80

Roswitha beendete ihre Arbeit und warf das Klebeband in die Scheibtruhe. Sie trat einen Schritt zurück, stemmte die Fäuste in die Hüften und murmelte unverständliche Flüche vor sich her. Und plötzlich war sie wieder alleine. Wer wusste schon, wann die beiden Irren wieder auftauchten. Auftauchen konnten. Idiotische Geschichte. Sie hatte die unter dem Vordach stehenden Paletten mit den aufgestapelten Zementsäcken mit einer Kunststofffolie abgedeckt, damit bei starkem Regen kein Spritzwasser das Material vor der Verwendung ruinieren konnte. Sie hatte all ihr Geld in die Anschaffung des Baumaterials gesteckt, es wäre eine finanzielle Katastrophe, wenn da etwas verloren ginge. Sie hörte sich nähernde Fahrzeuge. Also doch! Die Jungs haben nicht sinnloses Zeug gesponnen. Da kam die Polizei schon. Roswitha verschränkte die Arme und blickte mit verkniffenen Augen um sich. Ein Streifenwagen postierte sich auf dem Güterweg in den Wald, der andere blieb bei der Zufahrtsstraße stehen, ein dritter Streifenwagen und der ihr schon bekannte schwarze Golf rollten flott auf das Haus zu. Die Kriminalpolizistin und drei uniformierte Männer kamen auf sie zu.

„Guten Tag, Frau Gerstenbauer“, grüßte Christina.

Raimund blieb bei Christina, während zwei seiner Männer ausschwärmten und sich am Hof umschauten.

„Schaut bedrohlich aus“, sagte Roswitha mit spähenden Blicken zu den sich verteilenden Polizisten.

Christina zuckte mit den Schultern.

„Das tut mir leid, Frau Gerstenbauer, aber manche Dinge lassen sich nicht vermeiden.“

„Die Burschen sind nicht da!“

„Tja, das habe ich mir schon fast gedacht. Der Lieferwagen und die Räder sind fort. Wann kommen sie wieder?“

„Keine Ahnung.“

„Haben Sie trotzdem die Freundlichkeit, zu erlauben, dass sich meine Kollegen hier ein bisschen umsehen?“

„Warum sollte ich wohl so freundlich sein?“

„Vielleicht, weil ich mich auch um Freundlichkeit bemühe?“

„Freundlichkeit? Drei Streifenwagen fallen bei Ihnen unter Freundlichkeit?“

Eine leise Note von Verärgerung legte sich in Christinas Miene.

„Nun, ich versuche so freundlich wie möglich zu sein, aber ich habe klar überblickbare Grenzen der Geduld, und wenn die Grenze überschritten ist, bin ich grantig. Das gebe ich zu. Frau Gerstenbauer, ich kann auch einen Hausdurchsuchungsbefehl anfordern und so lange hier die Wachmänner auf Posten belassen.“

„Ist mir herzlich egal, womit Sie unsere Steuergelder verprassen. Ich für meinen Teil finde es eine Riesenfrechheit, dass sie wegen eines lächerlichen Graffitis gleich ein ganzes Bataillon abkommandieren.“

Christina entdeckte die Altbäuerin, die verschreckt und doch neugierig aus dem Haus trat.

„Es geht nicht nur um das Graffiti.“

„Dann hat also Flo doch Recht! Ich habe es nicht glauben wollen, habe ihm gesagt, dass er sich da in etwas hineinsteigert, aber offenbar kennt er sich mit der Polizei besser aus als ich. Sie wollen den Burschen den Mord in die Schuhe schieben, nicht wahr?“

Christina steckte beide Hände in die Taschen ihres Jacketts.

„Frau Gerstenbauer, seien Sie bitte so freundlich und lassen Sie meine beiden Kollegen ins Haus gehen. Vielleicht sitzt ja Herr Klammer in der Stube und wartet, bis wir wieder verschwunden sind, dabei wäre es sehr wichtig, dass er mit mir spricht. Vielleicht reichen ein paar Worte und meine Befürchtungen lösen sich in Luft auf.“

„Ich habe nichts zu verbergen! Ihre Männer können ruhig im Haus, im Stall und in der Scheune nachschauen. Und wie ich schon sagte, die Burschen sind längst fort.“

Raimund winkte seinen Männern, die sich sofort an der Altbäuerin vorbeidrängten und im Haus verschwanden.

„Wo sind die zwei denn hingefahren?“, fragte Raimund mit brummiger, aber nicht unfreundlicher Stimme.

Roswitha zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung! Sie haben es mir nicht gesagt.“

„Hören Sie, Frau Gerstenbauer, wir haben die Autonummer und eine Personenbeschreibung. Früher oder später werden wir sie finden.“

Roswitha nickte Raimund störrisch zu.

„Eher später als früher, würde ich sagen.“

„Sind die beiden mit den Fahrrädern gut?“, fragte Christina.

Roswitha lachte spöttisch.

„Haben Sie dreihundert Mann, dreißig Geländeautos und vier Hubschrauber bei der Hand? Dann hätten Sie vielleicht eine Chance.“

Christina kaute auf ihrer Unterlippe.

„Das passt nicht, Frau Gerstenbauer, ich nehme Ihnen das nicht ab. Warum sollten der Flo und der Hias in die Berge flüchten, wenn Sie nur ein Graffiti auf die Mauer geschmiert haben? Warum hier die Arbeit am Hof vernachlässigen und sich wochenlang im Wald verstecken? Das ist zu viel Aufwand.“

„Wir Tierrechtsaktivisten haben in diesem Land schon einmal erlebt, dass man unsere Leute wegen eines Furzes eingesperrt und vor Gericht gestellt hat. Ich misstraue unserem Polizeiapparat und Rechtssystem.“

„Ist es wegen der Videos?“, hakte Christina nach.

„Welche Videos?“, fragte Roswitha ausweichend.

Christina verzog ihre Miene.

„Frau Gerstenbauer, Sie sind vielleicht eine gute Tierärztin, aber als Lügnerin taugen Sie wenig. FH, das ist das Kürzel in den Videos, Flo und Hias. Das war nicht schwer zu erraten.“

Roswitha schaute nervös geworden um sich.

„Frau Gerstenbauer, ich versichere Ihnen, dass ich meine Kollegen nicht hierhergeführt habe, weil die zwei Herren Videos von Ställen anfertigen, und wenn die Herren glauben, dass ich sie wegen dieser Videos mit einer Großfahndung verfolgen lasse, weswegen eine Flucht in die Berge angeraten scheint, dann irren sie sich ganz einfach. Die Schmierereien und die Videos sind alles Kleinigkeiten für mich, für mich zählt nur, dass Matthias Klammer durch seine Arbeit als Monteur in der Lagerhalle der Bernsteiner Fleischwaren AG ausgezeichnete Ortskenntnisse besitzt. Und Folgendes hat mir Herr Magister Penz, seines Zeichens Projektleiter in der Firma WGM, für die Herr Klammer gearbeitet hat, am Telefon versichert, Herr Klammer weiß sehr gut, wie man die Steuerungssoftware für die Regalbediengeräte benutzt.“

Christina hatte laut, schnell und hart gesprochen, an Roswithas Miene war die Wirkung der Worte klar abzulesen. Christina setzte sofort nach. „Herr Klammer und Herr Stöckel waren in der betreffenden Nacht vor Ort, das wissen wir alle, und sie haben das Graffiti aufgesprüht, schön und gut. Aber was haben sie noch gemacht? Hat Herr Klammer, wozu er technisch absolut in der Lage ist, das Regalbediengerät E, welches Herbert Felder überrollt hat, in Gang gesetzt oder nicht? Das ist alles, was ich wissen möchte!“

Roswitha schnappte nach Luft.

„Ich … ich habe nicht gewusst, dass der Hias dort gearbeitet hat.“

Christina ließ die junge Frau ihr gegenüber nicht aus den Augen. Sie flüsterte nun.

„Und jetzt, Frau Gerstenbauer, sagen Sie uns, wohin die beiden aufgebrochen sind. Ich bitte Sie.“

Annemarie Gerstenbauer trat neben ihre Tochter. Tränen liefen über Roswithas Wangen.

„Ich weiß es nicht genau. In den Süden. Vielleicht nach Slowenien oder Italien. Mehr weiß ich wirklich nicht.“