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„Gemütlich habt ihr es hier. Ruhige Lage, schöne Aussicht, guter Kaffee. Gefällt mir.“

Christina wandte den Blick von ihrem Bildschirm ab und schaute zu Friedel hinüber. Über zwei Stunden lang hatten die beiden schweigend in Christinas Büro gesessen und konzentriert gearbeitet, Friedel an seinem Notebook, Christina an ihrem Computer, Friedel in der Datenbank der Bernsteiner Fleischwaren AG und Christina in der Datenbank der Sicherheitsbehörde. Sie blickte auf die Uhr, dreizehn Uhr dreißig.

„Gibt’s hier in Steyr eine Dönerbude?“

Christina lehnte sich zurück. Auch sie spürte langsam ein Leeregefühl im Magen.

„Am Stadtplatz gibt es einen Würstelstand, der auch am Sonntag geöffnet hat.“

„Auch gut. Ich brauche nämlich langsam Nachschub für den Verdauungstrakt. Hungrig kann ich mich bei der Arbeit überhaupt nicht konzentrieren.“

Christina speicherte die Textdatei mit ihren Notizen.

„Ich kann Ihnen einen Apfel anbieten.“

„Apfel ist gut, wenn drumherum ein Strudel ist.“

Christina lächelte. Sie fand den jungen Kollegen aus Linz sympathisch. „Da ich den höheren Dienstgrad und das höhere Alter habe und wir in diesem Fall wohl noch öfter das Vergnügen haben werden, darf ich vorschlagen, wir lassen das förmliche Sie. Ich heiße Christina.“

„Friedel“, gab Friedel zurück, hob die Hand zum Gruß und lächelte.

„Hast du noch etwas gefunden?“

„Nichts Neues. Unser Betrüger war sehr vorsichtig.“

„Dafür habe ich die Lebensläufe der vier Schichtleiter gesichtet. Nichts Auffälliges dabei. Einer hat recht oft Strafmandate gekriegt. Temposünder und Falschparker. Ich hoffe, ich bekomme bald die Liste mit den Anrufen von Felders Handy.“

Die beiden hörten durch die offen stehende Tür Schritte im Gang. Raimund Brandstätter erschien im Türstock.

„Raimund! Was für eine Freude, dich zu sehen! Was verschafft mir die Ehre deines unerwarteten Besuchs?“

Raimund Brandstätter trat breit lächelnd ein und salutierte salopp, obwohl er in Zivilkleidung steckte.

„Guten Tag, Frau Inspektor. Der Friedel! Schau einer an. Grüß dich, Bub!“, rief Raimund, ging auf Friedel zu und schüttelte ihm die Hand. „Wie geht’s dir immer so?“

„Eh gut. Viel Arbeit halt.“

Raimund wandte sich Christina zu und hob ein Plastiksäckchen hoch. „Der Leberkäse verschafft dir die Ehre. Ich habe mir natürlich gedacht, dass du heute nicht im Garten sitzt und Kaffee und Kuchen zu dir nimmst, sondern im Büro, und ich habe mir weiters gedacht, dass du sicher noch nichts gegessen hast, und deswegen habe ich dir eine Leberkäsesemmel mitgebracht. Und für mich auch eine.“

„Raimund, du bist als Schatz unerreicht, aber ich glaube, ich werde bei meinem Apfel bleiben. Die Leberkäsesemmel wird aber garantiert nicht vergammeln, ich hätte da einen hungrigen Abnehmer. Setz dich doch zu uns.“

Christina deutete auf Friedel, der Raimund mit großen Augen zunickte. Raimund reichte die in Papier eingeschlagene Semmel an Friedel, setzte sich und packte die zweite Semmel aus.

„Und du bist sicher, dass du keine willst? Weil Christina, ich habe eh ein bisschen Reserve auf den Hüften, aber du bist ja so dünn.“

Christina winkte ab und biss herzhaft in ihren Apfel. Der Geruch von Leberkäse verbreitete sich in ihrem Büro.

„Ihr zwei kennt euch?“, fragte Christina die beiden mampfenden Polizisten.

Raimund nickte mit vollem Mund, schluckte und zeigte auf Friedel.

„Ich kenne ihn, seit er ungefähr diese Größe gehabt hat. Sein Vater war mein Vorgesetzter. Ich habe ja auch einmal in Linz gearbeitet. Ist schon länger her, zwanzig Jahre.“

„Ach so, dein Vater ist auch Polizist.“

„War“, antwortete Friedel und wischte sich an einer Serviette die Finger ab. „Seit zwei Jahren ist er in der Pension.“

„Wie geht’s dem alten Herren?“, fragte Raimund.

Friedel zerknüllte das Papier und warf es in den Mistkübel.

„Extrem gut. Meine Eltern fahren das halbe Jahr mit ihrem Wohnmobil durch Europa, die andere Hälfte sitzen sie im Garten, lesen Kriminalromane und spielen Canasta mit den Nachbarn. Papa bastelt an seiner Eisenbahnanlage und Mama strickt pausenlos. Braucht wer von euch ein Paar Wollsocken? Der Winter kommt, das kann ich euch versprechen.“

„Richte den beiden liebe Grüße von mir aus.“

„Werde ich machen.“

„Christina, du hast da einen Helden im Büro“, erklärte Raimund.

Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch.

„Einen Helden?“

„Allerdings.“

Friedel winkte ab.

„Nicht die alte Geschichte. Das ist ja schon gar nicht mehr wahr.“

„Ich liebe alte Geschichten“, flötete Christina und nickte Friedel auffordernd zu.

Friedel schaute an sich herab.

„Na ja, ich war im Tschad. Jägerkompanie. Denk dir ein paar Jahre und ein paar Kilo weg, eine Uniform und eine Stg 77 dazu. Das war ich.“ „Und da hat sich der Bub bewährt.“

Christina verschränkte die Arme und legte lauschend den Kopf schief. „Ich war bei drei Bergungseinsätzen in Darfur dabei. Lief immer gleich ab. Zivilisten sind von Dschandschawid-Milizen eingekesselt worden. Da sind wir mit Schützenpanzern und Lastern über die Grenze in den Sudan gefahren und haben so viele Frauen und Kinder rausgeholt, wie möglich war. Einmal sind die Milizen halt sehr nahe gekommen. Die reiten auf Kamelen, aber alle haben AK-47 und Munition ohne Ende. Ich habe sie mit der Stg 77 auf Distanz gehalten.“

„Dafür hat er eine Auszeichnung erhalten.“

Friedel zuckte mit den Schultern.

„Also in Wirklichkeit habe ich ein paar Magazine in den Sand gepfeffert, mehr nicht. Und die Dschandschawid haben auch eher Löcher in die Sahara geschossen, als wirklich einen Angriff ausgeführt. Wir haben zwei Schützenpanzer dabeigehabt, wenn die mit den Maschinengewehren geschossen hätten, wäre es für die Kamele weitgehend unangenehm geworden, deswegen sind die auf Distanz geblieben. Alles in allem ein Geplänkel auf Kosten der österreichischen Steuerzahler.“

„Und jetzt sitzt du vor Polizeicomputern“, stellte Christina fest.

„Hat sich halt so ergeben. Nach dem Bundesheer habe ich mir gesagt, nie wieder eine Uniform. Da habe ich Informatik studiert. Na ja, als Student war ich eher so lala, aber ich habe das Studium abgeschlossen. Und dann habe ich das Jobangebot von der Polizei gekriegt, sicherer Job, Dienststelle in Linz, meine Eltern haben mir pausenlos zugeredet und als dann Vesna auch gesagt hat, ich soll den Job annehmen, bin ich halt zur Polizei gegangen. Und brauche keine Uniform zu tragen, muss mir die Haare nicht schneiden und das Piercing stört zwar meinen Chef, aber mich stört seine Störung überhaupt nicht.“

„Vesna? Ist das deine Partnerin?“

„Yepp. Bosnierin, aber seit der Kindheit mit ihren Eltern in Linz. Sie arbeitet in der Bewährungshilfe.“

Christina wiegte den Kopf. Ihre Sympathie dem jungen Mann gegenüber war durch die Geschichte definitiv gewachsen. Einmal kein strammer Bürstenschnitt mit treudeutschen Ansichten und Lebensweisen im Polizeinachwuchs, das fand Christina gut.

„Raimund, darf ich dir etwas zu trinken anbieten?“

„Ein Glas Wasser bitte. Weil, ein Bier habe ich heute schon getrunken. Will ja nicht alkoholisiert ins nächste Planquadrat rasseln.“

„Warst du nach der Messe beim Kirchenwirt?“

„Ich war nicht bei mir zuhause beim Kirchenwirt, sondern in Sierning. Und ich habe mich da ein bisschen umgehört.“

Sofort spitzte Christina die Ohren. Sie hatte Raimunds Recherchearbeit zu schätzen gelernt. Der etwas korpulente, gemütlich wirkende Dorfpolizist Anfang fünfzig war, was seine Ermittlungsmethoden betraf, das diametrale Gegenteil von Friedel, der eine fahndete auf der Datenautobahn, der andere ließ sich allerlei Geschichten in der Dorfschänke, im Supermarkt oder bei der Gartenarbeit erzählen. Christina servierte das Glas Wasser und setzte sich wieder auf ihren Schreibtischstuhl.

„Was hört man so im Wirtshaus?“

Raimund nahm einen tüchtigen Schluck.

„Man hört zum Beispiel, dass manche Mitmenschen gar nicht sonderlich über den tragischen Tod von Herbert Felder traurig sind, man hört zum Beispiel, dass sich sogar der eine oder andere die Hände reibt und dem Mann alles Schlechte in der Hölle wünscht, und man hört zum Beispiel, dass manche Leute hoffen, dass derjenige, der das gemacht hat, der also Felder vom Leben in den Tod befördert hat, von der Polizei nicht erwischt wird.“

Christina drehte einen Bleistift in ihrer rechten Hand.

„Das klingt jetzt nach einem recht geselligen Vormittag im Kreise der hiesigen Landbevölkerung.“

„So ist es, gesellig muss man sein, dann kriegt man von den Leuten Antworten auf die Fragen, die man gar nicht zu stellen braucht.“

„Ich stelle aber Fragen, lieber Raimund, und ich frage mich, warum das so ist, warum manche Leute sauer auf Herbert Felder waren.“

Raimund verschränkte seine Finger.

„Es liegt wohl daran, dass Felder kein sehr freundlicher Zeitgenosse gewesen sein muss. Er hat sich viele Feinde gemacht, allerdings war er so schlau, an jedem neu hinzugewonnenen Feind viel Geld verdient zu haben. Und wer viel Geld hat, hat vielleicht viele Feinde, aber auch viele Freunde. Politiker zum Beispiel, Politiker sind gerne die Freunde von Männern mit viel Geld, egal ob die Leute mit Geld Gangster oder Obergangster sind. Seine Feinde kommen durchwegs aus einem anderen Gewerbe. Ich habe heute im Wirtshaus unter anderem einen ehemals selbständigen Fleischermeister getroffen, der keine sehr freundlichen Worte für Felder übrig gehabt hat.“

„Hat er ihn über den Tisch gezogen?“

„Schlimmer, er hat ihn systematisch ruiniert. So ist Felders Firma groß geworden. Er hat seit mindestens zwei Jahrzehnten planmäßig in allen größeren Dörfern oder Kleinstädten, wo es noch selbständige Fleischereien gegeben hat, Verkaufsfilialen der Bernsteiner Fleischwaren AG eröffnet und einen Preiskrieg angezettelt. Nach zwei, drei Jahren sind dann die selbständigen Fleischer in den Konkurs geschlittert, und nach noch einmal zwei, drei Jahren hat er die in der Regel nicht sehr profitablen Filialen geschlossen. Die Leute waren damit gezwungen, ihren Sonntagsbraten im Supermarkt zu kaufen. Und mit den Supermärkten hat er inzwischen profitable Lieferverträge geschlossen. Felder hat ganz bewusst und gezielt die Zerstörung kleinräumiger Infrastruktur betrieben. Schneller, größer, billiger, damit hat er Erfolg gehabt.“

„Na gut, aber das ist kein Phänomen, das auf die Fleischereien alleine zutrifft. Im Einzelhandel ist generell ein Trend zu großen Konzernen festzustellen. Das ist in der Bekleidungsbranche so, im Buchhandel, in allen Formen des Lebensmittelhandels. Die Milchfrau und den Gemüsehändler von nebenan gibt es auch nicht mehr, sondern nur mehr Supermärkte.“

„Ja, schon, aber Felder hat sich bei seinen Geschäftspraktiken nicht immer eleganter Methoden bedient. Der Mann, mit dem ich heute geplaudert habe, schwört Stein und Bein, dass Felder ihn gezielt attackiert hat.“ „Attackiert? Wie soll ich das verstehen?“

„Es ist eine Geschichte, Christina, es gibt keine Beweise, und die Sache ist fünfzehn Jahre her. Eine Geschichte. Der ehemalige Fleischhauer behauptet, dass Felder genau gewusst hat, wann im Betrieb des Mannes die Lebensmittelaufsicht eine unangekündigte Inspektion durchführen wollte. In der Nacht vor der Inspektion hat Felder Käfer im Lager- und Verkaufsraum ausgesetzt. Also natürlich nicht er persönlich, sondern irgendein kleiner Windbeutel hat sich ein paar Scheine damit verdient. Der Fleischer behauptet, dass in all den Jahren seiner Tätigkeit niemals Käfer in seinem Betrieb vorgekommen sind, und plötzlich über Nacht waren welche da. Die Lebensmittelaufsicht hat die Fleischerei natürlich bis zur Lösung des Käferproblems schließen müssen. Der Laden hat nie wieder geöffnet, weil der Fleischermeister durch den Preiskrieg ohnedies schon finanziell angeschlagen war. Solche Dinge hört man. Überhaupt soll Felder legendär gute Beziehungen zu manchen Verantwortlichen der Lebensmittelaufsicht gehabt haben. Seine Firma ist mehrmals in den Fokus der Kontrollore gekommen, aber es ist niemals ein Verfahren gegen ihn eröffnet worden.“

„Also das Lagerhaus ist praktisch klinisch sauber“, warf Christina ein.

„Glaube ich nicht, dass es da hygienische Probleme gibt.“

„Weniger die Hygiene ist das Problem, die kriegt man recht leicht in den Griff. Im Wirtshaus munkelt man, dass Felder wiederholt qualitativ schlechte Ware mit gefälschten Gutachten als Vorzugsware verkauft hat. Und angeblich nicht nur das eine oder andere Mal, sondern im großen Stil. Das brachte ihm richtig fette Profite. Schau mich nicht so grantig an, Christina, ich gebe nur wieder, was ich gehört habe.“

Christina winkte ab.

„Ich bin nicht auf dich grantig, sondern auf die Geschäftemacher im Allgemeinen, die ihre Macht und ihr Geld mehren, indem sie die Leute verarschen.“

Raimund Brandstätter zuckte mit den Schultern.

„Entschuldige jetzt, aber darüber kann ich mich nicht mehr aufregen. Die einen Menschen sind Gangster und Ganoven, die anderen sind die Trottel. Ich zum Beispiel bin ein Trottel. Was glaubst du, woher der Leberkäse stammt, den ich vor ein paar Minuten gegessen habe? Wahrscheinlich aus dem Lagerhaus der Bernsteiner Fleischwaren AG. Wenn du nicht mehr der Trottel vom Dienst sein willst, bleibt dir praktisch nichts anderes übrig, als zu den Erdenkindern nach Dürnfeld zu ziehen.“

Christina schaute eine Weile zum Fenster hinaus.

„Deine philosophischen Überlegungen in allen Ehren, lieber Raimund, aber dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich muss einen Mörder fassen.“

„Und wenn es eine Mörderin ist?“, fragte Friedel Holzmann.

Christina erwog die Frage. War einer Frau eine solche Tat zuzutrauen?

Konnte eine Frau im Leitstandbüro einen Fahrbefehl erteilen und einen Schlüssel in einem Steuerungskasten anstecken? Definitiv. Frauen erschlugen in der Regel ihre Opfer nicht mit der Axt, ein solches Verbrechen war eher Männern zuzutrauen, aber auf einen Button drücken und einen Schlüssel umlegen konnte auch eine Frau.

„Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als genau diese Frage zu beantworten.“