„Entschuldige, aber ich kann mir das nicht länger ansehen“, ächzte Raimund und schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück. „Echt, tut mir leid, aber das geht nicht.“
Christina griff zur Fernbedienung und stoppte die Filmvorführung.
„Na ja, ich bin auch ganz durcheinander.“
Mit säuerlicher Miene setzte Raimund seine Dienstmütze auf.
„Ich bin weder homosexuell noch ein heiliger Eremit in der höchsten Spielklasse der Weltentsagung, diese Filme wirken bei mir. Tut mir leid, aber wenn ich jetzt nicht sofort an die frische Luft komme und meine Arbeit erledige, kann ich für nichts garantieren.“
Ein vergeblich bemüht keckes, weil nämlich reichlich verstörtes Lächeln blitzte für einen Moment in Raimunds Miene auf. Christina legte die Fernsteuerung des DVD-Players zur Seite und schaute den einzigen Mann im Polizeidienst an, den sie nicht nur einen Kollegen, sondern auch einen Freund nennen würde. Nur deswegen, weil die beiden einander so gut verstanden, arbeiteten sie immer wieder eng zusammen, auch wenn sie in anderen Dienstbereichen tätig waren. Raimund hatte als Leiter einer Wachstube auf dem Land wenig mit der kriminalistischen Arbeit Christinas zu tun, half ihr aber immer wieder bei den kniffligen Fällen, sie hingegen erledigte manches für ihn, was auch nicht in ihren Dienstvorschriften festgeschrieben stand.
„Ich habe sie getroffen, Raimund. Das da“, sagte Christina und zeigte auf den mittlerweile schwarzen Fernsehschirm, „passt überhaupt nicht zu der Frau, mit der ich gesprochen habe und die einen Nervenzusammenbruch erlitten hat, als ich ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht habe.“
Raimund zuckte mit den Schultern.
„Wie auch immer. In jedem Fall ist sie als Schauspielerin ein Champion. Ich bin ja wirklich kein Grünschnabel mehr und ich habe schon so allerlei gesehen und gehört, deswegen meine ich, diese Selma Felder könnte Karriere als Pornoqueen machen. Ich glaube, ich brauche jetzt einen doppelten Obstler, damit ich die Bilder halbwegs aus dem Kopf kriege. Oder vielleicht sogar einen vierfachen Doppelten. Servus, ich muss los.“
Christina hob zum Abschied die Hand. Sie schaute zum Fenster hinaus, sinnierend, grübelnd. Wie passten die lasziven Tänze in Dessous, die knalligen Auftritte in Lack und Leder, die in Nahaufnahmen gefilmten Spiele mit Dildos, die obsessiv gezeigte Sexualität bei den auf Video festgehaltenen Kopulationen mit ihrem Ehemann zu einer Frau mit so sanftmütigen Augen, so verletzlicher Stimme, so brüchigem Selbstbewusstsein? Zeigte sich auf diese Art die bipolare Persönlichkeitsstörung der Frau? Christina hatte die Aussage von Benjamin Felder natürlich überprüft und wusste, dass Selma Felder in jüngeren Jahren, während ihres Studiums an der Akademie der bildenden Künste, im Psychiatrischen Krankenhaus Wien und zwei Jahre später im Linzer Wagner-Jauregg-Spital jeweils mehrere Wochen stationär untergebracht gewesen war. Hyperaktive, ja fast schon nymphomane Sexualität auf der einen Seite, scheue Zurückgezogenheit und Zeichnungen von Felsformationen in Schwarzweiß auf der anderen Seite. Eine zerrissene Frau. Und Herbert Felder hatte dutzende Videos von ihr angelegt, hatte sich an ihrer Bloßstellung ergötzt, hatte mit fast dokumentarischer Genauigkeit und, wie Christina empfand, in perversem Voyeurismus die Exzesse seiner Gattin festgehalten, daran teilgenommen, sich möglicherweise in ihren depressiven Phasen mit den Filmen Ablenkung beschert. Natürlich, warum sonst hätte er so viel Filmmaterial angehäuft? Jetzt auch, nach Ansicht einiger der Filme, verstand Christina ihre unklaren Empfindungen in diesem Haus, das wohl mit Herbert Felders Geld gebaut, aber von Selma Felders Geist eingerichtet worden war. Alles in diesem Haus schien zwei Gesichter zu haben, zwischen schier unvermittelbaren Extremen zu oszillieren.
Christina erhob sich und packte die DVD in den Alukoffer zurück. Natürlich waren diese Datenträger das Privateigentum der Frau und mussten früher oder später wieder an diese zurückgegeben werden, denn in einem war sich Christina vollkommen sicher, darin nämlich, vollkommen unsicher zu sein, ob das Intimleben des Ehepaares Felder irgendetwas mit dem Tod des Mannes im Kühllager zu tun hatte. Sie wusste es nicht, sie würde weitersuchen müssen, würde weiter alle möglichen und unmöglichen Anhaltspunkte überprüfen müssen, würde nicht aufhören können, Steine umzudrehen, um nachzusehen, ob sich darunter fleißige Ameisen oder ekelhafte Maden verbargen. Hier der zerrissene Körper eines Mannes, dort die zerrissene Seele einer Frau. Gab es eine kriminalistisch relevante Kausalität zwischen den beiden Sachverhalten? Christina hatte keine Ahnung.
Es klopfte an der seit Raimunds Abgang offen stehenden Tür. Christina wandte sich vom Fenster ab und dem Kollegen im Türstock zu. Der Mann winkte mit einem Papier.
„Du, Christina, hier habe ich die Anrufliste von Felder. Drei Nummern sind bis jetzt noch nicht zugeordnet, alle anderen Namen stehen auf der Liste.“
Christina eilte auf den Kollegen zu und nahm die Liste in Empfang.
„Endlich! Vielen Dank! Damit kann ich sinnvoll weiterarbeiten.“
„Eines noch.“
„Ja?“
„Ich habe herausgekriegt, wo sich Selma Felder aufhält.“
„Spitze! Und wo ist sie?“
„Im Sanatorium Bergfriede in Bad Gastein. Sie ist gestern Nachmittag dort aufgetaucht und hat ein Zimmer bezogen. Ich habe angerufen und gehört, dass sie absolut nicht zu sprechen ist, dass sie eine ernstzunehmende depressive Krise durchleidet und mit dem vollen Programm an Psychopharmaka abgefüllt worden ist. Habe denen gesagt, dass sie die Frau nicht fortgehen lassen dürfen, aber wie mir versichert worden ist, kann Selma Felder in ihrem Zustand sowieso nirgendwohin gehen. Zur Sicherheit habe ich die Salzburger Kollegen benachrichtigt, die werden ein Auge auf sie werfen.“
Christina nickte zufrieden.
„Gut gemacht! Die Frau darf uns nicht wieder entwischen. Danke!“
„Kein Problem.“
Christina schnappte den Alukoffer und marschierte in ihr Büro. Viel Arbeit wartete auf sie, und es gab keinen Grund, diese auf die lange Bank zu schieben.