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Kaum saß sie wieder an ihrem Arbeitsplatz, da klingelte das Handy.

„Herr Pokorny, Ihren Anruf habe ich schon erwartet!“

„Ja, das glaube ich.“

„Haben Sie mir schon den Bericht geschickt?“

„Sitzen Sie nicht an Ihrem Computer?“

Christina tippte das Kennwort ein und öffnete das E-Mail-Programm.

„Jetzt schon, bin aber gerade erst hereingekommen.“

„Stressiger Vormittag?“

„Davon können Sie ausgehen. Geben Sie mir bitte einen kurzen allgemeinen Überblick?“

„Die daktyloskopischen Untersuchungen der persönlichen Gegenstände haben nichts Nennenswertes gebracht. Im Auto haben wir überwiegend Spuren des Mordopfers selbst gefunden. Ein paar Haare und ein paar Stofffasern sind eindeutig der Ehefrau zuzuordnen. Es scheint so, als ob nur sehr wenige Personen jemals in dieses Auto gestiegen sind. Die Funde im Leitstand der Lagerhalle sind noch nicht vollständig analysiert, aber wie Sie sich denken können, gibt es da viel Arbeit. In den Tastaturen der PC-Arbeitsplätze haben wir jede Menge Brot- oder Semmelkrümel sichergestellt. Wir haben vorläufig Merkmale von vier verschiedenen Personen eindeutig identifiziert, und da sind wir noch lange nicht fertig. Wird noch dauern.“

„Wie ist das mit dem Graffiti? Und den Fußabdrücken beim Zaun?“

„Ergiebiger. Das Wichtigste zuerst. Der Täter ist mit Sicherheit über den Zaun geklettert, denn wir haben eine Spur von Fasern einer schwarzen Kunststoffjacke entdeckt. Es muss eine handelsübliche Sportjacke gewesen sein. Beim Klettern ist die Jacke am Zaun hängengeblieben und ein Stück eingerissen, und ab da gibt es eine richtig schön zu verfolgende Spur. Fasern waren am Zaun, bei der Hallentür, in der Nähe des Leitstandes und direkt vor dem Steuerschrank des Regalbediengerätes zu finden. Also das ist ein klassischer Volltreffer.“

„Sehr gut! Wenn wir die besagte Jacke finden, wären wir am Ziel.“

„Ja, vorausgesetzt, dass der Täter die Jacke überhaupt noch hat.“

„War es ein Einzeltäter?“

„Mindestens zwei Personen sind in der besagten Nacht über den Zaun gestiegen. Neben der Stelle, wo die schwarzen Fasern gefunden worden sind, haben wir auch noch an einer anderen Stelle des Zauns, knapp sieben Meter weiter, Gras- und Erdreste gefunden. An dieser Stelle gab es allerdings keine Fasern, auch keine Fingerabdrücke oder Haare. Die Täter haben sehr wahrscheinlich Sturmhauben und ganz sicher Handschuhe getragen.“

„Was ist mit der Farbe?“

„Stinknormaler Sprühlack, wie man ihn in jedem Baumarkt kaufen kann.“

„Die Lettern sind sehr groß. Wurden Leitern verwendet?“

„Nur die Räuberleiter.“

Christina warf ihre Stirn in Falten.

„Ist das sicher?“

„Ja. Offenbar hat eine Person an der Mauer gelehnt und der anderen die Räuberleiter gemacht, damit diese die oberen Teile des Schriftzuges sprühen konnte. Und, Frau Kayserling, die Täter waren ziemlich gewieft. Die Person unten, es muss sich von der Körpergröße her um einen Mann von mindestens einem Meter achtzig, eher aber größer, gehandelt haben, der Mann unten also, der mit dem Rücken an der Wand gelehnt hat, hat sich nicht mit der Kleidung angelehnt, sondern eine Kunststofffolie an die Mauer gehalten und sich erst dann angelehnt. Der Abrieb der Folie ergibt ein eindeutiges Muster, und natürlich, muss ich fast sagen, ist das eine PVC-Folie gewesen, wie man sie ebenfalls in jedem Baumarkt kaufen kann. Die Folie hat den Mann auch bestimmt vor herabspritzender Farbe geschützt. Gehe jede Wette ein, dass diese Folie längst in der Kunststoffverwertung unauffindbar entsorgt worden ist. Die waren clever.“

„Und die Fußabdrücke im Boden?“

„Die Fußabdrücke alleine sind nicht sehr ergiebig. Das Wetter war mehrere Tage lang trocken, der Boden fest, das bisschen Gras- und Erdmaterial im Zaungitter war das Einzige, was wir gefunden haben. Was wir etwas abseits gefunden haben, sind Spuren von zwei Fahrrädern. Es könnte sein, dass die Täter mit dem Fahrrad gekommen sind, könnte aber auch sein, dass die Fahrradspuren von irgendwelchen Mountainbikern stammen. Wie gesagt, der Boden war trocken. Merkwürdig ist die Tatsache, dass die beiden Täter an verschiedenen Stellen über den Zaun geklettert sind. Die Arbeit am Graffiti ist offenbar sehr schnell und sehr gezielt, also quasi professionell gemacht worden. Das lässt auf ein gut eingespieltes Team schließen. Ich sehe bisher keinen Grund, weswegen die beiden Graffitimaler an verschiedenen Stellen über den Zaun geklettert sind. Natürlich, möglich ist es schon. Für mich noch viel unklarer ist der Umstand, dass direkt beim Graffiti keine schwarzen Fasern von der zerrissenen Jacke gefunden worden sind.“

Christina überlegte scharf.

„Was halten Sie von dieser Möglichkeit, Herr Pokorny? Der Täter ist in die Halle eingedrungen, hat den Mord durchgeführt, dabei Fasern verloren. Beim Verlassen der Halle bemerkt er die zerrissene Jacke, zieht sie aus und steckt sie in einen Rucksack oder eine Tasche. Danach stößt er zu seinem Komplizen, der möglicherweise außerhalb der Halle Schmiere gestanden hat, sie sprühen das Graffiti und verschwinden wieder.“

„Klingt plausibel, so könnte es gewesen sein, aber sicher ist das nicht.“

„Könnte die Person, die die Fasern in der Halle verloren hat, eine dritte Person sein, also jemand, der mit dem Graffiti überhaupt nichts zu tun gehabt hat?“, fragte Christina.

„Auch das wäre bei unserem jetzigen Wissensstand eine vollkommen plausible Erklärung.“

„Haben Sie sonst noch etwas?“

„Ja, die Aussage der Rechtsmedizin, dass sie mit der Autopsie noch nicht fertig ist.“

„Die haben also noch gar nicht angefangen.“

„Genau.“

„Gut, Herr Pokorny, danke für die Berichte und die kurze Zusammenfassung. Wir hören voneinander.“

„Bis demnächst.“