DIENSTAG

56

Der morgennasse Nebel strich in geisterhafter Langsamkeit durch den Wald, verschleierte hinter dem weißen Paravent den Sonnenaufgang, die frühe Stunde wollte ihre Geheimnisse für sich behalten und den neugierigen und lauten Menschen nichts von ihrer Schönheit preisgeben. Albrecht Kammerhofer setzte seine Schritte nachgerade behutsam in den weichen Waldboden, bemüht, im gefallenen Laub nicht zu rascheln, leise zu sein, nichts aufzuschrecken. Aznavour hatte es ihm vorgezeigt, hatte beim Eintauchen in die Nebelbank sein neugieriges Stöbern unterlassen, war auf dem Wanderweg geblieben, hatte seinem menschlichen Begleiter den Takt vorgegeben. Albrecht hatte sich einfach nur von seinem Hund führen lassen müssen. Natürlich kannte er den Weg durch das Waldstück am Rande von Aschach, er ging diesen Weg häufig, zwei- bis dreimal in der Woche, hatte von diesem Weg ausgehend manche ausgedehnte Wanderung unternommen oder war einfach nur mit dem Hund eine kleine Runde gegangen. An diesem Dienstagmorgen stellte sich die Frage nach einer Wanderung nicht, es war schon beim Verlassen des Hauses klar gewesen, dass heute nur ein Spaziergang in Frage käme, ein Spaziergang für den Menschen, um in der Stille des Herbstnebels Ruhe und Ausgeglichenheit in die Gedanken zu bringen, und ein kleiner Auslauf für den Hund, um sein Geschäft zu verrichten und Gerüche aufzusammeln. Und nur ihnen beiden offenbarte der Nebel seine Schönheit und Stille.

Albrecht wurde aus seiner meditativen Versenkung gerissen, von der nicht fernen Straße vernahm er das Hochjaulen eines Motors. Getrennt war mit einem Mal das Band zwischen ihm und dem Nebelwald, Albrecht kehrte zurück in das Leben der Menschen.

Chantal war mit dem Wagen losgefahren, um die Kinder zur Schule und die kleine Sofie in den Kindergarten zu bringen, und er hatte gleich nach dem Frühstück die Leine geschnappt und war mit Aznavour losgezogen. Auch um zu sehen, ob die Bucheckern zu fallen begannen, aber noch hingen die kleinen Früchte an den Ästen und warteten offenbar noch auf die erste Frostnacht. Es war ein mühsames und zeitintensives Unterfangen, Bucheckern zu sammeln, zu schälen und zu rösten, aber jeder Handgriff und jede Minute, die Albrecht in diese Tätigkeit investierte, waren gut und sinnvoll aufgewendet. Geröstete Bucheckern erinnerten ihn an die glücklichen Herbsttage seiner Kindheit im Haus seiner Großeltern. Der Großvater war mit seinen beiden Enkelsöhnen, mit Harald und Albrecht, in den Wald marschiert und hatte Pilze und Bucheckern gesammelt, und abends hatten sie alle in der warmen Stube rund um den Tisch gesessen und die Bucheckern ausgelöst. Großvater hatte seinen Enkeln alles Wissenswerte über Pilze beigebracht, hatte ihnen gezeigt, wie man aus den Früchten des Waldes Nahrung zubereiten konnte, hatte ihnen erzählt, wie er, der Großvater, das Hungerjahr nach dem Weltkrieg durch Sammeln und Zubereiten der Waldfrüchte überlebt hatte. In den vielen Jahren, in denen Albrecht in Städten gelebt hatte, hatte er selten Zeit und Möglichkeit gefunden, um mehr als ausgedehnte Spaziergänge oder kleine Wanderungen im Wald zu unternehmen, und es war ihm kein geringer Grund gewesen, hierher in das Land seiner Kindheit zu ziehen, um wieder nah am Wald zu sein, um endlich wieder nach Bucheckern und Pilzen Ausschau halten zu können, um seine Studien fortzuführen. Theoretisches Wissen über die Essbarkeit und Zubereitung von Wildpflanzen hatte er ausreichend gesammelt, nun galt es ihm, dieses Wissen in der Praxis zu erproben und zu vertiefen.

Albrecht ließ den Wald hinter sich, also nahm er Aznavour von der Leine. Der Hund lief ein paar Meter voran, schnupperte da und dort. Nach wenigen Schritten am Wiesenrand entlang lichtete sich der Nebel merklich, die Häuser waren zu sehen. Sie kamen zur Weggabelung, geradeaus ging es in das Ortszentrum, rechts führte der Weg zur Siedlung am Hang des Ortsrandes. Aznavour kannte den Weg natürlich und lief voran. Nach ein paar Minuten kamen die große Villa und der weitläufige Garten in Sicht. Albrecht verließ den Wanderweg und trat auf die bergab zur Siedlung führenden Straße. Er tastete nach seinem Schlüsselbund. Der Nebel hing hier nur in dünnen Schleiern im sanft abfallenden Hang.

Albrecht stockte. Aznavour stand stocksteif in einiger Entfernung am Straßenrand. Saß dort ein Mensch am Zaun neben dem Portal? Albrecht beschleunigte seine Schritte. Eine Frau. Sie saß, den Rücken an die Mauer gelehnt, zusammengekauert im feuchten Gras, hielt mit den Armen die angezogenen Beine umschlungen, drückte die Stirn gegen die Knie, von ihrem Kopf floss dichtes brünettes Haar über den Körper. Albrecht erkannte nun die Frau, auch ohne ihr Gesicht zu sehen. Das erste Mal, als er dieser Frau über den Weg gelaufen war, es war ein warmer Tag im Mai gewesen, hatte ihm der Atem gestockt, allen Männern hatte im Angesicht dieser Frau der Atem gestockt. Sie hatte ein Sommerkleid getragen, das mehr von ihrem Körper enthüllt als bedeckt hatte. Lange glatte Beine, eine schlanke Taille, ein kraftvoller Rücken und ein hinreißend schöner Hals, leuchtend roter Lippenstift in einem bildschönen, offen und freizügig lächelnden Gesicht, dazu wallendes Haar. Er hatte seinen Augen nicht getraut, dass eine solche Frau in einem solchen Aufzug in Aschach an der Steyr die Straße überquert hatte und nicht in Monte Carlo vor dem Casino oder am Yachthafen von Saint-Tropez. Wochen später hatte er sie noch einmal gesehen, und zwar im Einkaufszentrum am Stadtrand von Steyr. Es war gewesen, als ob die Frau sich gehäutet hätte, tiefgründige Augen, ein schwarzer Hosenanzug, keinerlei Schminke, die Aura einer fragilen Entrückung hatte sie umgeben.

„Frau Felder, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

Albrecht wartete auf eine Antwort. Sie regte sich nicht, also kam er näher und hockte sich neben sie.

„Frau Felder, stehen Sie auf. Der Boden ist feucht und kalt. Sie werden sich eine Erkältung holen.“

„Mir ist gar nicht kalt.“

„Soll ich einen Krankenwagen rufen?“

„Nein. Mir geht es gut, ich sitze hier nur, um etwas nachzudenken.“

„Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf.“

Selma reichte Albrecht die Hand, er zog sie hoch.

„Meine Güte, Sie sind völlig durchfroren. Sie müssen jetzt auf dem direkten Weg ins Haus und heißen Tee trinken.“

„Ich will nicht in das Haus. Es ist mir so fremd.“

„Haben Sie Alkohol getrunken, Frau Felder?“

„Nein. Bitte begleiten Sie mich, alleine wage ich mich nicht hinein.“

Albrecht sah, dass sie ganz weich in den Knien war und schwankte, daher bot er seinen Arm und sie hakte sich ein. Sie roch nicht nach Alkohol. Also Drogen. Was hatte sie genommen? Selma zog aus ihrer für die feuchtkalte Witterung völlig unpassenden Jacke den Schlüssel und öffnete das Gartenportal. Albrecht pfiff Aznavour, aber dies wäre nicht nötig gewesen, der Hund schritt an der Seite seines Herrn durch den Garten. Selma öffnete die Haustür.

„Ich bin so verwirrt. Helfen Sie mir bitte. Da entlang.“

Sie zeigte mit der linken Hand die Richtung an.

Albrecht wandte sich dem Hund zu.

„Sitz, Aznavour. Ich komme gleich wieder. Sitz! Guter Hund. Frau Felder, Sie sind wirklich stark unterkühlt.“

Sie kamen in das Atelier. Selma steuerte das Kanapee an und ließ sich darauf plumpsen. Er schaute sich um. Und war angetan von diesem Raum.

„Wo ist die Küche, Frau Felder? Und Sie brauchen trockene Kleidung.“

„Hinter dieser Tür finden Sie alles.“

Albrecht trat durch die Tür und kam in eine Teeküche, und hinter der Teeküche befand sich ein Zimmer mit Bett und Kasten. Albrecht riss die Kastentür auf, wühlte in den Kleidungsstücken und entnahm dem Kasten eine weite Cordhose, eine Strickweste und eine Decke. Danach setzte er Wasser auf und suchte in den Küchenschränken nach Tee. Er musste nicht lange suchen, schon der erste Schrank enthielt eine umfangreiche Sammlung an Kräutertees. Albrecht wählte Kamille, schüttete die duftenden Trockenblüten in eine Kanne und stellte eine Tasse bereit. Das Wasser blubberte bald im Kocher. Die dampfende Kanne, eine Tasse und eine Schüssel mit Zuckerwürfeln servierte er auf einem Tablett, Hose, Weste und Decke trug er unter die Achsel geklemmt. Er schob einen Stuhl vor das Kanapee und stellte das Tablett ab.

„So, Frau Felder, hier habe ich eine trockene Hose und eine warme Weste. Der Tee muss noch ein bisschen ziehen.“

„Helfen Sie mir bitte mit der Jacke.“

Mit vereinten Kräften tauschten sie die feuchte Jacke gegen die warme Strickweste. Danach streifte sie die Schuhe von den Füßen.

„Können Sie Ihre Hose alleine ausziehen?“

„Ja, das wird schon gehen.“

Sie erhob sich und streifte ihre Hose ab. Albrechts Blick glitt über ihre Beine, sie waren lang, wohlgeformt, muskulös.

„Drehen Sie sich bitte um.“

Albrecht tat wie ihm geheißen, also schlüpfte Selma auch aus ihrem nassen Höschen. Er ging hinüber zum Arbeitstisch und fasste die Zeichenmappen ins Auge. Er blätterte die oberste Mappe auf und sein Blick war sofort gefangen. Was für eine erstaunliche Ausdrucksstärke in nur wenigen Strichen er vorfand, er meinte geradezu den Höhenwind zu spüren, der unablässig um die gezeichnete Felsformation strich. Albrecht sah die Zeichenblätter durch. Er war begeistert.

„Ich bin wieder salonfähig“, sagte Selma.

Verloren saß sie auf dem Kanapee. Albrecht ging auf sie zu, schnappte die Decke und warf diese Selma um die Schulter.

„So, jetzt kommt wieder alles ins Lot, nicht wahr?“, sagte er betont zuversichtlich und gut gelaunt.

Albrecht zog einen weiteren Stuhl heran und setzte sich zu ihr. Er füllte die Tasse.

„Wollen Sie Zucker in den Tee?“

„Nein.“

Selma nahm die dargebotene Tasse entgegen und umklammerte sie mit beiden Händen.

„Sie sprechen sehr gut deutsch.“

Albrecht runzelte die Stirn.

„Es ist meine Muttersprache.“

Selma hob den Blick. Meine Güte, schoss es Albrecht durch den Kopf, warum nur war eine so schöne Frau in einem derart desolaten Zustand?

„Aber sind Sie nicht Franzose?“

„Nein, ich bin Österreicher. Ich bin hier in der Gegend aufgewachsen.“

„Sie haben im Einkaufszentrum mit Ihren Kindern französisch gesprochen.“

„Daran können Sie sich erinnern?“

„Sie sind mir aufgefallen. Man trifft in Steyr nicht oft französisch sprechende Männer.“

„Meine Frau ist Französin, und unsere Kinder wachsen zweisprachig auf.“ Selma nippte an der Tasse. Sie schien sich einigermaßen zu fangen.

„Haben Sie Drogen genommen?“

„Medikamente.“

„Soll ich einen Arzt rufen?“

„Ein Arzt hat mir die Medikamente gegeben.“

„Was ist Ihnen passiert, Frau Felder?“

Selma Felder schaute aus glasigen Augen zum Fenster hinaus. Sie antwortete nicht.

„Frau Felder, wenn Sie wieder halbwegs in Ordnung sind, werde ich wieder gehen.“

„Bleiben Sie bitte noch. Das Haus ist so leer und kalt.“

„Ich kann das Radio und die Heizung einschalten.“

Sie sah ihn hilfesuchend an.

„Haben Sie jemand, der sich um Sie kümmert?“

„Niemand. Ich habe niemanden.“

Albrecht dachte nach. Irgendjemand musste sich um diese Frau kümmern. Vielleicht sollte er sie in ein Krankenhaus bringen. Oder den Hausarzt anrufen.

„Frau Felder, ich muss jetzt gehen.“

Selma stellte die Teetasse ab und erhob sich.

„Ich begleite Sie zur Tür.“

„Ich finde den Weg. Bleiben Sie ruhig hier sitzen und ruhen Sie sich aus. Ich werde Ihnen Hilfe schicken.“

Selma stand mit hängenden Schultern vor ihm.

„Das ist nicht notwendig. Ich war nur so verzweifelt, so einsam, aber Sie haben mir sehr geholfen. Das richtet mich wieder auf. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen zur Last gefallen bin.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, das ist doch selbstverständlich.“

„Dass Menschen einander helfen, ist niemals selbstverständlich. Sie sind so gut zu mir, und ich kenne nicht einmal Ihren Namen.“

„Albrecht.“

„Was für ein schöner Name. Sie wohnen in dem gelben Haus, nicht wahr?“

„Ja, das gelbe Haus. Wissen Sie was, Frau Felder, wenn Sie irgendetwas brauchen, kommen Sie einfach zu uns. Sie sind bei uns jederzeit willkommen, die Haustür steht immer offen.“

Selma Felder verzog das Gesicht, Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie fiel Albrecht um den Hals und drückte sich an ihn. Albrecht taumelte für einen Augenblick, wusste nicht, wie ihm geschah. Er nahm die Frau in seine Arme, hielt sie, tätschelte ihren Rücken, während sie an seiner Schulter heulte, sich gar nicht mehr einkriegte, ihn nicht mehr losließ. Jetzt verstand Albrecht endlich, sie war ein verletztes, schutzbedürftiges Kind im Körper einer Frau. Er wartete geduldig, bis der Weinkrampf langsam verebbte.