„Entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe.“
Wendelin Sattler verzog seinen Mund und trat zur Seite.
„Kommen Sie herein. Wollen Sie einen Kaffee?“
„Vielen Dank, Herr Sattler, ich habe heute schon Kaffee getrunken, aber lassen Sie sich nicht aufhalten, wir können auch sprechen, während Sie eine Tasse trinken.“
„Gut, dann gehen wir in die Küche.“
Christina folgte Wendelin in eine geräumige Küche, der man ansah, dass sie ebenso erstklassig ausgestattet wie selten benutzt war. Wahrscheinlich aß der Mann häufig im Steyrtalerhof. Wendelin betätigte die Tasten der Kaffeemaschine und wartete, bis duftende schwarze Flüssigkeit in die Tasse tropfte. Der Mann war angeschlagen, das war eindeutig zu erkennen. Seine geröteten Augen ließen auf hohen Alkoholkonsum und wenig Schlaf schließen, an diesem Morgen sah Christina dem Mann erstmals seine siebenundvierzig Lebensjahre an.
„Sie haben also noch eine Frage an mich. Bitte setzen Sie sich doch“, sagte Wendelin und nahm am Küchentisch Platz.
Christina folgte der Einladung.
„Herr Sattler, kennen Sie Selma Felder persönlich?“
„Persönlich würde ich es nicht nennen, drei- oder viermal haben Herr Felder und sie im Steyrtalerhof gegessen. Da habe ich auch ein paar Worte mit Selma Felder gewechselt. Eine auffällige Frau, wenn ich das so sagen darf.“
„Inwiefern auffällig?“
Wendelin wiegte den Kopf.
„Einmal hat sie ein Kleid getragen, das ich eher als Dessous bezeichnen würde. Ihr Auftritt hat unter den männlichen Gästen und Mitarbeitern für gehörige Aufregung gesorgt. Die anwesenden Damen haben ihre Ehemänner praktisch an die Leine nehmen müssen.“
„Wie hat sich Herbert Felder in dieser Situation verhalten?“
Wendelin hielt seine Faust vor den Mund und räusperte sich geräuschvoll.
„Bitte, ich will das Ehepaar Felder hier nicht in Verruf bringen, vor allem unter so tragischen Umständen, aber Herr Felder hat den Auftritt seiner Frau offensichtlich genossen, und zwar so genossen, dass die beiden auf der Damentoilette lautstark gevögelt haben. Ich habe die Hälfte meiner Leute aufbieten müssen, um die Toilette vor den anderen Gästen abzuschirmen. Wir konnten einen Skandal gerade noch verhindern. Eine Woche darauf hat Herr Felder an das gesamte Team eine Sonderprämie ausgeschüttet, ich habe sogar ein zusätzliches Monatsgehalt erhalten. Der Spaß war ihm also wirklich etwas wert.“
Christina sinnierte eine Weile vor sich hin. In dieser Zeit leerte Wendelin seine Tasse und ließ die Kriminalpolizistin in seiner Küche nicht aus den Augen.
„Haben Sie gestern Abend getrunken, Herr Sattler?“
„Na ja, als Gastronom lässt es sich oft nicht verhindern, mit den Gästen zu trinken.“
„Ich habe Sie noch nie betrunken gesehen.“
Wendelin zuckte mit den Schultern.
„Frau Inspektor, ich bin volljährig und weiß genau, wann ich in ein Taxi steigen muss. Sie werden mich hoffentlich nicht wegen ein paar Promille festnehmen.“
Christina fand sein Mienenspiel abstoßend. Hatte sie ihn durch die Frage verletzt? Oder etwas aufgewühlt, was im trüben Teich des Vergessens auf den Grund hätte sinken sollen?
„Wie ist Ihre Beziehung zu Slaveya Koleva?“, stieß Christina nach.
„Muss ich Ihre Fragen beantworten?“
„Sagen Sie mir einen guten Grund, weswegen Sie es nicht tun sollten.“ „Weil ich Ihnen über meine Privatangelegenheiten keinerlei Rechenschaft schuldig bin. Weil ich mit Ihnen eigentlich überhaupt nicht sprechen möchte. Und weil ich befürchte, dass Sie sich irgendwelche Theorien zusammenreimen, die mit der Realität nicht das Geringste zu tun haben. Das sind schon drei Gründe!“
Christina nickte mit verkniffenen Lippen. Volltreffer also, über die Beziehung zur bulgarischen Edelprostituierten wollte er nichts sagen. Brachte sie das irgendwie weiter? Musste sie härtere Bandagen anlegen?
„Frau Koleva sagt, sie wären kein Kunde, sondern ihr Freund. Haben Sie sich der Zuhälterei schuldig gemacht?“
Wendelin rückte stoßartig mit dem Sessel nach hinten und verschränkte mit böser Miene seine Arme.
„Sind Sie verrückt? Ich ein Zuhälter! Das kann doch nur ein beschissener Witz sein!“
„Lieben Sie Frau Koleva?“
„Ich sage ohne meinen Anwalt überhaupt nichts mehr!“
„Bitte, rufen Sie Ihren Anwalt an. Das Recht steht Ihnen zu.“
Wendelin rührte sich nicht, er starrte finster zu Boden. Christina wartete, bis sich seine Wut etwas verflüchtigt hatte.
„Herr Sattler, kennen Sie die Kunden von Frau Koleva?“
Der Mann blickte nun Christina in die Augen.
„Nein. Sie hat mich gebeten, nicht danach zu fragen. Ich habe das akzeptiert. Ihr zuliebe.“
Er war störrisch, völlig unnahbar, Christina wusste nicht, ob er log oder nicht.
„Dann wissen Sie also auch nicht, dass Herr Felder ein Kunde von Frau Koleva war?“
Wendelins Miene zeigte sich brüchig.
„Habe ich nicht gewusst.“
„Haben Sie gewusst, dass Herr Felder etwa zwei Stunden vor seiner Ermordung Frau Koleva einen Besuch abgestattet hat?“
Wendelin sprang hoch und stellte sich zum Fenster. „Lassen Sie mich endlich in Ruhe! Ich wünschte, ich hätte das fette Schwein getötet! Aber ich habe es nicht getan! Und jetzt raus hier! Raus!“ Christina fluchte in sich hinein. Entweder hatte er es wirklich nicht getan oder er hatte sich nicht verraten. Sie war um keinen Schritt weitergekommen.
„Guten Tag, Herr Sattler.“
Ihre Schritte flogen über die Treppe. Weiter, weiter fiebrig in den Tag hinein.