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Wieder hielt ein teures Auto vor ihrem Haus, wieder entstieg dem Auto ein Mann, dem man seinen Wohlstand von Weitem ansah, ein schicker Anzug, gute Frisur, eine teure Uhr, auf die der Mann blickte. Slaveya schaute auch auf die Uhr. Entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten hatte sich Dimitar diesmal kaum verspätet, wahrscheinlich war er auf der Autobahn zu schnell unterwegs gewesen. Sie öffnete Garten- und Haustür. Der Duft eines exzellenten Rasierwassers umgab den dunkelhaarigen Mann Ende dreißig. Slaveya fiel ihm um den Hals.

„Na, so stürmisch, Cousinchen?“

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich zu sehen.“

Natürlich sprachen sie Bulgarisch. Slaveya trat einen Schritt zurück und musterte ihren Cousin.

„Gut schaust du aus! Du wirst mit jedem Jahr fescher.“

Dimitar zwinkerte ihr zu und schaute sich im Haus um. Dann fasste er Slaveya scharf ins Auge.

„Und du? Was hast du für Probleme?“

Slaveya ignorierte die Frage und führte Dimitar in die Küche.

„Ich mache dir eine Tasse Kaffee. Lass uns ein bisschen plaudern.“

Dimitar war, kaum hatte er Bulgarien in Richtung Westen verlassen, in Kontakt mit einem Pornofilmproduzenten gekommen. Er war Anfang zwanzig, rank und schlank, gutaussehend und muskulös gewesen, er hatte schnell einen Vertrag als Pornodarsteller erhalten. Und er war klug genug gewesen, sich in diesem hektischen Business nicht durch harte Drogen, schöne Frauen und schnelles Geld aufreiben zu lassen, sondern umsichtig an seiner Karriere zu arbeiten. Als er in Europa einen gewissen Bekanntheitsgrad errungen hatte, war er für drei Jahre in das Eldorado der Pornoindustrie, in die USA, gegangen und hatte dort an vielen Produktionen mitgearbeitet. Und er hatte auch das Handwerk des Filmemachens erlernt. Zurück in Europa hatte er, Ende zwanzig, begonnen, sein erspartes Geld in den Aufbau einer eigenen Produktionsfirma zu investieren. Er hatte seine gerade erst achtzehnjährige Cousine Slaveya nach Deutschland gebracht. Und sie war der Star seiner Filme geworden, mit ihren Darstellungen hatte sie seine Firma groß gemacht. Drei Jahre hatten sie gemeinsam gearbeitet und unzählige Filme gedreht, teilweise welche, die er selbst mit seinem eigenen Filmteam aufgenommen hatte, teilweise war er als ihr Manager bei größeren internationalen Produktionen aufgetreten. Und dann war Slaveya spurlos verschwunden.

Die beiden setzten sich. Man konnte ein gewisse Ähnlichkeit an ihnen erkennen, ihre gemeinsame Großmutter hatte Spuren ihrer Gesichtszüge an ihnen hinterlassen.

„Wie laufen die Geschäfte?“, fragte sie mit großen Augen und servierte einen Espresso.

„Mäßig. Viel Konkurrenz. Langsam habe ich die Nase voll, ich muss mir etwas anderes suchen.“

Slaveya setzte sich zu Dimitar an den Küchentisch.

„Ich auch. Ich muss hier raus. Wieder einmal alle Seile kappen. Nur fort.“ Dimitar nickte verstehend. Immer noch plagten ihn Schuldgefühle. Natürlich, er hatte nicht ahnen können, dass man sie in Istanbul entführen würde, es war ein ganz normaler Vertrag gewesen, eine ganz normale Filmaufnahme, alles war wie immer und Slaveya war damals auf dem Höhepunkt ihrer Bekanntheit gewesen, fast wöchentlich hatte er Anfragen für Produktionen hereinbekommen, und das Angebot aus Istanbul war wirklich gut dotiert gewesen, aber er hätte mit ihr fliegen sollen, hätte sie nicht alleine auf die Reise schicken sollen. Die Filmaufnahmen waren nie gemacht worden, vielmehr hatte ein arabischer Milliardär über seine türkischen Helfershelfer gezielt Slaveya in die Falle gelockt. Der Mann war von ihren Filmen begeistert gewesen und hatte sich die schöne Darstellerin einfach für sein Privatbordell geholt. Fast zwei Jahre war Slaveya in einem luxuriösen Bordellgefängnis festgesessen und hatte sich zuerst den Wünschen des Milliardärs, und als sich dieser eine neue Flamme gesucht hatte, den Wünschen seiner Freunde und Geschäftspartner fügen müssen. Frauen aus allen Kontinenten waren in diesem Wüstenbordell gefangen gehalten worden. Nur weil ein deutscher Geschäftspartner des Milliardärs sich in Slaveya verliebt und sie um eine Riesensumme freigekauft hatte, war sie dieser Hölle entkommen. Um in der nächsten Hölle zu landen, denn der deutsche Geschäftsmann hatte sie dann auch als sein Eigentum betrachtet, das er nach Belieben zu benutzen gedachte. Aber sie war in Deutschland nicht mehr hermetisch von der Außenwelt abgeschnitten gewesen und hatte mit Dimitars Hilfe die Flucht ergreifen können.

„Onkel Mladen ist gestorben.“

Slaveya schnappte nach Luft.

„Wann?“

„Vor zwei Wochen. Er ist am Abend zu Bett gegangen und am nächsten Morgen nicht mehr aufgewacht. Ein stiller Tod.“

„Wie alt war er? Achtzig?“

„Zweiundachtzig.“

„Wie geht es meiner Mutter?“

„Es geht ihr gut. Sie lässt sich für das viele Geld bedanken, das du schickst. Und sie sagt, du sollst endlich wieder nach Hause kommen. Zumindest zu Ostern. Sie ist nicht böse auf dich, weil du dich verkaufst, sie hat längst verstanden, dass wir uns in dieser Welt alle verkaufen müssen.“

Slaveya schaute lange in die Kaffeetasse und kippte dann den Rest in ihren Rachen.

„Vielleicht schaffe ich es ja wirklich, sie zu Ostern zu besuchen. Vielleicht.“

„Hast du Geld?“

Sie nickte.

„Genug.“

„Und das Haus? Gehört es dir?“

„Nein, es gehört Johann. Das Haus, die Möbel, die Küche, alles außer meinen Kleidern, Büchern und CDs gehört Johann.“

„Was wird er sagen, wenn du fort bist?“

„Ich habe mich von ihm verabschiedet. Er war immer freundlich zu mir. Einundsiebzig Jahre, verwitwet und sehr reich“, führte Slaveya gedankenverloren aus und schmunzelte schließlich. „Seine größte Freude war es, mich zu baden. Oder mir den Rücken zu massieren. Sex hatten wir kaum, einundsiebzig, du verstehst. Er hat aber seinen Spaß gehabt. Johann war immer nett. Ich werde ihn vermissen. Vielleicht besuche ich ihn sogar einmal. Später. Viel später.“

Dimitar leerte ebenso seine kleine Tasse und erhob sich.

„Ich habe in Wien eine Bekannte. Bei ihr kannst du eine Weile wohnen, bis du etwas gefunden hast. Und du willst dein Studium weiterführen?“ Slaveya erhob sich ebenso.

„Unbedingt. Ich bin endlich so weit, die Vergangenheit hinter mir zu lassen.“

Dimitar steckte sich eine Zigarette an.

„Die Kartons soll ich alle einladen? Sind das die Bücher?“

„Ja.“

Dimitar schmunzelte schäbig.

„Du liest zu viel, Cousinchen. Ist nicht gut für das Geschäft.“

Slaveya boxte nach ihm.

„Lesen würde dir auch nicht schaden, Großmaul!“

Dimitar packte den ersten Karton und schleppte ihn zum Auto. Slaveya blickte sich im Salon des Hauses um. War sie wehmütig? Tat ihr der Abschied leid? Nein. Nur raus hier. Fort.