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Christina eilte die Treppe empor, huschte in ihr Büro und warf sich auf den Drehstuhl. Sie blickte auf die Anzeige ihres Tischtelefons. In ihrer Abwesenheit waren zwei Anrufe eingegangen, beide Male von derselben Nummer. Sie legte sich einen Notizblock und einen Stift parat und griff dann zum Hörer. Sie musste nicht lange warten, bis am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde.

„Hallo, Christina! Wieder im Büro?“

„Hallo Friedel. Gerade eben bin ich hereingekommen.“

„Hast du Zeit für ein kleines Schwätzchen?“

„Meine Arbeit besteht darin, kleine Schwätzchen abzuhalten.“

„Passt. Also, ich habe in der Sache mit den Gutachten ein wenig weitergemacht. Und dann habe ich mir die Tierschutzszene angesehen.“

Christina lehnte sich zurück und schaute zum Fenster hinaus. Der junge Kollege schien sich bewähren zu wollen. Gut so.

„Du hast beides verfolgt? Hast du gestern ein paar Überstunden gemacht?“

„Allerdings.“

„Was sagt deine Freundin dazu?“

„Ich schlafe sowieso wenig, und ob ich jetzt die halbe Nacht zocke oder im Büro Datenbanken durchforste, ist ihr eigentlich egal.“

„Aufpassen, Friedel, genau auf diese Art sind schon manche Kollegen über Nacht zu Singles geworden.“

Friedel räusperte sich.

„Na ja, ich bin eh kein Workaholic und werde es nie werden, dazu bin ich grundsätzlich viel zu faul, und innerhalb der nächsten sechs Monate will ich auch nicht Polizeioberst werden, aber, Christina, das ist mein erster wirklich spannender Fall. Wenn wir die Nuss geknackt haben, werde ich die Überstunden schon loswerden, keine Sorge.“

Sorgen bereitete Christina weit eher die Frage, ob diese Nuss überhaupt geknackt werden würde. Viele Fälle waren schon nach allen möglichen und unmöglichen Ermittlungen ungeklärt zu den Akten gelegt worden.

„Gut, der Reihe nach bitte. Was ist mit den Gutachten?“

„Ekelhafte Geschichte, würde ich jetzt mal so sagen. Also einen Fall habe ich weitgehend rekonstruiert, mir die entsprechenden Dokumente von den verschiedenen Behörden schicken lassen und mit einigen Leuten telefoniert. Im letzten Juni hat die Lebensmittelaufsicht mehrere Fleischproben von geschlachteten Tieren genommen, die in einem niederösterreichischen Schweinemastbetrieb gehalten worden sind. Solche Proben werden ins Labor geschickt und das Labor stellt dann die Gutachten aus. Die Lebensmittelaufsicht hat angeblich sieben Proben ans Labor geschickt, dort sind aber nur drei angekommen. Diese drei Proben waren makellos, das war Schweinefleisch von einwandfreier Qualität und für den Verzehr absolut geeignet. Dafür gibt es drei Gutachten, natürlich, das Labor hat untersucht, was es erhalten hat. In der Lebensmittelaufsicht sind aber sieben Gutachten gelandet, alle sieben dokumentieren einwandfreie Prüfergebnisse. Eine wundersame Vermehrung auf dem Postweg! Ich habe ja auf Felders Rechner eine ganze Menge solcher Gutachten gefunden, wobei die eher älteren Datums sind. In jedem Fall kauft die Bernsteiner Fleischwaren AG schon seit Jahren sämtliche Schweine dieses Mastbetriebes, und zwar ausschließlich, die haben einen fixen Liefervertrag. Die tierärztliche Kontrolle des Betriebes wird von diesem Doktor Bernhard Traxler durchgeführt. Und in der Lebensmittelaufsicht sitzt irgendwo ein freundlicher Zeitgenosse, der mit gezinkten Karten spielt. Also wenn du mich fragst, Christina, haben diese Herrschaften übel kontaminiertes Fleisch einfach mit dem Fleisch eines Bioschweines ausgetauscht, das Biofleisch hat im Labor überhaupt keine Probleme gemacht und die Lebensmittelaufsicht ist knallhart betrogen worden, weil sie Ware für den Verkauf freigegeben hat, welche manche Leute lieber nicht in einem unabhängigen Labor untersuchen lassen wollten. Meine Schlussfolgerungen sind reine Hypothese, Christina, aber ich kann dir sagen, mir kommt das große Kotzen!“

„Ja, mir auch.“

„Und weißt du, was mir total merkwürdig vorkommt?“

„Nämlich?“

„Ich habe die Zusammenhänge an einem Nachmittag recherchiert! Verstehst du, da laufen ekelhafte Geschäfte ab, die gar nicht mal besonders versteckt werden. Der totale Wahnsinn!“

„Die Bande fühlte sich offenbar ziemlich sicher. Lässt auf eine längere Geschäftspraxis schließen.“

„Eben. Heute früh habe ich Brot im Supermarkt gekauft, und als ich an der Fleischtheke vorbeigegangen bin, habe ich die Wachstumshormone und Antibiotika regelrecht gerochen. Das war natürlich Einbildung, aber mir hat es wirklich den Magen umgedreht.“

„Wie lange bist du schon Polizist?“

„Seit einem Jahr.“

„Ich bin schon ein paar Jährchen länger dabei, und ich bin anfangs auch im Streifendienst gewesen, wo man so allerlei zu sehen bekommt. Du wirst feststellen, Friedel, dass es viele Dinge im Leben der Menschen gibt, bei denen es einem den Magen umdreht. In jedem Fall musst du deine Recherchen an die entsprechenden Dienststellen weiterleiten.“

„Hab ich schon gemacht.“

„Gut. Was kannst du mir über die Tierschutzszene sagen?“

Friedel holte Luft.

„Die haben zum Teil saugute Websites. Ich meine die Programmierung, Usability und so Zeug. Weißt du, ich bin da schon ein bisschen der Technikfuzzi, ich schau mir Websites nicht nur inhaltlich an, sondern auch technisch. Ein paar Sites sind aus der Bastelstube für Anfänger, aber manche Sites eben nicht, die sind absolut auf dem Stand der Technik. Und inhaltlich, muss ich sagen, hat mich der Stoff von den Socken gehaut, echt jetzt, habe mich früher nie so damit beschäftigt, wo unser Essen herkommt oder wie das mit Tierversuchen ist, aber wenn die Hälfte von dem stimmt, was ich da gestern Abend so gelesen habe, dann sage ich nur Halleluja, liebes Abendland. Weißt du, wie ein Kastenstand funktioniert? Habe ich nicht gewusst. Die Säue sind da ein Leben lang total eingesperrt, die können sich nicht ein bisschen bewegen, müssen aber Ferkel ohne Ende werfen. Das ist so, wie wenn du in lebenslanger Dunkelhaft eine Diplomarbeit über die Architektur datenbankbasierter Businesssoftware schreiben musst. Und dann noch die Käfighaltung von Hühnern für die Eierproduktion! Das ist …“

„Friedel“, unterbrach Christina den Redefluss schroff, „wenn du auf Basis deiner Recherchen zum Tierschützer und konsequenten Vegetarier wirst, soll mir das recht sein, aber das ist deine Privatsache. Ich will nur wissen, ob du irgendwelche Anhaltspunkte gefunden hast, die uns zu den Urhebern des Graffitis führen.“

Friedel räusperte sich.

„Ja, natürlich, entschuldige bitte. Also, was haben wir da?“

Christina hörte durch das Telefon, wie Friedel in die Tastatur seines Computers hackte.

„Genau, da war etwas. Auf der Website der Passauer Tierrechtsunion habe ich etwas gefunden. Die Passauer Tierrechtsunion ist ein, wie ich herausgefunden habe, in der Szene sehr umtriebiger Verein, und deren Website ist vom Feinsten, absolute Profiarbeit. Ich habe keine Zugriffszahlen, aber in der Regel haben solche Websites hohen Traffic. Erkennt man an den Werbeschaltungen, an der Navigation, am Content. Wie gesagt, eine der besten Websites, die ich in letzter Zeit gesehen habe. Die haben auch einen ein bisschen versteckten Bereich, wo man Bildmaterial betrachten kann.“

„Was heißt, ein bisschen versteckt? Kommt man da nur als angemeldeter Benutzer hinein?“

„Nein, diese Bilderseiten sind schon voll öffentlich zugänglich, aber es führt nur ein einziger Link auf einer Website mit über hundert Einzelseiten in diesen Bereich. Das meine ich mit versteckt. Ich habe diesen Link nur gefunden, weil ich systematisch nach Bildmaterial gesucht habe. Klickt man den Link, öffnet sich ein ziemlich umfangreiches Archiv an Fotos und Videos.“

„Was sind das für Fotos?“

„Bilder von Versuchstieren in Labors, von Opfern von Tierquälern, von Tieren in Massenställen und von Schlachthöfen. Also vor allem die Videos aus den Schlachthöfen sind extrem hartes Zeug, weil wer von uns weiß schon, wie es in einem Schlachthof wirklich zugeht. Habe ein Video aus der Tötungskammer eines Schweineschlachthofes gesehen. Verdammt blutige Sache. Zum Teil sind da zehn oder fünfzehn Jahre alte Fotos und Videos dabei, manche sind noch älter. Es gibt eine ganze Serie von Filmen aus den USA. Viele aus Großbritannien. Aber das neueste Material, sozusagen der heißeste Stoff, stammt durchwegs aus Mitteleuropa.“

„Sind die Fotos und Filme beschriftet?“

„Na ja, auf der Website gibt es ein Register, da steht immer das Land und die Jahreszahl dabei. Und ich habe den Eindruck, dass diese Angaben stimmen. Habe dir übrigens gerade den Link zu dieser Sammlung geschickt. Das ist eine Online-Bibliothek der industriellen Tiernutzung, genau so nennen die Herausgeber diese Sammlung auch. Und es gibt da mehrfach Warnhinweise, dass die Fotos und Filme Tierleid zeigen und nur von Erwachsenen angesehen werden sollten.“

„Was ist jetzt mit diesen aktuellen Bildern aus Mitteleuropa?“

„Derzeit scheint ein fleißiges Filmteam unterwegs zu sein, das in Österreich, Süddeutschland, Norditalien und Slowenien in Ställe und Schlachthöfe steigt, um dort Bilddokumentationen anzulegen, die dann auf der Website der Passauer Tierrechtsunion publiziert werden. Und mehrere Filme zeigen auf verschiedene Arten die Buchstaben FH. Mal sieht man ein mit Kreide auf den Asphalt geschriebenes Graffiti, mal sieht man in Nahaufnahme, wie mit einem Suppenlöffel die Lettern FH aus einer Buchstabensuppe herausgeholt werden, mal sind die Buchstaben mit einem Stecken in frischen Neuschnee geschrieben. Solche Dinge. Ziemlich kreativ.“

„Die Visitenkarte des Filmteams.“

„Ja. Ich habe ganz einfach per E-Mail bei diesem Verein angefragt, was denn das Kürzel FH heißen soll, aber bis jetzt habe ich keine Antwort erhalten. Wenn nötig, kann man da bestimmt mit den deutschen Kollegen aus Passau genauer nachhaken.“

Christina hatte während Friedels Ausführungen die Website der Passauer Tierrechtsunion geöffnet. Tatsächlich fand sie eine stilsicher gestaltete Startseite in dezenter Farbgebung, mit erstklassigen Bildern und einer übersichtlichen Navigation. Sie zog die Augenbrauen hoch und klickte einen der auf der Startseite gelisteten Artikel an.

„Habe gerade die Website geöffnet und diesen Artikel über ein neues Tierasyl in Leonstein angeklickt“, erläuterte Christina.

„Ja, den Artikel habe ich auch gelesen. Das Porträt einer jungen Veterinärmedizinerin, die auf dem Bauernhof ihrer Eltern ein Heim für geschundene Tiere errichtet hat. Ziemlich großer Bericht mit vielen Fotos.“

„Wie ich gerade sehe. Leonstein, das ist nicht weit von Steyr. Da schau her, der Rosskogelhof ist das! Den kenne ich, da bin ich schon das eine oder andere Mal vorbeigeradelt.“

„Du radelst?“

„Regelmäßig.“

„Ich muss auch wieder mehr Sport betreiben. Immer nur vor dem Rechner sitzen, ist auch nicht das Wahre.“

„Hast du das Filmteam irgendwo lokalisieren können?“

„Leider nein. Mitteleuropa, mehr weiß ich nicht. Aber ich habe mir die Akten über den Einbruch in den steirischen Geflügelhof angesehen. Die Täter, die dort das Graffiti aufgesprüht und die Tür zum Stall aufgebrochen haben, sind mit Fahrrädern unterwegs gewesen. Es gab eindeutige Spuren von zwei Fahrrädern und Fußabdrücke im feuchten Boden. Von der Schuhgröße her müssen es eher zwei Männer gewesen sein. Mehr als diese Spuren wurde aber nicht gefunden, und natürlich sind eine Schmiererei auf einem Industriegebäude und eine aufgeknackte Stalltür ein marginales Delikt. Die Jungs waren ratzfatz wieder weg und haben keinerlei Spuren hinterlassen, die auf ihre Personen schließen lassen.“

„Sehr viel ist das nicht.“

„Wenn du in Wien nachfragst? Die Tierschutzszene wurde doch nach Strich und Faden durchleuchtet. Vielleicht wissen die Wiener längst, wer hinter dem Kürzel FH steckt.“

Christina wiegte den Kopf.

„Na ja, da frage ich nur an, wenn es wirklich nicht anders geht. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte, dass das Filmteam FH auch nur das Geringste mit dem Graffiti auf dem Lager der Bernsteiner Fleischwaren AG zu tun hat.“ „Da hast du allerdings Recht.“

„Na gut, Friedel, ich danke dir für die Informationen. Wenn ich wieder etwas von dir brauche, rufe ich dich an. Tschüs.“

„Na klar. Tschüs.“

Christina legte den Hörer auf den Apparat und kratzte sich mit dem Bleistift am Kopf. Worum ist es überhaupt gegangen? Sie kämpfte mit dem Durcheinander in ihrem Kopf. Jetzt nur nicht den Überblick verlieren, flüsterte sie sich zu.