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Über Geld, soviel war eindeutig klar, redete man hier nicht, Geld hatte man. Das Büro schien aus einer Zeitschrift für todschicke Innenarchitektur ausgeschnitten und in dreidimensionale Wirklichkeit gestülpt worden zu sein. Eine solche Toilettenanlage hatte sie zuletzt in einem Fünf-Sterne-Hotel gesehen, in dem sie allerdings nicht logiert, sondern sich aus dienstlichen Gründen aufgehalten hatte. Christina warf das Papierhandtuch in den Mülleimer, verließ den Abort und trat wieder an den Schreibtisch der Sekretärin.

„Vielen Dank, dass ich Ihre Toilette benutzen durfte.“

„Das ist doch selbstverständlich. Der Herr Doktor kann Sie jetzt empfangen.“

Die Sekretärin erhob sich und öffnete die Tür zu einem geräumigen Büro.

„Vielen Dank“, sagte Christina zur Sekretärin und trat durch die Tür.

„Guten Tag, Frau Inspektor.“

„Guten Tag, Herr Doktor.“

Der Mann kam um seinen Schreibtisch herum, reichte Christina die Hand und rückte den Stuhl für sie zurecht.

„Also, was kann ich für Sie tun?“

Er verwendete exquisites Rasierwasser, der Ausblick aus dem Fenster war sehenswert und sein Anzug musste ein Vermögen gekostet haben. Erstaunlich für einen Tierarzt, denn eigentlich erwartete man Tierärzte eher im Drillich, in Gummistiefeln und mit einem Koffer in der Hand im Stall oder im weißen Kittel in der Praxis bei der Behandlung der Wehwehchen süßer Schoßhunde. Christina holte Luft.

„Herr Traxler, vielen Dank, dass Sie sich ein bisschen Zeit für mich nehmen. Also, ich bin damit beauftragt, das Ableben von Herbert Felder zu untersuchen, und in diesem Zusammenhang bin ich auch auf Ihren Namen gestoßen.“

„Ich verstehe, Sie arbeiten sich systematisch durch das private und berufliche Umfeld des Toten.“

„Genau. Beschreiben Sie bitte die Beziehung, in der Sie zu Herbert Felder standen.“

Der Tierarzt legte seine Lesebrille ab und rieb sich die Nasenwurzel.

„Es war eine Geschäftsbeziehung. Herr Felder und ich haben uns alle sechs bis acht Wochen getroffen, meist in seinem Büro, und haben fachliche Dinge besprochen.“

„Worum ging es da?“

„In erster Linie um die Versorgungssicherheit der hiesigen Fleischproduktion.“

„Also um die Gesundheit der Masttiere, ist das richtig?“

„Auch um die Gesundheit, aber das war nicht der einzige Aspekt. Es ging auch um Liefertermine, um strategische Marktorientierung, um den Einkauf von Futtermitteln und Betriebsmaterial. Wie Sie bestimmt wissen, Frau Inspektor, ist die Bernsteiner Fleischwaren AG ein in der Branche großer Konzern mit mehreren Produktionsstandorten, einem leistungsfähigen Zentrallager und mit ausgeklügeltem Vertriebsnetz. Neben meiner tierärztlichen Praxis werde ich von den Behörden als unabhängiger Sachverständiger immer wieder mit der Prüfung von Fleischverarbeitungsbetrieben hinsichtlich der Einhaltung von hygienischen Normen und des Tierschutzgesetzes betraut. Das heißt, zu meiner Arbeit gehört es unter anderem, mich regelmäßig mit den österreichischen Fleischverarbeitern zu treffen und ihre Anlagen zu inspizieren.“

„Gab es in dieser Hinsicht Probleme mit der Bernsteiner Fleischwaren AG?“

Traxler schüttelte den Kopf.

„Keine Probleme. Wirklich, ich würde mir wünschen, dass alle Fleischverarbeitungsbetriebe, die ich besuchen muss, auf einem derart hohen Stand der Technik geführt werden. Ich darf mich auch mit den Federn schmücken, dass ich als Berater von Herrn Felder mitverantwortlich bin, dass die Bernsteiner Fleischwaren AG zu einem europaweit führenden Unternehmen geworden ist. Damit meine ich nicht die Umsätze, es gibt in Europa wesentlich größere Unternehmen, sondern ich meine die Hygiene, die Effizienz, Rentabilität und Liefersicherheit. Die Bernsteiner Fleischwaren AG ist ein integraler Bestandteil der Fleischversorgung unseres Landes. Ich betrauere zutiefst den furchtbaren Tod dieses zukunftsorientierten Unternehmers.“

Christina dachte an das laute Geschrei der Sauen auf dem Rosskogelhof, an die in den Gassen auf und ab flitzenden Regalbediengeräte, an das große Graffiti an der Lagerwand, an den schönen Garten und die prächtige Villa in Aschach an der Steyr und an den zerrissenen Körper des zukunftsorientierten Unternehmers Herbert Felder. Erstaunlich, wie man ein und denselben Gegenstand so unterschiedlich beschreiben konnte, je nachdem, von welcher Seite man ihn betrachtete. Christina fasste den Mann ihr gegenüber genau ins Auge. Jetzt, von Angesicht zu Angesicht, verstand sie, warum dieser Mann in einem Luxusbüro saß und nicht in einer schäbigen kleinen Tierarztpraxis am Stadtrand. Doktor Traxler war ein blendender Rhetoriker, er wirkte ganz selbstverständlich kompetent und lösungsorientiert, nichts an ihm war gekünstelt, er lebte seine Prinzipien, und diese waren schlau durchdacht und sehr einträglich.

„Verstehe ich das richtig, Herr Traxler? Sie inspizieren die Betriebe, die Sie auch als Berater betreuen? Wie schaut es da mit der Unvereinbarkeit der Interessen aus?“

Doktor Traxlers Lächeln war völlig unbeeindruckt von der Spitze in Christinas Frage, vielmehr lag eine besserwisserische Überlegenheit darin. „Ich bin keine Amtsperson, Frau Inspektor, sondern Unternehmer, das heißt, meine Interessen sind die professionelle Erfüllung der Aufträge meiner Kunden. Wenn mich die Lebensmittelaufsicht, das Gesundheits- oder das Landwirtschaftsministerium beauftragen, ein Gutachten über ein Unternehmen zu verfassen, werde ich das mit maximaler Professionalität erledigen, denn ich will ja wieder Aufträge erhalten. Und wenn ein Unternehmer mir den Auftrag erteilt, ein Firmenkonzept zu entwickeln, werde ich das auch mit maximaler Professionalität tun. Sie müssen wissen, es gibt in unserem Land nicht viele Fachleute in meinem Arbeitsgebiet.“

Christina nickte.

„Kennen Sie Frau Doktor Roswitha Gerstenbauer?“

Nun legte sich ein hintergründiges Lächeln in sein Gesicht.

„Doch, die junge Kollegin ist mir bekannt.“

„Ich habe gehört, dass es einmal eine Auseinandersetzung zwischen Ihnen und Doktor Gerstenbauer gegeben hat.“

Traxler blickte kurz auf seine Armbanduhr.

„Ja, die Begebenheit ist zwei oder drei Jahre her. Ich habe das Wortduell, so muss man es nennen, noch lebhaft in Erinnerung. Die auffällig kluge und, erlauben Sie das Wort, überaus charmante junge Kollegin hat mich einen Technokraten, einen Tiermörder und ich weiß nicht was sonst noch alles geheißen. In einem bis auf den letzten Platz vollen Hörsaal. Das war sehr mutig von ihr. Frau Inspektor, mein Beruf ist sehr anspruchsvoll, ich muss ein striktes Zeitmanagement anwenden, daher kann und will ich mir wenig Zeit für die drolligen Ideen und idealistischen Luftschlösser der sogenannten Tierschützer nehmen.“

Christina verstand Traxlers Worte, Mimik und Gestik eindeutig, für Plaudereien über Tierschützer hatte er wenig Lust, und nur ausnahmsweise und weil sein Gast eine Kriminalpolizistin im Dienst war, nahm er sich etwas Zeit.

„Vielleicht nur so viel. Ich habe die Evolution nicht gemacht, und seit die hauptsächlich, aber gerade eben nicht ausschließlich herbivore Art des grazilen Australopithecus das Licht der afrikanischen Sonne erblickt hat, essen Hominini Tiere. Die aus dem Australopithecus entwickelte Art Homo erectus war definitiv omnivor, und der aus dem Homo erectus hervorgegangene Homo sapiens, eine evolutionär einzigartig erfolgreiche Art, wie Sie wissen, ist auch seit etwa zweihunderttausend Jahren ein Omnivore. Und es geht gut, meinen Sie nicht auch, Frau Inspektor? In Österreich verhungern sehr wenige Menschen, im Gegenteil, die Lebenserwartung steigt kontinuierlich. Das hat viele Gründe, hochentwickelte Medizin, stabile Rechtssysteme, ausreichend Arbeit für die Menschen, aber natürlich auch erstklassige Nahrungsmittelversorgung. Getreide, Gemüse, Milch und Fleisch, und das nicht nur für ein paar Bauern und Hirten der Antike, sondern für viele Millionen Menschen. Sollte sich Homo sapiens in den nächsten zweihunderttausend Jahren zu einem herbivoren Säugetier weiterentwickeln und Frau Doktor Gerstenbauer und ihre veganen Freunde sind die Vorreiter dieser evolutionären Tendenz, dann soll es mir recht sein! Ich bin Naturwissenschaftler! Die Evolution bevorzugt immer das effizientere Überlebenskonzept, ich sehe das leidenschaftslos. Derzeit aber, Frau Inspektor, müssen wir allein in der EU rund fünfhundert Millionen Omnivoren ernähren. Wie soll das anders gehen als mit industriell organisierter Tierhaltung?“

Der Mann hörte sich gerne reden, so viel war klar, und er argumentierte innerhalb seines Weltbildes konsistent. Christina wischte ihre Gedanken zur Seite und fokussierte sich auf ihre Aufgaben.

„Herr Traxler, Sie haben ein Stichwort genannt, das mir am Herzen liegt. Stabile Rechtssysteme. Ich bin keine Naturwissenschaftlerin, sondern ich beschäftige mich mit stabilen Rechtssystemen. Und wir wissen eindeutig, dass Herbert Felder ermordet worden ist. Das ist eine grobe Verletzung unseres Rechtssystems.“

Bernhard Traxler nickte anerkennend, Christinas Äußerung fand offenbar sein Gefallen. Fand sie aber Gefallen an diesem Mann und seiner Arbeit? „Wo waren Sie am letzten Freitagabend?“

„In Hamburg. Ich bin am Donnerstag am frühen Morgen abgeflogen und war bis Samstagmittag im Hamburg. Es fand eine Fachtagung europäischer Veterinärmediziner statt, ich durfte mehrere Vorträge hören, habe an einer Podiumsdiskussion teilgenommen und musste mehrere Interviews geben. Ich habe von Herberts Tod erfahren, als ich am Samstagnachmittag zuhause die Radionachrichten gehört habe.“

„Das ist eine reine Formalität, aber bitte zeigen Sie mir die Bordkarten und die Hotelrechnung.“

„Selbstverständlich, meine Sekretärin wird Ihnen die Belege heraussuchen.“

„Was passiert jetzt mit der Zusammenarbeit zwischen Ihnen und der Bernsteiner Fleischwaren AG?“

Traxler hob abwehrend die Hände.

„Kann ich noch nicht genau sagen. Wir alle sind vom tragischen Todesfall so benommen, dass wir bestimmt noch eine Weile an einer zukunftsorientierten Strategie werden arbeiten müssen.“

Christina war sich ihrer Empfindungen diesem Mann gegenüber nicht im Klaren. Seltsamerweise fand sie seine Selbstherrlichkeit und Arroganz nicht abstoßend, obwohl gerade diese Eingenschaften immer dann, wenn sie ihnen begegnete, Ablehnung in ihr auslösten. Nun, sie fand auch nicht das Geringste an Liebenswürdigkeit an diesem Mann. Er versetzte Christina durch seine schiere Anwesenheit, durch seine Stimme und den Inhalt seiner Worte in einen merkwürdigen Zustand völliger Emotionslosigkeit. Ein kalter Technokrat, das hatte Roswitha Gerstenbauer über diesen Mann gesagt, und offensichtlich das Wort treffend gewählt. Christina warf das linke Bein über das rechte und strich den Stoff ihrer Hose glatt.

„Eines noch, Herr Traxler, und das betrifft auch die Stabilität unseres Rechtssystems. Wir haben im Zuge der Ermittlungen Verdachtsmomente gefunden, die nahelegen, dass Herbert Felder in beträchtlichem Umfang minderwertige oder sogar schadhafte Ware mit gefälschten Gutachten als Vorzugsware ausgegeben und mit hohem Profit verkauft hat. Ist Ihnen diesbezüglich jemals etwas zu Gehör gekommen?“

Die Miene des Tierarztes war wie aus weißem Marmor gemeißelt.

„Davon weiß ich nichts.“

„Bei den Funden, die wir gemacht haben, taucht auch immer wieder Ihr Name auf.“

„Das kann ich mir nicht erklären.“

Damit hatte Christina gerechnet. Der Mann stünde nicht da, wo er stand, nämlich an einer belebten Kreuzung von Macht und Geld, wenn er nicht über das entsprechende Rüstzeug dafür verfügte. Christina erhob sich und verzichtete auf weitere Fragen zu den schmutzigen Geschäften der beiden Herren Felder und Traxler, denn diese Geschäfte waren nicht ihr gegenwärtiger Fall. Sie schob unter Traxlers lauernden Blicken den Stuhl wieder an den Schreibtisch.

„Herr Traxler, ich denke, Sie werden Ihre Rechtsanwälte schon in Stellung gebracht haben. Das ist gut so, denn Sie werden Rechtsbeistand benötigen. Ein Rechtssystem wäre nicht sehr stabil, wenn es nicht für alle gelten würde.“ Traxler lehnte sich distanziert blickend zurück und verschränkte seine Finger über dem Bauch.

„Ich verstehe Ihre Andeutungen nicht, Frau Inspektor. Was wollen Sie mir sagen?“

Christina legte den Gurt ihrer Handtasche über ihre Schulter.

„Nicht mehr, als ich schon getan habe, wirklich nicht mehr. Danke für das erhellende Gespräch, Herr Doktor. Guten Tag.“