Christina zog den Autoschlüssel ab, packte ihre Siebensachen und stieg aus dem Wagen. Die Fahrertür klappte geräuschvoll zu, Christina stapfte energisch auf ihr Haus zu, hielt aber vor der Tür inne und lauschte um sich. Stille. Also zumindest weitgehend, in der Ferne war auch hier am Ortsrand von Molln immer irgendein Fahrzeug zu hören. Sie hörte den Vogelgesang, spürte das letzte kräftige Sonnenlicht am Ende des Tages und zu Beginn des Herbstes. Christina hatte das Haus in Molln vom ersten Anblick an in ihr Herz geschlossen. Der Garten mit den alten Obstbäumen, das gut restaurierte Haus samt Nebengebäuden, die ruhige Lage in der Nähe des Waldes und der Blick auf die Berge ringsum, alles hier sagte ihr zu. Die beiden, Wilhelm und Christina, hatten sich hier im Steyrtal, dreißig Kilometer von der Stadt Steyr entfernt, ein Refugium der Ruhe eingerichtet. Ihre Berufe waren hektisch genug, so dass sie in ihrem Wochenendhaus in Wirklichkeitsschichten tauchen konnten, in denen Termindruck, Fahndungen, Kostenkontrolle und behördlicher Papierkrieg keine Rolle spielten. Ein Großonkel Wilhelms hatte das Haus vor knapp fünfzig Jahren erbaut und Jahrzehnte dort mit seiner Familie gelebt, vor zehn Jahren hatte Wilhelm das Haus gekauft, vollständig sanieren und erweitern lassen. Wilhelm hatte darauf geachtet, die Bausubstanz des Hauses zu erhalten, er hatte nicht aus einem Einfamilienhaus eine protzige Villa geformt. Das Haus verfügte jetzt über eine erstklassige Wärmedämmung, über einen hochmodernen Pelletsofen, völlig erneuerte Sanitäranlagen, Sonnenkollektoren auf dem Dach und einen Regenwasserbehälter im Garten. Da das Ehepaar Kayserling das Haus nur am Wochenende und in der Urlaubszeit nutzte, war der Garten schlicht angelegt. Nicht Gemüse- oder Blumenbeete, vielmehr pflegeleichte Bäume und Sträucher bildeten das Pflanzenensemble. Dennoch blieb immer genug Arbeit in Haus und Garten, es gehörte zu den Ritualen dieser Ehe, gemeinsam im Herbst den Garten für den Winter vorzubereiten. Christina blickte zu den Bäumen mit ihrem sich bereits einfärbenden Laub. Samstagnachmittag Gartenarbeit, danach eine Tasse Tee, ein Bad, und abends auf der Couch faulenzen. Würde sie sich nach dem heutigen Tag auf diese Weise entspannen können? Würde sie die Wirklichkeitsschicht Gewaltverbrechen einfach von sich streifen können? Würde sie den Geruch und den Anblick der Fleischhalle aus ihrem Sinn kriegen? Würde sie über die Schwelle ihres Hauses treten und Mord und Tod und Blut und Verbrechen vor der Türe lassen können?
Eine Fahrradklingel schellte. Christina tauchte aus ihrer Grübelei hoch. Wilhelm näherte sich dem Haus, bremste und rollte die Einfahrt zur Garage hoch. Er stieg vom Fahrrad und musterte seine Frau. Er schwitzte und schnappte nach Atem.
„Hallo! Ich habe dein Auto schon gesehen. Deswegen bin ich das letzte Stück tüchtig in die Pedale gestiegen.“
„Und jetzt kriegst du kaum Luft, Sportskanone.“
„Kommst du erst jetzt aus dem Büro?“
„Leider ja.“
„Musst du am Ende heute noch fort?“, fragte Wilhelm mit sich ankündigender Entrüstung in der Stimme.
Christina winkte ab.
„Heute nicht mehr. Aber morgen bin ich wieder auf Achse.“
„Na dann, komm rein. Ich muss noch das Rad einschließen und im Schuppen ein paar Handgriffe erledigen. Hast du Hunger? Ich muss unter die Dusche. Gib mir eine halbe Stunde.“
Christina mochte es, wenn Wilhelm praktisch dachte und handelte, das hatte sie immer an ihm geschätzt, seinen klaren Blick auf das Nahe und Nützliche.
„Und wie! Ich habe den ganzen Tag nichts zu beißen gekriegt.“
„Ich habe eingekauft. Wie wäre es mit Paella?“, fragte er.
„Genau das Richtige. Ich koche!“
Wilhelm lächelte verschmitzt.
„Und ich esse!“