„Sehr gut, Claire! Sehr gut! Jetzt noch einen Hauch Basilikum, dann ist der Sugo perfekt. Nicht so viel! Rieche das Basilikum. Spürst du den Duft in der Nasenspitze, ist es zu wenig, spürst du den Duft in der Stirn, ist es zu viel. Und jetzt schön langsam einrühren.“
Claire machte ein langes Gesicht.
„Papa, ich weiß, wie man umrührt.“
Von allen seinen Kindern zeigte sich Claire, was das Kochen betraf, am gelehrigsten. Sie hatte seinen Geruchssinn geerbt, vielleicht war sie sogar besser als er, vielleicht würde sie eine große Köchin werden, das nötige Talent hatte sie in jedem Fall. Albrecht trat einen Schritt zurück und stemmte die Hände in die Hüften. Sie war den allermeisten seiner Lehrlingen, die durch seine Schule gegangen waren, mit zehn Jahren schon um Längen voraus. Claire konnte von ihren Fähigkeiten her morgen in jedem erstklassigen Restaurant kochen, alleine an ihrer Disziplin mangelte es, denn gelegentlich erwischte er sie, wie sie in ihrem Zimmer miserable Chips und gummiartiges Popcorn aus dem Supermarkt einwarf. In solchen Fällen versuchte sich Albrecht immer in Geduld zu üben und ihre Jugend ins Treffen zu führen. Natürlich musste sie sich von ihren Eltern abgrenzen, natürlich musste sie aufbegehren, natürlich musste sie provozieren, das war ihr gutes Recht als Teenager. Albrecht sagte sich dann immer, dass eine so talentierte Köchin früher oder später den Fraß der Menschenvergifter ohnedies nicht mehr würde schlucken können und dass sie dann mit all dem Wissen, welches sie frühzeitig von ihren Eltern erlernt hatte, zu wahrer Kunst würde hochsteigen können. Er freute sich jetzt schon, sich von Claire in fünfzehn oder zwanzig Jahren zum Essen einladen zu lassen.
Chantal und die fünfjährige Sofie deckten den Tisch, rückten das Besteck zurecht und füllten die Gläser mit Wasser. An Mittwochen aß Familie Kammerhofer gegen fünf Uhr nachmittags. Albrecht hatte seinen freien Tag und die Kinder hatten ihre verschiedenen Verpflichtungen erledigt, waren von Schule und Sport nach Hause gekehrt und man konnte sich zum gemeinsamen Mahl einfinden.
Albert schlurfte mit hängenden Schultern in die Wohnküche und klatschte eine seiner Zeitschriften auf den Stapel alter Zeitungen.
„Mama, ich brauche ein neues Sudoku-Heft.“
Chantal blickte kurz hoch und nickte zustimmend, während Albrecht seine Augen verdrehte. Dieser Albert, es war eine Katastrophe mit ihm. Er war schlampig, unaufmerksam, schläfrig und konnte beharrlich schwerhörig sein, und seine Lehrerin in Genf hatte Albrecht und Chantal mehrmals nahegelegt, ihn auf eine Schule für Hochbegabte zu schicken, weil er abends, nach dem Lichtabschalten, mit der Taschenlampe nicht gruselige Gespenstergeschichten oder packende Abenteuerromane las, wie das für Buben seines Alters verständlich wäre, sondern die Mathematiklehrbücher der Oberstufe. Von seinem Vater konnte er das Talent für Zahlen nicht haben, denn Albrecht war in Mathematik zeit seines Schülerlebens eine ausgesprochene Niete gewesen.
„Wir essen in fünf Minuten!“, rief Albrecht. „Albert, sag deinem großen Bruder Bescheid, dass er sich auch unter uns einfaches Volk mischen könnte, sofern es ihm beliebt, mit uns zu speisen.“
Albert ließ in keiner Weise erkennen, die lautstarke Aufforderung seines Vaters auch nur ansatzweise vernommen zu haben.
Es klingelte an der Tür. Alle blickten hoch.
„Ich sehe nach“, sagte Albrecht und ging zur Tür.
„Guten Abend, Albrecht. Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Selma!“, rief Albrecht überrascht aus. „Kommen Sie uns besuchen?“
„Entschuldigen Sie bitte, Albrecht, aber mir ist ein kleines Ungeschick passiert.“
„Ein Ungeschick?“
Sie zeigte zu ihrem Auto.
„Ja, ich habe etwas zu spät gebremst und bin gegen den Pfeiler ihres Zauns gefahren.“
Albrecht schaute zum Auto und danach in ihr Gesicht. Hatte sie geweint? Die Augen waren in jedem Fall gerötet. Er schlüpfte in seine Gartenschuhe.
„Schauen wir mal“, sagte er beruhigend und durchquerte an ihrer Seite den Garten. „Na ja, da haben Sie sich eine kleine Schramme in die Stoßstange gemacht. Der Pfeiler ist vollkommen in Ordnung. Wollten Sie uns besuchen?“
Selma Felder wiegte den Kopf.
„Ich weiß nicht genau. Ich wollte nur nicht alleine sein und habe Licht in Ihrem Haus gesehen, da bin ich spontan von der Straße abgebogen. Vielleicht zu spontan.“
„Keine Sorge, Selma. Das ist nur ein kleiner Kratzer. In der Werkstatt kriegen sie das in Nullkommanichts wieder hin. Kommen Sie herein und essen Sie mit uns. Pasta haben wir sowieso für eine ganze Kompanie gekocht. Mögen Sie Spaghetti mit Gemüsesugo?“
„Nun ja, eigentlich sehr gerne, aber ich möchte Ihnen wirklich nicht zur Last fallen“, zierte sich Selma.
„Von Last kann keine Rede sein! Sie stehen vor einem Haus mit offenen Türen. Was glauben Sie, wie oft schon Freunde und Freundinnen der Kinder bei uns gegessen haben? Und die Kinder von Frau Seeböck sind sowieso Stammgäste in unserer Küche. Sie ist berufstätige Alleinerzieherin und sehr dankbar, dass ihre Mädels bei uns jederzeit Unterschlupf finden.“ „Wenn Sie meinen“, murmelte Selma zaghaft und schulterte ihren Rucksack.
„Waren Sie wandern?“
„Ja. Ich musste mir nachmittags etwas Luft machen, musste so richtig schwitzen und die Berge sehen.“
„Sehr gute Idee“, sagte Albrecht und wies einladend ins Haus. „Chantal, wir haben einen seltenen Gast!“
Chantal trat auf Selma zu und reichte ihr die Hand.
„Bonsoir, Madame Felder.“
„Bitte sagen Sie doch Selma zu mir.“
„Chantal.“
Selma senkte verschämt den Blick.
„Liebe Chantal, ich hoffe, ich störe nicht. Aber Ihr Mann hat mich so freundlich hereingebeten, ich konnte nicht widerstehen.“
Chantal blickte zu Albrecht, der ihr auffordernd zunickte.
„Ja, ich habe Selma zum Essen eingeladen.“
„Setzen Sie sich doch, Selma“, bat nun auch Chantal. „Ich lege noch ein Gedeck auf und Albrecht wird einen Stuhl holen. Darf ich vorstellen, Robert, Albert, Claire und Sofie. Kinder, das ist Frau Felder, unsere Nachbarin, die in dem großen Haus am Hügel wohnt.“
Selma setzte sich zu Tisch. Die Blicke der Kinder waren ihr unangenehm, sie mochte dieses Maß an Aufmerksamkeit nicht. Doch Albrecht erlöste sie, indem er eine dampfende Kasserolle mit Spaghetti und danach den Topf mit dem Sugo servierte. Frisch geriebener Parmesan wurde herumgereicht. Die Kinder befüllten ihre Teller selbständig. Dass gekleckert wurde, störte in diesem Haus nicht.
„Wohnst du jetzt alleine?“, fragte Sofie.
Für einen Augenblick lag Stille im Raum. Selma schnappte nach Luft.
„Ja.“
„So ein großes Haus für dich. Bist du eine Prinzessin?“
„Nein, keine Prinzessin.“
„Aber du bist doch so schön wie eine Prinzessin.“
Selma wischte eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
„Sofie, ma chérie, nimm dir etwas vom Parmesan und reiche dann die Schüssel weiter. Andere wollen auch noch davon“, forderte Albrecht seine Jüngste auf. „Selma, wollen Sie etwas Prosciutto zur Pasta? Sie müssen wissen, seit Albert und Sofie Vegetarier sind, kochen wir gemeinsame Gerichte immer fleischfrei. Aber ich habe wirklich einen vorzüglichen Schinken im Haus. Ich kann schnell ein paar Scheiben für Sie abschneiden.“
Selma winkte ab.
„Vielen Dank, aber das Gericht duftet so köstlich, dass gar nichts Weiteres mehr nötig ist.“
Robert begann seiner Mutter etwas von der Schule zu erzählen, worauf Claire lebhaft über ihre neuen Freundinnen zu plappern begann, Chantal eine Frage an Albert richtete und Sofie wissen wollte, ob im Sugo auch Zucchini enthalten sind, woraufhin Albrecht zu einem impulsiven und von Gekicher der Kinder immer wieder unterbrochenen Vortrag über die unzähligen Variationsmöglichkeiten eines Sugos auf Tomatenbasis anhob, über eine kulinarische Erfindung also philosophierte, für die man der italienischen Küche bis in alle Ewigkeit dankbar sein kann, vielmehr sogar muss.
Selma führte bedächtig die Gabel zum Mund. Köstlich. Ein einfaches Gericht, aber im Gaumen eröffneten sich sonnengeflutete Ebenen voll von Gemüsebeeten und Kräuterbüschen, von lose verstreuten Baumgruppen und emsig flatternden Vögeln. Zwiebel, Knoblauch, Zucchini, Karotten und Erbsen, Salz, Liebstöckel, Thymian und Basilikum, getragen von Olivenöl und passierten Tomaten, mit nahrhafter Substanz erfüllt von den Nudeln und gefällig gerundet vom Parmesan. Selma war von diesem Gericht nach mehreren Tagen ohne geregelte Nahrungszufuhr in einen geradezu beglückenden Rausch gesetzt. So schmeckte also echtes Leben. Sie blickte um sich in den Kreis der lebhaft plaudernden und essenden Familie. So klang also echtes Leben. So roch echtes Leben. Verstohlen blickte sie zu dem pausbäckigen Mädchen, das sie zuvor so direkt und vertrauensselig angesprochen hatte. Selma kämpfte mit den Tränen. Warum nur war dieses Kind in diese Familie hineingeboren worden und nicht sie? Warum lachten diese Kinder bei Tisch, aßen mit herzhaftem Appetit und durften vertrauen, auch morgen wieder lachen und essen zu können? Warum hatte sie eine Kindheit hinter sich, die von beständiger Einsamkeit und kalten Menschen geprägt worden war? Selma lugte aus den Augenwinkeln zu Albrecht. Warum hatte sie nicht einen Vater wie ihn gehabt, einen Vater, der seinen Kindern männliche Präsenz gab, indem er mit ihnen im Garten oder am Teppich tollte, sie beim Zubettbringen umarmte und auf die Stirn küsste, und der nicht seine Finger und Lippen in die Scham seiner Kinder grub? Warum war das Leben ungerecht? Wer hatte sich das ausgedacht? Gab es überhaupt Antworten auf all die vielen Fragen, die sie sich schon ein Leben lang stellte? Selma zweifelte daran. Sie legte das Besteck zur Seite, in ein zutiefst irdisches Glück der Sättigung gesetzt. Sollte sie, jetzt, wo sie diese wunderbaren Menschen kennengelernt hatte, die Pistole aus dem Rucksack nehmen und hier alle Lichter ein für alle Mal löschen? Selma war sich noch unschlüssig.