Slaveya entdeckte den Lieferwagen mit der großen Aufschrift „Steyrtalerhof“, fuhr darauf zu und stellte ihren Wagen auf den Nachbarparkplatz. Wendelin stieg aus dem Lieferwagen und ließ sich auf den Beifahrersitz des weinroten Kleinwagens fallen. Slaveya schaute Wendelin nicht an.
„Kriege ich keinen Begrüßungskuss?“
Slaveya regte sich nicht, sie ließ ihren Blick über den weitläufigen Parkplatz eines Supermarkts streichen. Sie hatte ihn angerufen und um ein Treffen an einem unverdächtigen Ort gebeten, er hatte diesen Parkplatz vorgeschlagen.
„Hast du mit dieser Polizistin gesprochen?“
Wendelin musterte Slaveya von der Seite und entdeckte keinerlei Lächeln, keinerlei Albernheit, keinerlei Koketterie an ihr, ihre Züge schienen aus dunklem Nussholz geschnitzt. Sie war auch völlig ungeschminkt und ihr Haar war nur zu einem losen Zopf gebunden.
„Hast du auch mit ihr gesprochen?“
„Sie hat mir einen Besuch abgestattet.“
Wendelin warf seine Augenbrauen in Wellen.
„Warum das?“
„Sie hat mich nach dir befragt“, sagte Slaveya und schaute nun Wendelin direkt an.
Der Blick brannte sich wie eine düstere Drohung in seine Stirn.
„Was ist mit dir? Du wirkst so angespannt.“
Slaveya schaute wieder durch die Windschutzscheibe in die Ferne.
„Dinge geschehen, Wendelin, keine guten Dinge.“
„Ich verstehe kein Wort!“, rief er aus.
Slaveya dachte nach. Hatte sie jemals einen Mann getroffen, der nicht gelogen hatte? Niemals. Sie logen, stahlen, demütigten und vergewaltigten. Und manchmal mordeten Männer. Und Frauen? Slaveya schwieg eine ganze Weile.
„Warum hast du mich angerufen?“, fragte Wendelin mit steigendem Groll. Slaveya holte tief Luft.
„Was weißt du über meine Kunden?“
Wendelin rutschte nervös auf dem Sitz hin und her. Diese Unterredung traf gar nicht seinen Geschmack.
„Was sollen diese Fragen, Slaveya? Was hat dir diese Polizistin gesagt?“
„Du gibst mir keine Antworten.“
„Du mir ja auch nicht.“
„Also, was weißt du über meine Kunden?“
„Scheiß drauf!“, brach Wendelin wütend hervor. „Ich weiß nichts! Du führst dein Leben, ich führe meines, das war von Anfang an unsere Vereinbarung. Ich habe mich daran gehalten!“
Wer von ihnen beiden log nun? Slaveya wusste es nicht. Oder logen weder er noch sie? War alles bloß eine dumme Verwechslung? Ein peinliches Versehen? Sie fürchtete, den Überblick zu verlieren. Oder hatte sie ihn schon verloren? Sie wusste nur eines, sie musste fort von hier, weit fort, mit allem brechen, wieder flüchten, wieder wegrennen, wieder sich irgendwo verstecken. War es ihr Fluch, eine Heimatlose zu sein, in einem begehrenswerten Körper festzustecken, keinerlei Persönlichkeit entwickeln zu können, ein seelenloses Spielzeug zu sein? Slaveya trat die Kupplung durch, legte den Gang ein und startete den Motor.
„Ich bereue keinen Augenblick mit dir, Wendelin. Lebe wohl.“
Sie hörte nicht mehr seine Worte, seine Beschwörungen, seine Drohungen, sie wartete, bis er ausgestiegen war, dann stieg sie tief ins Gaspedal. Ein Windstoß fuhr in das Kartenhaus.