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Sie stemmte sich gegen das Tor und trat in die Halle. Anders als am Wochenende wurde sie von Lärm und Bewegung empfangen. Strömungsmaschinen, Elektromotoren und Kühlaggregate sorgten für die Geräuschkulisse, auf der Förderanlage sausten rote Kunststoffwannen, ein Gabelstapler rollte mit einer Ladung sorgsam aufgeschlichteter Leerpaletten an ihr vorbei. Der Staplerfahrer warf einen düsteren Blick auf Christina, rollte an ihr vorbei und hob die Paletten auf einen hohen Stapel vieler weiterer Paletten am Rande der Halle. Sie marschierte zielgerichtet auf Gang E zu, stellte sich an das Gitter und zog wegen der Kälte den Kragen ihrer Jacke hoch. Immer wieder hatte sie den Erzählungen von Wilhelm gelauscht, wenn er über die Geschäftsprozesse in Logistikanlagen, wenn er über die Leistungskapazitäten von Maschinen, wenn er von den Umschlagszahlen in Lagerhäusern gesprochen hatte, hier nun konnte sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Arbeit eines Regalbediengeräts beobachten. RBG E, ein mehrere Tonnen schwerer Stahlkoloss, sauste scheinbar mühelos in die Tiefe der Gasse, kehrte wieder zurück, sauste erneut in die Tiefe und kehrte ohne Pause mit zwei Behältern auf der Gabel wieder zurück. Sie fand es eindrucksvoll, dass dieser komplexe Mechanismus unsichtbaren Gesetzen scheinbar ruhelos folgte, Ware verschwand im Regal, Ware tauchte aus dem Regal wieder auf, und die Ware waren die Teile zerlegter Tiere oder Produkte, die aus nämlichen Teilen gefertigt worden waren. Ein Ringelspiel mit kaltem Fleisch.

„Grüß Gott, Frau Inspektor.“

Christina drehte sich um.

„Guten Tag, Herr Anzengruber.“

Sie ging auf den Mann zu, der sie, gegen den Lärm anrufend, begrüßt hatte. Auch sie hatte rufen müssen, um im Lautstärkenpegel des normalen Lagerbetriebs hörbar zu sein.

„Bei uns läuft es wieder.“

„Das sehe ich.“

„Wollen Sie zu mir?“

„Ja.“

Gernot Anzengruber winkte Christina.

„Kommen Sie, gehen wir in mein Büro.“

Die beiden durchquerten die Lagerhalle, kamen zum Leitstand, in dem nun drei Männer in weißen Overalls vor den Computern saßen und Christina scheel musterten. Gernot Anzengruber führte Christina in die kleine Koje des Lagerleiters. Er warf die Tür hinter sich zu. Die überraschende Abwesenheit des Maschinenlärms umgab sie.

„Wollen Sie einen Becher Kaffee?“

„Nein danke, ich habe heute schon genug Kaffee für die ganze Woche getrunken.“

Die beiden setzten sich. Christina fasste den Mann Ende vierzig scharf ins Auge.

„Herr Anzengruber, wie ist denn die Stimmung in der Belegschaft?“

Anzengruber zeigte eine leidende Miene. Der Mann wirkte übermüdet, kraftlos, gestresst.

„Mies, ganz mies. Die meisten haben in den Nachrichten vom Mord gehört. Ich bin seit fünf Uhr früh im Lager und mache nichts anderes, als das Tagesgeschäft halbwegs in Schwung zu halten.“

„Das kann ich verstehen“, nickte Christina mitfühlend und versuchte den Redefluss des Mannes halbwegs liquide zu halten.

„Um zwei Uhr am Nachmittag gibt es eine Betriebsversammlung, da sind die Leute von der Frühschicht noch da und die Spätschicht ist auch schon im Haus. Herr Bernsteiner hat die Versammlung angesetzt. Er will zur Belegschaft sprechen.“

Christina blickte auf ihre Armbanduhr. Es war knapp vor zwölf Uhr Mittag. Würde Sie es schaffen, in zwei Stunden wieder hier vor Ort zu sein? Unmöglich. In jedem Fall sollte sichtbar Polizei auf dem Areal anwesend sein und irgendein Kollege musste bei dieser Betriebsversammlung zuhören. Vielleicht kam da etwas zu Tage.

„Haben Sie den Leuten etwas von dem Betrug erzählt?“

Gernot Anzengruber winkte nervös ab.

„Nein, wirklich nicht! Ich habe gemacht, was Sie gesagt haben. Vom Mord wissen die Leute, aber der Betrug ist Verschlusssache. So wie Sie gesagt haben.“

Christina schaute dem Mann kühl in die Augen. Er log ganz offensichtlich.

„Also …“, stotterte Anzengruber, „ … meiner Frau habe ich es schon erzählt. Sie hat mir versprochen, dicht zu halten.“

Christina warf die Beine übereinander.

„Und wem noch?“

„Herrn Bernsteiner. Er hat mich gestern zuhause besucht, wir haben am Nachmittag Kaffee getrunken, und da habe ich ihm davon erzählt. Er ist ja jetzt der Chef.“

Sieh an, vermerkte Christina im Kopf, Engelbert Bernsteiner ergriff Initiative. Sie würde ihn sofort nach Verlassen des Lagers anrufen und ihn zur Diskretion in der Betrugssache auffordern müssen.

„Aber das war es! Sonst habe ich zu niemandem etwas davon gesagt.“ Christina nickte aufmunternd. Sie zog ihren Notizblock aus der Handtasche.

„Herr Anzengruber, der Grund, weswegen ich jetzt bei Ihnen bin, ist folgender. Wir haben heute Vormittag die Personalliste, die Sie mir gegeben haben, geprüft. Bei zwei Personen haben wir Unklarheiten gefunden.“

„Unklarheiten?“

„Ja. Vielleicht können Sie mir da weiterhelfen. Es handelt sich um die Männer Predrag Mihalovic und Stefan Mayer. Sind die beiden Herren zufälligerweise im Haus?“

Anzengruber erhob sich und schaute durch die Glasfront seiner Tür und das Glas des Leitstandsbüros hinaus in die Halle.

„Der Predrag ist da. Er sitzt am Stapler. Und der Stefan kommt erst. Nachmittagsschicht.“

„Auf Ihrer Liste habe ich keine Telefonnummer von Herrn Mihalovic. Und die Adresse kann nicht stimmen, das Haus, in dem er wohnen sollte, ist abgerissen worden. Derzeit befindet sich an der Adresse eine Baustelle.“ Anzengruber wiegte den Kopf.

„Ja, er ist vor ein paar Monaten umgezogen. Wahrscheinlich hat irgendwer vergessen, seine neue Adresse in das Register einzutragen. Und der Predrag hat kein Telefon. Er braucht keines, sagt er.“

Christina machte einen Vermerk auf ihrem Notizblock.

„Stefan Mayer ist einer der Schichtleiter im Lager. Verlässlicher Mann?“ „Absolut. Mit solchen Mitarbeitern kann man super arbeiten.“

„Wir haben mit allen Schichtleitern telefoniert, nicht mit Herrn Mayer. Sein Handy war abgeschaltet, und bevor ich ihn zuhause aufsuche, wollte ich im Lager vorbeischauen.“

Gernot Anzengruber zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht ist der Akku seines Handys leer, oder was weiß ich. In jedem Fall beginnt um zwei Uhr seine Schicht. Er ist immer pünktlich.“

Christina erhob sich und reichte Anzengruber die Hand. Jetzt noch die Adresse von diesem Staplerfahrer persönlich erfragen, legte sie sich die nächsten Arbeitsschritte zurecht, mit Bernsteiner telefonieren, dann diesen Schichtleiter aufsuchen, danach schnell ins Büro. Wie in einem Fieber hetzte Christina los, sie war schnell, sie war energisch, sie wollte in diesem Fall vorankommen. Ob das gelingen würde? Keine Zweifel jetzt, ermahnte sie sich und winkte den Mann auf dem Stapler zu sich.