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Christina überblickte die auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Papiere. Mittags, nach dem Einsatz im Leonsteiner Tierasyl, hatte sie sich mit Wilhelm am Stadtplatz getroffen und sie hatten gemeinsam gegessen. Sie hatte in einer Salatschüssel herumgestochert und von ihren bislang vergeblichen Bemühungen erzählt. Wilhelm hatte ihr interessiert zugehört, hatte aber bald auf seine Uhr geschaut, bezahlt und war dann wieder in die Firma gefahren. Sie hatte den kurzen Weg empor zum Polizeikommando im Schloss Lambach zu Fuß genommen, war an den Schreibtisch zurückgekehrt und hatte den Bericht der Gerichtsmedizin in ihrem Postkasten vorgefunden. Der Bericht lag ausgedruckt vor ihr, sie hatte ihn in den letzten zwei Stunden mehrmals durchgelesen, doch auch nach wiederholter Lektüre fand sie keinerlei Neuigkeiten darin. Koffein und Alkohol im Blut, multiple Frakturen der Extremitäten, mehrere offene Wunden, Exitus durch den Blutverlust aufgrund des abgetrennten Beins. Mehr war nicht zu finden gewesen.

Ihr Handy schlug an.

„Kayserling.“

„Guten Tag, Frau Inspektor.“

Sie erkannte die Stimme und den slawischen Akzent sofort.

„Guten Tag, Frau Koleva.“

„Mit ist noch etwas eingefallen.“

Christina rückte gleich ihren Notizblock zurecht.

„Ich bin ganz Ohr.“

„Herbert ist ja gegen Mitternacht zu mir gekommen. Das habe ich Ihnen ja erzählt.“

„So ist es.“

„Ich habe mit keinem Besuch mehr gerechnet und deshalb habe ich zum Fenster hinausgesehen. Als Herbert hereingekommen ist, hat er die Haustür nicht geschlossen, also bin ich für einen Moment vor die Tür getreten und habe etwas Luft geschnappt.“

Christina kritzelte Stichwörter auf das Blatt Papier.

„Haben Sie etwas gesehen?“

„Ja. Ein Auto.“

„Erzählen Sie mir das ganz genau.“

„Das Auto ist in die Sackgasse eingefahren, stehen geblieben und dann gleich wieder im Rückwärtsgang zurückgefahren. Es könnte sein, dass der Wagen Herbert verfolgt hat. Es könnte natürlich auch jemand gewesen sein, der sich in der Dunkelheit verfahren hat. Aber ich dachte, das sollten Sie wissen.“

„Was haben Sie gemacht?“

„Gar nichts. Das Auto ist fortgefahren und ich habe die Tür hinter mir geschlossen.“

„Haben Sie das Auto erkannt? Die Automarke? Die Farbe? Vielleicht das Kennzeichen?“

„Es war ein dunkler Mazda. Die Farbe weiß ich nicht genau, vielleicht schwarz oder dunkelblau, in der Nacht konnte ich das nicht so genau erkennen. Die Autonummer habe ich auch nicht gesehen.“

Christina kniff die Augen zusammen, sie lauerte gespannt.

„Ein Mazda? Sind Sie sich sicher?“

„Nicht ganz, vielleicht war es auch ein anderer Kleinwagen, aber ich glaube, dass es ein Mazda war. Als ich vor einem Jahr ein Auto gekauft habe, habe ich Probefahrten mit einem VW Polo, einem Seat Ibiza und einem Mazda 2 gemacht. Ich glaube, es war ein Mazda 2.“

„Das ist eine wichtige Information, Frau Koleva. Wieso fällt Ihnen das erst jetzt ein?“

„Weil ich in der Aufregung der letzten Tage einfach nicht daran gedacht habe.“

„In Ordnung, Frau Koleva. Ich danke für diesen Anruf. Halten Sie sich bitte für allfällige Fragen zur Verfügung.“

Slaveya stockte.

„Sie erreichen mich am Telefon, Frau Inspektor. Ich wohne nicht mehr in Kremsmünster.“

Christina verzog ihre Miene.

„Sie brechen die Brücken hinter sich ab?“

„Ja.“

„Wo sind Sie?“

„Ich bin in Wien.“

„Geben Sie mir die Adresse.“

„Ich habe keine Adresse. Noch nicht. Aber Sie können mich am Telefon erreichen.“

„Ich hoffe, Sie spielen kein falsches Spiel mit mir, Frau Koleva.“

Slaveya räusperte sich vernehmlich.

„Nein, Frau Inspektor, ich habe genug von Spielen, ich will endlich leben.“

„Gut, dann danke ich für Ihren Anruf.“

Slaveya trennte die Verbindung ohne ein Abschiedswort. Christina sprang hoch und flitzte in das Nachbarbüro, klopfte und trat gleichzeitig ein. Ihr Kollege erhob seinen Blick.

„Du, Michael, hast du die Liste mit den Autonummern, die ich dir gegeben habe, schon bearbeitet?“

Der Kollege nickte und zog aus einem Haufen von Papieren eine Liste heraus. Sie waren einfach zu wenige Leute im Büro. Alle im Kriminalreferat waren über und über mit Arbeit eingedeckt.

„Ja, da habe ich heute Vormittag ein paar Sachen notiert.“

Christina schob einen Stuhl neben den ihres Kollegen und starrte auf das Papier mit den Autonummern der Personen, die im Fall Herbert Felder relevant sein könnten.

„Lass sehen.“

„Da, schau mal her. Hier. Gestern Nachmittag hat der Fahrzeughalter dieser Linzer Nummer in Sankt Pölten einen Strafzettel wegen Falschparken gekriegt. Der Wagen ist auf Doktor Bernhard Traxler gemeldet. Ein Stammkunde, was Strafzettel wegen Falschparken betrifft. Passiert dem Mann immer wieder.“

„Irrelevant. Hast du noch etwas?“

„Das hier. Das Auto mit diesem Linzer Kennzeichen ist am Montag um dreiundzwanzig Uhr einundvierzig in Bad Gastein in eine Radarfalle gefahren. Tempoüberschreitung um sechzehn km/​h. Nicht Formel 1, aber es hat geblitzt.“

„Ist das ein Mazda?“

„Ja, ein Mazda 2 Baujahr 2005. Der Fahrzeughalter heißt Benjamin Felder. Ist das nicht der Sohn deines Mordopfers?“

Ihr Kollege Michael schaute in Christinas Gesicht. Ihr Teint hob sich kaum von der weißen Wandfarbe ab, die Lippen schienen blutleer.

„Er hat Selma abgeholt“, flüsterte sie geisterhaft in den leeren Raum, der sie umgab und ihr das Gefühl von endloser Dunkelheit und bitterer Kälte vermittelte.

Christina starrte zum Fenster hinaus und erhob sich. Sie sprach langsam, leise, bemüht, die bösen Dämonen nicht frühzeitig aufzuschrecken. „Michael, wir brauchen eine Alarmfahndung.“