hundehalterin für den Großmeister französischer Musik? Sie öffnete die Gartentür und ging auf das Haus zu. Der Hund schnupperte kurz an Christinas Beinen, bewegte sich aber ansonsten nicht. Christina trat an die Frau heran und musterte sie. Sehr mütterlich, dachte Christina, ein attraktives Gesicht, sanfte Augen, kräftige Frauenhände, ein breites Becken, aufgekrempelte Ärmel. Telefonisch hatte sie sich bei der Herfahrt über die Familie Kammerhofer, wohnhaft in Aschach an der Steyr, Auskunft geben lassen. Sie wies sich aus.
„Mein Name ist Kayserling, Kriminalpolizei Steyr. Sind Sie Chantal Kammerhofer?“
„Oui.“
„Ist vielleicht Ihr Mann zuhause?“
„Oui. Kommen Sie doch herein.“
Chantal Kammerhofer ging voran. Christina trat in das Ambiente gedeihenden Familienlebens, Küchenduft, verstreute Kinderschuhe, eine übervolle Garderobe, laute Stimmen. Chantal führte Christina in den zentralen und größten Raum des Hauses, in die Wohnküche. Christina ließ ihren Blick schweifen. Ein jugendlicher Bursche, das musste wohl der dreizehnjährige älteste Spross der Familie sein, und ein pausbäckiges Mädchen im Vorschulalter, wohl das fünfjährige Nesthäkchen, standen nebeneinander, das Mädchen auf einem Sessel, und schälten Kartoffeln. Ein weiteres Mädchen, etwa zehnjährig, stand beim Esstisch und zerlegte auf einem großen Schneidebrett einen Chinakohl in schmale Streifen. Christina fiel auf, dass die Streifen außerordentlich präzise geschnitten waren. Ein Bub im höheren Volksschulalter stand neben seinem Vater am Herd und offenbar hatte er mit Neugier in die Pfanne geguckt. Christina fasste nun den Herrn des Hauses ins Auge. Ein Mann Mitte vierzig von kräftiger Statur, dass er einige Kilos um den Bauch trug, fiel bei seinen breiten Schultern, der betont männlichen Glatze und den hellwachen blauen Augen kaum auf. Er hatte offenbar gerade eben mit einem großen Küchenmesser irgendetwas von einem Schneidebrett in die Bratpfanne geschoben. Christina schaute genauer. Feingeschnittene Pilze. Heißes Fett in einer Fritteuse daneben verströmte wohlige Wärme.
„Albrecht, du hast Besuch“, sagte Chantal Kammerhofer und schnappte sich wieder das Gemüsemesser, um die von den Kindern geschälten Kartoffeln längs zu schneiden.
Albrecht machte eine säuerliche Miene.
„Guten Tag! Was wünschen Sie?“, fragte er hörbar über die Störung bei der Arbeit wenig erfreut.
„Guten Tag, Herr Kammerhofer, mein Name ist Kayserling, ich bin von der Kriminalpolizei. Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen ein paar Worte wechseln.“
„Ach ja, ein paar Worte unter vier Augen? Und inzwischen verbrennt hier alles! Das täte euch von der Polizei so passen, nicht wahr? Ich habe eine Stunde gearbeitet, diese Schwammerl zu säubern, und ich werde jetzt das Ragout zubereiten. Wenn nicht vor der Haustür ein Mensch verblutet oder das Nachbarhaus abbrennt, werde ich hier weitermachen.“
„Albrecht!“, ermahnte Chantal. „Entschuldigen Sie meinen Mann, Frau Inspektor, aber wenn er kocht, dann kocht er.“
Christina nickte der Dame des Hauses zu und verkniff sich ein Lächeln. Albrecht biss sich auf die Lippen.
„Äh, ja, entschuldigen Sie. Nehmen Sie doch Platz, trinken Sie etwas. Wollen Sie ein paar Pommes frites? Albert, serviere der Frau Inspektor ein Glas Apfelsaft. Oder lieber Wein? Cognac? Sind Sie im Dienst?“
„Ich bin im Dienst, Herr Kammerhofer, keinen Alkohol bitte.“
„Ach nicht? Ich dachte, echte Polizisten sind von frühmorgens bis spätabends besoffen, nur unterbrochen von den Zeiten, wo sie sich übergeben müssen. Also ich habe noch keinen Polizisten gesehen, der nicht pausenlos sternhagelvoll war, oder von Natur aus ein Rindvieh, so dass der Schnaps nicht notwendig war.“
„Albrecht!“, ermahnte Chantal ihren Mann erneut. „Es gibt keinen Grund, unhöflich zu sein!“
„Jajaja, Entschuldigung!“
Christina konnte es nicht verhindern, das zuvor verkniffene Schmunzeln rutschte nun doch in ihr Gesicht. Albert, der neunjährige Bursche, verließ seinen Platz am Herd, flitzte zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Apfelsaft heraus. Er schaute Christina fragend an, sie nickte ihm zustimmend zu und erhielt ein Glas naturtrüben Apfelsaft.
„Ich bin kein Polizist, Herr Kammerhofer, ich bin Polizistin“, konterte Christina mit spitzem Unterton.
Albrecht rührte die Pilze in der schweren Gusseisenpfanne.
„Habe ich ein Stoppschild überfahren? Oder falsch geparkt?“
„Ich bin nicht von der Verkehrspolizei, ich bin von der Kriminalpolizei. Da gibt es gewisse Unterschiede.“
Albrecht musterte Christina von der Seite.
„Der Bankraub letzte Woche, das war nicht ich. Sie haben leider die falsche Adresse aus dem Hut gezaubert!“
„Höre ich aus Ihren Worten eine gewisse Abneigung der Polizei gegenüber?“, stichelte Christina.
„Aber nein! In Paris haben wir einen treuen Stammgast gehabt, der meine Kochkünste immer hoch gelobt hat. Er war Chef des dortigen Kommissariats. Ein sehr freundlicher Mann, gab schönes Trinkgeld. Jetzt sitzt er wegen Korruption im Gefängnis.“
„Haben Sie getrunken, Herr Kammerhofer?“
„Ich bin immer so. Wenn ich trinke, schlafe ich ein.“ Die Kinder kicherten.
„Frau Inspektor, setzen Sie sich doch“, forderte Chantal auf.
Christina winkte freundlich lächelnd ab.
„Vielen Dank, Frau Kammerhofer, aber ich bleibe lieber stehen und schaue dem Meister bei der Arbeit zu.“
Und da tat Christina gut daran, denn Albrecht konzentrierte sich jetzt völlig auf den Herd. Aus dem linken Handgelenk bewegte er spielerisch die riesige Pfanne über der Gasflamme, Christina schätzte, dass sie beide Hände brauchen würde, um das gusseiserne Monstrum überhaupt anzuheben, mit der rechten Hand führte er gezielt den Kochlöffel. Der Duft von Wald nach einem Regenguss machte sich in der Küche breit. Zwischenzeitlich schwenkte er die Pommes frites in der Fritteuse. Er rührte vorsichtig das Pilzragout, schmeckte es ab, verfeinerte es mit einem Hauch Salz und gezählten sieben Kümmelsamen. Die Kinder plapperten beim Kartoffelschälen und Chinakohlzerschneiden über dies und das, lachten, schimpften, das jüngste Kind sang ein französisches Kinderlied. Christina stand einfach nur da, wartete und beobachtete. Albrecht reduzierte die Gasflamme unter der Gusseisenpfanne und wechselte die Füllung der Fritteuse. Neben dem Herd stand eine große Schüssel mit den im ersten Durchgang blassgelb frittierten Kartoffelstäbchen. Natürlich, hier wurden Pommes frites auf die einzig richtige Art und Weise, nämlich in zwei Durchgängen, zubereitet. Christina spürte ihren leeren Magen überdeutlich, ihr lief angesichts der Leckereien das Wasser im Mund zusammen. Schnell nahm sie einen Schluck Apfelsaft.
Albrecht trat einen Schritt vom Herd zurück und wischte sich die Hände an seiner Schürze ab.
„So, Albert, du brauchst jetzt das Ragout nur leicht rühren. Und mit der Fritteuse kannst du ja schon umgehen. Alles klar?“
„Oui, Papa“, bestätigte der junge Mann und übernahm den Kochlöffel.
„Ich glaube, ihr könnt dann aufhören“, sagte Albrecht zur Familiendelegation beim Kartoffelschälen. „Das wird genug sein.“
Albrecht wandte sich Christina zu.
„Nun zu Ihnen, Frau Inspektor.“
Christina stellte das geleerte Glas ab.
„Finde ich toll, dass Sie Pommes frites in Handarbeit herstellen“, meinte Christina.
„Selbstverständlich! Wer Pommes frites will …“
„ … der muss Erdäpfel schälen!“, riefen die Kinder unisono, wobei der älteste Sohn seine Augen verdrehte und die jüngste Tochter Christina die Zunge herausstreckte. Albrecht hob anerkennend den rechten Zeigefinger.
„So ist es! Ihr habt eure Lektion gelernt.“
Christina konnte ihr Amüsement kaum verbergen.
„Nun, viele Leute machen sich nicht die Arbeit, Erdäpfel zu schälen und zu schneiden, viele nehmen einfach Pommes frites aus dem Tiefkühlfach.“ Schlagartig lag Stille im Raum, alle Augen waren auf Christina gerichtet. Irritiert verfolgte sie, wie Albrecht sie mit glühenden Augen und allzu offensichtlich hochkochender Wut anstarrte. Er griff nach dem Küchenmesser.
„Das Zeug“, knurrte Albrecht düster, „diese vermatschte Kartoffelstärke mit chemischen Konservierungsmitteln und Geschmacksverstärkern, dieses industrielle Abfallprodukt, das zu Matsch zerstampft und in längliche Form gepresst wird, dieser Dreck aus dem Kühlfach der Menschenvergifter darf in diesem Haus, und diese Warnung spreche ich nur einmal und dann nie wieder aus, nicht mit dem Namen Pommes frites bezeichnet werden. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?“
Christina musterte den kräftigen Mann mit den bösen Augen und dem spitzen Messer in der Hand. Sollte sie ihm sicherheitshalber in den Oberschenkel schießen? Weil gefährlich sah er aus, allemal, er würde bei seiner Kraft und seiner Wut ihr mit nur einem Streich die Bauchdecke öffnen oder die Gurgel durchschneiden können. Christina sah in die erschrocken geöffneten Münder der Kinder. Diesmal gelang es ihr spielend leicht, ihr Schmunzeln zu verbergen. Sie lehnte sich lässig an die Mauer, verschränkte die Arme und blinzelte Albrecht an.
„Herr Kammerhofer, glauben Sie wirklich, dass es eine gute Idee ist, eine Kriminalpolizistin im Dienst mit einem Küchenmesser zu bedrohen? Wegen Pommes frites?“
Albrecht vergegenwärtigte sich die Situation, trippelte verlegen auf dem Stand und legte das Messer schnell zur Seite. Er schaute betreten um sich. Die Kinder lachten brüllend und Chantal schüttelte den Kopf.
„Äh … entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht … also, das ist mir jetzt peinlich.“
Christina kämpfte gegen den Impuls, die Schüssel mit den Pommes frites zu schnappen, fortzulaufen und sie auf einen Sitz zu verputzen.
„Das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein, Herr Kammerhofer, das ist wirklich nicht notwendig. Vielmehr wäre es nötig, dass Sie mir jetzt ein paar Minuten Ihrer kostbaren Zeit widmen. Es ist eigentlich sehr dringend.“
Albrecht nickte Chantal zu und wies Christina den Weg.
„Gehen wir in die Bibliothek.“