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Das Gartenportal stand offen, also ging Christina auf das Haus zu und drückte an die Klingel. Sie wartete und als niemand die Tür öffnete zog sie den Schlüssel hervor und verschaffte sich Zutritt.

„Guten Tag!“, rief sie laut und deutlich. „Ist jemand zuhause? Frau Felder, sind Sie hier?“

Keine Antwort. Christina peilte das Atelier an. Sämtliche Türen standen offen. Im Türstock zum Atelier stehend entdeckte Christina Selma Felder, die über ein Zeichenblatt gebeugt saß und völlig vertieft arbeitete. Christina klopfte laut an die offen stehende Tür.

„Guten Tag, Frau Felder.“

Selma blickte nicht hoch.

„Einen Moment bitte. Nur noch diese eine Schattierung.“

Christina ging näher. Selma hatte ein scheinbar wirres Geflecht an schwarzen Linien auf das Papier geworfen. Kein Berg oder Felsen also diesmal. Aus gemessener Distanz schaute Christina zu, wie Selma mit den Fingerkuppen dick aufgetragene Kohlelinien verwischte. Endlich zog Selma ihre Hand zurück, wischte den Kohlestaub in ein Leinentuch, streckte ihren Rücken und drehte sich Christina zu.

„Ja, bitte?“

„Guten Tag, Frau Felder. Erinnern Sie sich an mich?“

„Natürlich, Frau Inspektor, setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen etwas Tee anbieten?“

Christina schnappte sich einen Stuhl.

„Vielen Dank, keine Getränke.“

„Was führt Sie zu mir, Frau Inspektor?“

War sie im Drogenrausch? Selma lächelte entrückt und schien sich überhaupt nicht zu wundern, dass plötzlich jemand in ihrem Atelier auftauchte.

„Fragen, Frau Felder, viele Fragen.“

„Das ist das Los von Polizisten, nehme ich an. Sie müssen immer offenen Fragen nachjagen. Habe ich Recht?“

„Sie haben Recht, und vielleicht können Sie ein paar dieser Fragen beantworten.“

Selma schüttelte langsam ihren Kopf.

„Das glaube ich nicht. Ich habe so wenig Talent, Fragen zu beantworten, ich habe viel mehr Talent, Fragen aufzuwerfen.“

Vor allem Letzteres hielt Christina für eine treffende Selbstcharakterisierung.

„Ach, ich nehme es, wie es kommt.“

Selma fasste Christina nun scharf in den Blick, sie erhob sich und kam näher, starrte Christina gleichermaßen hypnotisiert wie hypnotisierend an.

„Sie haben erstaunliche Augen, Frau Inspektor. Unglaubliche Augen sogar. Überhaupt, ich bin fast überrumpelt von Ihrer Aura. Sie haben ein unwahrscheinlich starkes Gesicht. Ich … ich bin ganz überwältigt von Ihrem Gesicht. Ich muss Ihr Gesicht porträtieren. Ein solches Gesicht muss einfach porträtiert werden. Obwohl es wohl eine gewaltige Aufgabe sein wird, Ihre Augen auf Papier zu bannen. Darf ich Ihr Gesicht berühren?“

Selma hob die Hände und kam einen Schritt näher.

„Nein“, flüsterte Christina, und gerade der Flüsterton wirkte in seiner Härte und Bestimmtheit wie eine schallende Ohrfeige.

Selma taumelte zurück und setzte sich wieder auf ihren Malschemel. „Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“

Christina warf ein Bein über das andere.

„Frau Felder, ich verstehe nicht viel von Malerei und ich habe kein Interesse daran, porträtiert zu werden. Ich möchte vielmehr mit Ihnen reden. Ist das für Sie akzeptabel?“

„Natürlich“, antwortete Selma ernüchtert. „Stellen Sie Ihre Fragen.“

„Warum sind Sie nicht mehr in diesem Sanatorium in Bad Gastein?“

„Weil ich dort nicht zeichnen kann.“

„Hat man Ihnen das Zeichnen verboten?“

„Wo denken Sie hin? Sie haben mir auf meinen Wunsch sofort Papier und Kohlestifte gebracht. Der Arzt hat gesagt, dass künstlerische Arbeit in dieser schwierigen Situation das Beste wäre, was ich machen könne. Allein, jeder Versuch auch nur eine Linie auf Papier zu bringen, ist vollkommen gescheitert. Sehen Sie her, kaum bin ich wieder in meinem Reich, gelingt der erste Versuch. Etwas Neues ist im Entstehen, ich fühle es ganz deutlich. Sehen Sie, ich habe ein abstraktes Muster entworfen. Ich habe seit meiner Studienzeit nicht mehr abstrakt gezeichnet! Eine neue Energie wächst in mir. Ich muss jetzt arbeiten. Nur in der Arbeit kann ich den Verlust von Herbert überwinden. Das ist mir trotz der Medikamente in Bad Gastein klar geworden.“

„Wann sind Sie von dort los?“

„In der Nacht. Ich bin einfach aufgebrochen. Mein Gepäck ist noch dort.“ „Und wie sind Sie hierher gekommen? Ihr Auto haben Sie meines Wissens in der Garage stehen lassen.“

„Ich bin eine Stunde zu Fuß gelaufen, vielleicht waren es auch zwei. Dann hat mich jemand ein Stück mitgenommen. Zuletzt habe ich ein Taxi genommen. Zum Glück habe ich noch etwas Bargeld dabei gehabt.“

„Wollen Sie jetzt hier in Ihrem Haus bleiben?“

„Nicht wollen, ich muss! Nur hier kann ich arbeiten. Nur hier kann ich den Schmerz überwinden. Nur hier kann ich lernen, in der Einsamkeit, die mir als Witwe bestimmt ist, zu leben.“

„Nehmen Sie noch Ihre Medikamente?“

„Sie haben wirklich viele Fragen auf dem Herzen, Frau Inspektor. Ich bewundere das! Diese Ausdauer in Ihnen kann ich nur bewundern! Und ja, ich nehme Medikamente. Ich weiß, dass sie mir helfen, dass sie meine Niedergeschlagenheit lindern. Wussten Sie, dass ich mehrmals in psychiatrischen Klinken war?“

„Das ist mir bekannt.“

„Man sagt, ich leide an einer bipolaren Persönlichkeitsstörung. Frau Inspektor, schauen Sie dort zum Regal. Sehen Sie diesen Bücherstapel?“

„Ja, ich sehe die Bücher.“

„Das sind Bücher über psychische Krankheiten. Populärwissenschaftliche Bücher, aber auch Fachbücher für Psychologen und Mediziner. Ich habe alle diese Bücher gelesen und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass ich nicht an einer bipolaren Persönlichkeitsstörung leide. Ich bin nur manchmal niedergeschlagen, ich habe eine Neigung zur Depression, das stimmt, deswegen nehme ich auch diese Medikamente, aber ich bin nicht bipolar. Bestimmt nicht.“

Christina dachte scharf nach. Sollte sie Selma Felder hier und jetzt mitnehmen und zu ihrer eigenen Sicherheit in die geschlossene Psychiatrie bringen? Hat diese Frau ihren Mann ermordet? In jedem Fall stand Selma Felder ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. Vielleicht hatte sie es getan. Vielleicht auch nicht. Sie brauchte Beweise, ermahnte sich Christina, keine Vermutungen oder Beschuldigungen. Und schlagartig wusste Christina, dass sie tiefer in den Fall eintauchen musste, dass es nicht reichte, nur an der Oberfläche zu kratzen, dass sie mit jeder Faser ihres Körpers verstehen musste, warum Herbert Felder von einem stählernen Ungetüm überrollt worden war.

„Frau Felder, am Sonntag haben wir, damit meine ich die Polizei, hier eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Wir haben DVDs gefunden. Wissen Sie, von welchen DVDs ich spreche?“

Selma Felder schlug ihre Hände vor dem Mund zusammen.

„Haben Sie die Videos ins Internet gestellt?“, fragte sie erschrocken.

„Nein! Ich bin Polizistin, Frau Felder, kein Paparazzo! Diese Videos sind Ihre Privatangelegenheit, davon dringt nichts an die Öffentlichkeit!“

„Das müssen Sie mir versprechen!“

„Mein Ehrenwort darauf.“

Selma atmete erleichtert durch.

„Ich glaube Ihnen. Ich habe Herbert nur unter der Voraussetzung erlaubt, diese Filme zu drehen, wenn davon niemals etwas an die Öffentlichkeit dringt. Es würde mich vernichten, wenn fremde Menschen diese Filme sehen würden. Ich könnte das nicht überleben. Und Herbert hat mir feierlich geschworen, dass diese Filme niemals dieses Haus verlassen würden.“

„Frau Felder, ich habe einige Ausschnitte der Filme gesehen. Ist das ein Problem für Sie?“

Selma wusste nicht gleich, was sie sagen sollte. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe.

„Zeigen Sie bitte das Material nicht Ihren männlichen Kollegen. Das wäre mir entsetzlich peinlich. Ihnen, Frau Inspektor, vertraue ich. Sie tragen einen Ehering, Sie sind verheiratet, Sie wissen, dass man als liebende Frau gerne die Wünsche des Ehemannes erfüllt. Die Ehe ist ein Geben und Nehmen, ich habe Herbert meine Liebe gegeben, und ich habe den Schutz, den er mir geboten hat, genommen. Wir waren glücklich miteinander. Und ich habe es gern getan, für ihn zu posieren, seine Wünsche zu erfüllen, in diesen Wünschen aufzugehen. Ich habe oft so ein unfassliches Gefühl von Freude in mir, von Lebenslust, von Liebe und Hingabe. Und Herbert war so ein starker Mann. Er hat mich immer beschützt.“

Selma Felder fiel nach diesem Ausbruch in dumpfes Brüten.

„Aber jetzt ist er tot. Ermordet worden. Ich hoffe, sie finden den Mörder meines Mannes.“

„Ich gebe mein Bestes, aber ich brauche Hilfe. Ihre Hilfe.“

„Meine Hilfe? Was kann ich tun?“

„Sagen Sie mir die Wahrheit.“

„Die Wahrheit?“

„Haben Sie Ihren Mann ermordet?“

Selma Felder krümmte sich unter entsetzlichen Schmerzen. Sie schnappte nach Luft.

„Wie können Sie so etwas überhaupt nur denken? Ich habe ihn geliebt! Ich habe ihn gebraucht! Ich bin am Rande der Auslöschung, weil er nicht mehr hier ist.“

Christina war verwirrt. Hatte Selma nicht zuvor gesagt, sie würde mit dem Zeichnen den Schmerz überwinden können? Waren ihre Worte logisch und nachvollziehbar? War Christina hier und jetzt auch nur einen Schritt vorangekommen? Sie fluchte in sich hinein. Sie durfte sich jetzt nicht verwirren lassen, sie musste standhaft bleiben. Christina wartete eine Weile, bis sich Selma Felders Atmung wieder beruhigt hatte.

„Eine Frage noch, Frau Felder.“

Selmas Blick kehrte von einer unerklärlichen Reise wieder zurück.

„Noch eine Frage?“

„Leider, wir müssen das durchstehen. Sind Sie dazu in der Lage?“

„Irgendwie wird es schon gehen.“

Christina wartete, bis sich Selma ihr wieder vollständig zugewandt hatte. „Wie war das Zusammenleben mit Ihrem Ehemann in den Zeiten, in denen Sie hier im Atelier übernachtet haben?“

„Anfangs war Herbert furchtbar enttäuscht von mir. Ja, wir haben uns auch deswegen gestritten, heftig sogar. Aber Herbert war ein großer Mann, verstehen Sie, ein Mann von Format, er hat schließlich eingesehen, dass ich meine Freiräume brauche, dass ich mich auf die Malerei konzentrieren muss, dass ich mich auch zurückziehen muss. Er hat das akzeptiert.“

„War er in diesen Zeiten häufig außer Haus?“

Selma schaute Christina nun direkt und unverwandt an.

„Ich weiß genau, worauf Sie hinaus wollen, Frau Inspektor!“

„Wissen Sie das also?“

„Ja, ich weiß das. Und ich habe es gewusst!“

„Was haben Sie gewusst?“

„Dass er zu dieser Frau geht. Er selbst hat es mir gesagt, er hat mir gesagt, dass er mich immer lieben wird, dass ich die einzige wahre Liebe seines Lebens bin, dass aber, wenn ich die Freiheit der Kunst beanspruche, er auch Freiheiten für sich in Anspruch nehmen muss.“

„War das ein Problem für Sie?“

„Keineswegs. Ich wollte immer sein Bestes. Er war als Mann sehr stark, also hat er sich wie ein starker Mann verhalten. Meine Achtung ist dadurch noch gestiegen.“

„Hatte er eine Geliebte oder war er bei einer Prostituierten?“

„Diese Frau ist keine gewöhnliche Prostituierte, aber sie nahm Geld von Herbert. Ich habe mich einmal mit ihr getroffen, habe mit ihr in Linz Tee getrunken. Sie ist intelligent, schön und mutig. Ich respektiere diese Frau, und ich glaube, dass sie auch mich respektiert, auch wenn sie sehr verschlossen und vorsichtig war.“

„Wie heißt diese Frau?“

„Ihren Nachnamen habe ich nie erfahren und ich weiß auch nicht, wo sie wohnt. Ich habe Herbert eines Tages nach ihr befragt, woraufhin er sie spontan von seinem Handy aus angerufen hat und mich mit ihr hat sprechen lassen. Da haben wir das Treffen in Linz vereinbart. Slaveya ist Bulgarin. Ich habe nach diesem einen Treffen mich nicht mehr für sie interessiert.“

Christina spürte ihn wieder, diesen Hauch, wenn der Winter seine ersten Sendboten in das Land sandte, wenn eine Tür zufiel, von der man wusste, dass sie sich nie wieder öffnen würde. Ihre Lippen fühlten sich trocken an. Langsam erhob sie sich.

„Nun denn, Frau Felder, ich glaube, ich habe Sie mit meinen Fragen genug strapaziert. Ich muss wieder weiter. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiedersehen.“

Selma erhob sich ebenso.

„Auf Wiedersehen, Frau Inspektor.“