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Christina hielt den Zeigefinger auf die Taste gedrückt. Niemand meldete sich über die Gegensprechanlage. Sie wartete noch ein Weilchen, betätigte zum wiederholten Male die Klingel, trat aber gleichzeitig zwei Schritte zurück. Ein weiterer Wagen rollte heran, ein Streifenwagen. Vier Polizeiautos parkten nun vor dem Portal der Villa, der Streifenwagen, aus dem gerade eben Raimund in Uniform und zwei seiner Mitarbeiter von der Wachstube ausstiegen, zwei Mannschaftsbusse der Bundespolizeidirektion und ihr schwarzer VW Golf.

„Grüß euch, Leuteln!“, rief Raimund der ganzen Gruppe entgegen, hob die Hand und trat auf Christina zu. „Danke, dass du noch auf uns gewartet hast.“

Christina nickte Raimund zu, ihre Miene verriet Anspannung.

„Du bist sehr flott in die Uniform gehüpft.“

„Die Party will ich mir nicht entgehen lassen.“

„Sag deinen Leuten, sie sollen die Straße und den Garten sichern. Wir gehen jetzt rein.“

„Und du, Friedel, bist du gar nicht nach Linz zurückgefahren?“, fragte Raimund den jungen Kollegen, der hinter Christina stand.

„Ich war noch nie bei einer Hausdurchsuchung dabei. In der Ausbildung haben wir das ja durchgemacht, aber live ist das schon cool. Christina war einverstanden, dass ich mitkomme.“

Christina wandte sich Friedel zu.

„Du bleibst im Hintergrund, schaust zu und lernst. Und versau uns ja keine Hinweise oder Spuren, okay?“

„Ayay, Frau Kapitän.“

Christina zog aus ihrer Handtasche Herbert Felders Schlüsselbund, den sie nach der daktyloskopischen Untersuchung aus dem Polizeilabor erhalten hatte, und steckte den passenden in das Schlüsselloch an der Steuerungskonsole neben dem schweren Einfahrtstor. Die Elektromotoren brummten, das Tor öffnete sich. Zehn Polizisten schwärmten im Garten aus oder marschierten auf das Haus zu, zwei weitere, die Streifenpolizisten aus dem Bezirk, postierten sich auf der Straße. Christina klopfte noch einmal laut an die Tür, steckte aber ohne lange zu warten den Haustorschlüssel an und schubste die Tür auf. Die Kolleginnen und Kollegen huschten an ihr vorbei in das Haus.

„Die Dame des Hauses scheint nicht zuhause zu sein“, bemerkte Raimund. „Zumindest hat sie uns nicht die Tür geöffnet. Aber wir werden es gleich erfahren, ob jemand zuhause ist.“

„Ich mache mich nützlich“, sagte Raimund und streifte sich Gummihandschuhe über. „Friedel, du kommst mit mir.“

Die zwei Männer traten in das Haus. Mit einigem Abstand folgte Christina als Letzte. Gingen ihre Kolleginnen und Kollegen methodisch vor, um nach irgendwelchen Hinweisen zu suchen, so ließ sich Christina einfach durch das Innere des großen Hauses treiben. So viele Räume für nur zwei Bewohner. Christina versuchte zu verstehen, wie Herbert Felder gelebt hatte, versuchte durch seine Augen das Haus zu sehen, versuchte anhand von Teppichen auf dem Boden, Bildern an der Wand, Möbelstücken im Raum, Vorhängen vor den Fenstern zu erraten, wie es den Menschen in diesem Haus in den letzten Jahren, Monaten, Tagen ergangen ist. Hatte es oft Streit gegeben? Eifersucht? Verzweiflung? Hatte das ungleiche Ehepaar Felder eine gute Ehe geführt? Oder war von einer Ehe gar nicht mehr die Rede? Hassten sich die beiden Menschen gar? Oder liebten sie sich stabil und ehrlich? Schon als Kind hatte sie viel in Räumen über die darin lebenden Menschen erfahren, über deren Stimmungen und Sehnsüchte, über deren Ängste und Verletzungen. Sie hatte sich diese kindliche Fähigkeit einigermaßen erhalten, dachte sie zumindest, aber in diesem Haus erahnte sie nichts. Davon war sie irritiert.

Sie war in den hinteren Teil des Hauses gekommen und fand sich plötzlich in einem karg und doch stilvoll eingerichteten Atelier. Nordfenster sorgten für beständige Lichtverhältnisse, eine große Staffelei war mitten im Raum platziert, ein massiger Schrank neben einem eleganten Kanapee, mehrere Stehlampen und Scheinwerfer auf Stativen, einige Regale und ein die volle Breite des Raumes ausfüllender Arbeitstisch an der Hinterwand möblierten den Raum. Christina trat an den Arbeitstisch heran, auf dem ein Stapel großer Mappen lag. Sie zählte vierzehn Mappen. Jede einzelne enthielt eine Vielzahl an Zeichenblättern. Christina hob die oberste Mappe vom Stapel, legte diese auf den Arbeitstisch, öffnete das Band und klappte die Mappe auf. Sie schätzte, dass sich etwa zwanzig Zeichenblätter in der Mappe befanden. Christina betrachtete das erste Bild. Die Kohlezeichnung eines Berges. Christina vertiefte sich in das Bild. Zweifelsfrei verfügte Selma Felder nicht nur über erstaunliche Handfertigkeit, sondern auch über die Fähigkeit, mit einigen Kohlestrichen Stimmungen zu vermitteln. Ein äußerst schlichtes Bild, keine Farben, nur schwarze Kohle auf weißem Papier, reduzierte Strukturen, beinahe schroffe Linien, keinerlei dekorative Elemente, nur die felsige Höhenlinie eines Berges. War das nicht der Hohe Nock? Natürlich! Christina lachte auf. Es war der Hohe Nock, der höchste Gipfel des Sengsengebirges, ein Gipfel, auf dem sie selbst dreimal schon gestanden und den Ausblick genossen hatte. Christina blätterte weiter und fand in der Zeichentechnik identische Bilder vor, Kohlezeichnungen von Berggipfeln oder Felsformationen. Auch die zweite Mappe enthielt ausschließlich Zeichnungen dieser Art. Eine ganze Weile grub sich Christina in den Fundus von Bildern, neugierig, fasziniert, überrascht. Vierzehn Mappen mit je zwanzig Bildern, Selma Felder hatte offensichtlich ihren künstlerischen Stil gefunden, und sie arbeitete fleißig. Christina war irritiert. War sie von diesem Werk begeistert oder verängstigt? Unklar. Sie schaute sich noch einmal im Atelier um und verstand, warum sie zuvor beim Rundgang keinen Eindruck von den Lebenssituationen der in diesem Haus lebenden Menschen gewonnen hatte. Es war die Ausstrahlung von Selma Felder, die keinen eindeutigen Eindruck in ihr verursachte, die in Christina gespaltene Gefühle und undeutliche Gedanken hervorrief. Wo war Selma? In ihrem Haus war sie in jedem Fall nicht.

Christina nahm ihr Telefon zur Hand. Zuvor hatte sie schon dreimal Selma Felders Nummer gewählt, doch deren Telefon war ausgeschaltet gewesen. Christina unternahm einen weiteren Versuch, doch das Resultat war das gleiche.

„Frau Abteilungsinspektor?“

Christina erschrak ein wenig über die unvermittelt auftauchende Stimme. Sie wandte sich dem Kollegen zu.

„Kommen Sie bitte mal. Das sollten Sie sehen.“

Christina ließ ihr Telefon in der Handtasche verschwinden und folgte dem Polizisten. Sie kamen in einen Raum, den Christina bei dem Rundgang, den Selma Felder und sie am gestrigen Tag gemeinsam unternommen hatten, nicht betreten hatte. An der Tür standen ein paar Kolleginnen und Kollegen und schauten in den Raum, Christina drängte sich an ihnen vorbei. Raimund Brandstätter stand inmitten des halbdunklen Raumes und hielt seine Hände in die Hüften gestemmt. Christina ließ ihren Blick schweifen. Diesmal waren die Eindrücke, die der Raum in ihr hervorrief, eindeutig.

„So etwas Ähnliches habe ich schon mal gesehen“, brummte Raimund.

„In einem Luxusbordell.“

„Ja, so schaut es hier aus.“

Ein riesiges, von einer Serie von Spiegeln umrahmtes Bett stand an einem Ende, mehrere Stative für Scheinwerfer und Paravents waren neben dem Bett aufgereiht, ein Schminktisch mit Spiegel befand sich neben einem breiten Kleiderschrank. Eine junge Polizistin hatte den Kleiderschrank geöffnet und stand davor, Christina trat neben sie und nahm die gelagerte Kleidung in Augenschein.

„Ich tippe auf Pornofilme“, sagte die junge Polizistin angesichts der umfangreichen Sammlung von Dessous, Seidenwäsche, Lack- und Lederkostümen und der sorgfältig sortierten Sexspielzeuge.

„Naheliegend“, meinte Christina.

„Das könnte interessant sein“, sagte die Polizistin, zog einen Alukoffer hervor und klappte ihn auf.

Christina beugte sich über den Koffer, in dem sich gezählte dreiundvierzig mit Datumsangaben beschriftete DVDs befanden. Christina wandte sich ihrem Team zu.

„Wir nehmen die Datenträger mit. Auch Felders Computer. Ich brauche alle verfügbaren Aufzeichnungen der Videoüberwachungsanlage. Bitte weitermachen!“

Die Polizisten machten sich wieder an ihre Arbeit. Christina trat an Raimund und Friedel heran

„Kannst du dir den Computer von Felder so schnell wie möglich vornehmen. Ich will alles auffällige Material sichten.“

„Na klar!“, beeilte sich Friedel zu sagen und sauste los.

Christina stand neben Raimund, die beiden blickten auf das riesige Bett. „Und, was hältst du davon?“, fragte Christina.

Raimund schnaufte.

„Na ja, Herbert Felder hat offenbar sein Hobby recht gerne betrieben und keine Kosten gescheut.“

Christina wandte sich ab und verließ den Raum, gefolgt von Raimund.

„Ich hasse es, den Leuten unter die Bettdecke zu schauen“, sagte sie. „Da kommt selten etwas Gutes dabei raus.“

„Geht mir ähnlich.“

„In jedem Fall müssen wir Selma Felder finden. Ich gebe eine Suchmeldung raus.“

„Wird nötig sein.“