Christina ließ sich auf den Drehsessel fallen und klatschte ihr Notizbuch auf den Schreibtisch. Sie blätterte ihre Aufzeichnungen durch. Es war knapp vor elf Uhr und sie hatte schon ein beachtliches Pensum abgespult, Gerstenbauer, Ebner, Traxler, drei Gespräche hatte sie schon geführt. Nur Benjamin Felder hatte sie nicht angetroffen. Sollte sie eine Tasse Kaffee trinken? Christina entschied sich dagegen. Sie hatte in den letzten Tagen ohnedies viel zu viel Kaffee getrunken, sie bemerkte schon, wie ihr Magen gegen den Gedanken an einen Espresso aufbegehrte. Wasser, einfach nur klares, kaltes Leitungswasser, damit würde sie sich laben. Christina füllte ihren Wasserkrug am Hahn, schnappte ein frisches Glas und setzte sich wieder an den Arbeitstisch. Es klopfte an der offen stehenden Tür.
„Hallo, Christina“, grüßte Raimund Brandstätter und trat, ohne auf eine Aufforderung zu warten, in das Büro. „Habe dein Auto auf dem Parkplatz gesehen und mir gedacht, ich schaue auf einen Sprung vorbei, bevor ich wieder losfahre.“
„Raimund, komm nur herein. Lenk mich ab und heitere mich auf!“
„Du meinst, als Kasperl und Wachtmeister Dimpfelmoser in Personalunion gebe ich eine gute Figur ab?“
Christina schmunzelte.
„Allemal! Wenn du dann auch noch den Räuber Hotzenplotz findest und festnimmst, dann kann die Großmutter, in diesem Fall also ich, den Gugelhupf backen.“
Raimund nahm vor dem Schreibtisch Platz. Das Lächeln auf seinen Lippen stand in einem auffälligen Kontrast zu den Falten auf seiner Stirn. „Warte noch mit dem Gugelhupf. Ich habe zwar den frechen Hotzenplotz hinter Schloss und Riegel, aber bei seinen Kumpanen sind wir noch nicht durch. Auch wenn wir vorankommen. Bis jetzt haben wir Anzeigen gegen vier Würstelstandbetreiber und einen Gastwirt. Der Stefan Mayer war beim Aufziehen von Geschäften ziemlich fix. Jetzt fliegt halt alles auf.“
Christina lehnte sich zurück und schaute eine Weile in die Blätter des Ficusbäumchens auf ihrem Schreibtisch.
„Ich habe da so eine kleine Theorie, die uns zwar nicht weiterbringt, mit der ich mich halt ein bisschen beschäftigen kann, so lange, bis irgendeiner einen Fehler macht, wir Glück haben oder der Fall in den Akten verschwindet.“
„Na, lass deine Theorie hören“, forderte Raimund Christina auf.
„Der Mayer hat spitz gekriegt, was sein oberster Chef für miese Geschäfte macht, du weißt schon, der Etikettenschwindel und diese Dinge, und er hat sich gedacht, wenn der Herr Generaldirektor so leicht Geld machen kann, dann kann das ein cleverer Schichtleiter auch. Und so hat er mit seiner Gangsterei angefangen.“
„Wie man so schön sagt, der Fisch stinkt vom Kopf.“
„Es ist nur eine Theorie.“
„Auf der Basis der menschlichen Natur und dem, was ich davon in meinen einundfünfzig Lebensjahren kennengelernt habe, würde ich sagen, eine Theorie aus dem Leben.“
Für eine Weilchen lag Stille im Büro.
„Du bist also noch nicht wirklich weitergekommen“, stellte Raimund fest. Christina zuckte mit den Schultern.
„Ein Ringelspiel. Indizien, Verdachtsmomente, Berichte der Spurensicherung, Motive, die noch fällige Autopsie, sie alle fahren hurtig im Kreis und mir saust langsam der Kopf.“
„Lass dich nicht unterkriegen.“
„Eh nicht, ich muss nur geduldig sein, aber gerade damit habe ich so meine Probleme. Ich kriege eine Riesenwut, wenn ich daran denke, dass da immer noch ein Mörder herumläuft und entweder von mir gar noch nicht bemerkt worden ist oder mir bisher erfolgreich Lügen auf das Auge gedrückt hat.“
Raimund nahm seine Dienstmütze vom Kopf und legte sie auf den Schreibtisch.
„Ich halte mich an die alten Lehren, Christina. Mord und Totschlag werden immer nur aus zwei Gründen ausgeführt. Liebe oder Geld. Was geht, sind Mischformen der beiden Grundkonstanten.“
Christina verdrehte die Augen.
„Sowohl Geld als auch Liebe sind im gegenwärtigen Fall ausreichend vorhanden.“
„Was ist mit dieser bulgarischen Prostituierten?“
„Slaveya Koleva“, sagte Christina, „ist sehr wahrscheinlich die letzte Person, die Herbert Felder von Angesicht zu Angesicht gesehen hat, außer seinem Mörder natürlich. Sie hätte ein Motiv und in ihrem Haus die Gelegenheit gehabt, ihn zu töten, hat es aber nicht getan. Wenn die Koleva Felder ermordet hätte, dann würden wir seine Leiche nie wieder finden. Ganz sicher hat sie den einen oder anderen guten Kontakt zu organisierten Banden, die für entsprechendes Kleingeld Leichen auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen. Die Sache mit dem Regalbediengerät passt absolut nicht zu dieser Frau.“
„Wann steht die nächste Besprechung auf dem Programm?“
„Morgen zehn Uhr.“
„Und wird die Faschingsgilde wieder vollzählig antreten?“
„Davon kannst du ausgehen.“
„Na dann, viel Spaß. Da bleibe ich lieber im Bezirk bei meinen Burschen und fange Hendldiebe.“
Christina stimmte versonnen nickend zu.
„Kann ich irgendwie nachvollziehen. Ich denke mir auch manchmal, ich hätte meinen früheren Job nicht aufgeben sollen.“
Raimund richtete sich auf und schaute Christina interessiert an. „Früherer Job? Bist du nicht lebenslang bei der Polizei so wie ich?“ Christina verschränkte die Arme.
„Nein, ich habe etwas vom wirklichen Leben auch gesehen, nicht nur vom polizeilichen.“
„Ha, das wirkliche Leben, das beginnt bei mir, wenn ich auf meiner Terrasse sitze und abends ein kühles Blondes hebe. Jetzt bin ich aber neugierig geworden. Was hast du vor deinem Polizeidienst gemacht?“
„Geh hör auf! Hab ich nicht gewusst.“
„Eine Frau braucht auch ein paar Geheimnisse.“
„Aber nicht vor mir, gell?“
Christina schaute zum Fenster hinaus.
„Ich habe im Lorenz-Böhler-Unfallkrankenhaus in Wien gearbeitet. Zuerst in der Ambulanz, bald aber im OP. Dann war ich ein Jahr im Hubschrauber.“
Raimund verzog das Gesicht.
„Herrjemine, im Hubschrauber! Immer mitten hinein in die dampfende Scheiße, das ist unsere Christina.“
„Irgendwer muss die zerlegten Motorradfahrer und achtzehnjährigen Discopiloten ja von der Straße kratzen. Aber als ich schwanger wurde, habe ich damit aufgehört.“
Raimund spitzte die Ohren.
„Das hast du mir noch nicht erzählt.“
Christina verschränkte die Hände hinter dem Nacken.
„Ich rede nicht gerne von mir.“
„So viel weiß ich auch schon.“
„Es war ein Bub. Zwei Wochen vor der Entbindung ist er gestorben. Wahrscheinlich ein Herzfehler. Tja, Kind weg, Partner weg, war eine blöde Zeit. Danach bin ich aus Wien weggezogen und zur Polizei gegangen. Irgendwie habe ich mich drei Jahre durch das Leben gewurstelt, und als ich mich stark genug gefühlt habe, bin ich zu den Kriminalern gegangen. Hier sitze ich nun. Was ist, Raimund? Schau nicht so betroffen! So schlecht geht es mir gegenwärtig nicht.“
Raimund langte nach seiner Mütze.
„Hast eh Recht. Und traurige Geschichten können wir alle erzählen, nicht wahr?“
„Eben.“
„Darum, liebe Frau Kollegin, solltest du niemals meine Lebenslehre vergessen!“, mahnte Raimund.
„Deine Lebenslehre? Was meinst du?“
„Na, das kühle Blonde auf der Terrasse! Du kannst auch ein Glaserl Roten oder Weißen nehmen, wenn dir Bier nicht schmeckt. Ich bin da flexibel.“ Christina schmunzelte.
„Eine solche Lebenslehre werde ich mir gerne merken, großer Meister.“
Raimund zwinkerte Christina zu und verabschiedete sich. Sie griff nach ihrem Notizblock.