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„Wollen Sie eine Tasse Kaffee?“

Selma nickte zustimmend.

„Das wäre sehr nett.“ „Milch und Zucker?“

„Schwarz und ungesüßt.“

„Chantal, du auch?“

„Gerne.“

Die Kinder stapelten die Teller aufeinander, Chantal räumte diese gleich in den Geschirrspüler und Albrecht setzte die schlanke Alukanne auf die Gasflamme. Lärmend verließen die Kinder die Küche und stürmten die Treppe in ihre Zimmer hoch. Wenig später servierte Albrecht drei kleine Schwarze und setzte sich an den Tisch. Das Ehepaar Kammerhofer beobachtete aus den Augenwinkeln seinen schweigsamen Gast. Sie wussten nicht recht, wie sie mit Selma ins Gespräch kommen sollten.

„Sie haben so wunderbare Kinder, liebe Chantal“, hauchte Selma. „Beneidenswert.“

„Na ja, manchmal ist es mit vier Kindern sehr anstrengend.“

Wieder klingelte es an der Tür. Chantal erhob sich und öffnete. Sie erschrak. Die ihr schon bekannte Polizistin, ein uniformierter Polizist und ein zweiter Mann in Zivilkleidung standen am Treppenabsatz. Die beiden Männer schauten sich sorgsam um. Sie sah weitere Polizisten und mehrere Fahrzeuge in der Gasse stehen.

„Guten Abend, Frau Kammerhofer. Ist Selma Felder in Ihrem Haus?“

„Oui.“

„Kann Sie uns hier hören oder sehen?“

Chantal blickte über ihre Schulter.

„Non. Sie sitzt mit Albrecht in der Küche.“

„Sind die Kinder im Haus?“

„Oui.“

„Bitte machen Sie jetzt alles, was ich sage. Zu Ihrer eigenen Sicherheit, und zur Sicherheit Ihrer Familie. Mein Kollege, Inspektor Brandstätter, wird sich um Ihre Kinder kümmern. Wo im Haus halten Sie sich auf?“

Chantal schluckte schwer.

„In ihren Zimmern. Oben im Stock.“

„Sehr gut. Raimund, gehst du bitte mit Frau Kammerhofer hinauf. Michael und ich gehen in die Küche.“

Raimund nickte mit verkniffenen Lippen. Christina schritt voran, dicht von Michael Greiner gefolgt. Sie blickte über die Schulter und sah, wie Raimund und Chantal flott die Treppe hochhuschten. Dann trat sie in die Küche und verschaffte sich einen schnellen Überblick. Albrecht riss die Augen auf und erhob sich.

„Frau Inspektor!“, rief er überrascht aus und schaute sich nach Chantal um, doch Michael Greiner baute sich im Türstock auf und versperrte die Sicht.

„Guten Abend, Herr Kammerhofer. Guten Abend, Frau Felder.“

Selma Felder blickte Christina versonnen lächelnd an.

„Sie sind auch hier? Albrecht, Ihr Haus ist wirklich offen. Das ist sehr schön.“

Trug sie eine Waffe bei sich? Auf den ersten Blick konnte Christina nichts entdecken, also setzte sie sich Selma gegenüber an den Tisch. Albrecht stand ratlos neben seinem Sessel.

„Herr Kammerhofer, ich muss mit Frau Felder etwas besprechen. Was halten Sie davon, wenn Sie uns für einen Moment Ihre Küche überlassen?“

„Äh, ja. Warum nicht?“

Selma gestikulierte.

„Bitte gehen Sie nicht, Albrecht. Ich genieße so Ihre Anwesenheit. Bitte bleiben Sie bei uns.“

Albrecht schaute Christina fragend an, sie nickte, also nahm er wieder vor seiner Kaffeetasse Platz. Selma Felders Augen waren sanft, sie lächelte beinahe glückselig.

„Sie sind bestimmt gekommen, um mich nach Benjamin zu befragen.“

„Ja, genau deshalb bin ich hier.“

„Haben Sie nach mir gesucht?“

„Allerdings. Seit ein paar Stunden suchen wir Sie.“

Selma klatschte die Hände zusammen und warf ihre Stirn in Sorgenfalten.

„Es tut mir furchtbar leid, dass ich Ihnen Umstände bereitet habe. Wenn ich geahnt hätte, dass Sie nach mir suchen, hätte ich mich natürlich bei Ihnen gemeldet.“

„Wo waren Sie denn tagsüber?“

„In den Bergen. Ich war am Gleinkersee und habe eine kurze, aber sehr schöne Tour gemacht. Ich liebe die Berge über alles. Dann bin ich hier vorbeigekommen. Albrecht war so gütig und hat mich eingeladen, jederzeit seine Familie und ihn zu besuchen. Dieser Einladung bin ich gefolgt und durfte im Kreise der Familie ein köstliches Mahl zu mir nehmen. Danke, lieber Albrecht, ich habe das Essen sehr genossen.“

Selma legte ihre Hand auf Albrechts Hand und drückte diese.

„Frau Felder“, hob Christina an, „was halten Sie davon, wenn Sie die Tasse austrinken und mich begleiten? In meinem Büro können wir in aller Ruhe über alles plaudern.“

Selma wiegte mit verzwickter Miene den Kopf.

„Ich möchte so ungern von diesem Ort der Harmonie weggehen. Da draußen, hinter dieser Tür, breitet sich eine unerfreuliche, kalte Welt aus, aber hier, an Albrechts Herd, fühle ich mich wohl und sicher. Ich möchte nicht fort.“

Christina blickte kurz zu Michael Greiner hinüber. Der Kriminalpolizist war gespannt wie eine Feder, bei der kleinsten Gefahr würde er blitzschnell eingreifen. Das nahm etwas Druck von Christina.

„Ich finde es nicht fair, Herrn Kammerhofer in die Sache hineinzuziehen. Wir beide sollten das regeln.“

Selma kaute auf ihrer Unterlippe.

„Vielleicht haben Sie Recht, Frau Inspektor. Sie argumentieren so überzeugend. Ich finde es wirklich sehr ermutigend, mit Ihnen zu sprechen. Wirklich, alleine, dass Sie hier mit mir sitzen, macht mich stärker, macht mich mutiger. Ich bin keine sehr starke und mutige Frau, Frau Inspektor! Manche glauben das, weil ich als Kind die Eigernordwand bestiegen habe, als Jugendliche auf dem Mont Blanc gewesen bin, weil ich mindestens vierzig Mal den Bosruck bestiegen habe, aber in Wahrheit bin ich sehr ängstlich. Jetzt habe ich keine Angst, Sie machen mir Mut. Ich möchte ein Geständnis ablegen, Frau Inspektor.“

Christina legte ihre Handflächen flach auf die Tischplatte.

„Ich bitte darum, Frau Felder.“

„Beantworten Sie mir aber zuvor eine Frage. Eine für mich wichtige Frage.“

„Welche Frage?“

„Ist Benjamin tot?“

„Ja.“

„Haben Sie seine Leiche in der Donau gefunden?“

„Das haben wir.“

Selma Felder schaute eine ganze Weile in unbestimmbare Ferne. Sie lächelte dabei irgendwie selig.

„Ich habe Benjamin getötet.“

„Wie haben Sie das gemacht, Frau Felder?“

„Ich habe alle Männer, die ich je geliebt habe, getötet. Herbert, Benjamin und auch meinen Vater! Natürlich liebt eine Tochter ihren Vater! Natürlich! Und ich hatte einen so großartigen Vater. Er war stark und schön. Ein Olympiasieger! Ein hervorragender Alpinist! Ich habe ihn getötet.“

Christina runzelte die Stirn.

„Aber Frau Felder, Ihr Vater ist im Himalaya verunglückt, während sie in Österreich waren.“

„Ich töte mit der gefährlichsten aller Waffen, Frau Inspektor, ich töte durch Liebe.“

Christina und Michael Greiner wechselten kurze Blicke.

„Es ist ein böser Fluch, der von hässlichen Hexen und kaltherzigen Zauberern über den Betten mancher Säuglinge ausgesprochen wird. Ein solcher Fluch hat mich getroffen. Haben Sie Benjamins Abschiedsbrief gelesen, Frau Inspektor?“

„Nein. Ich weiß nichts von einem Abschiedsbrief.“

Selma zog aus ihrer Hosentasche ein Blatt Papier hervor und faltete es auf.

„Er hat mir heute früh ein E-Mail geschickt. Ich habe es zu spät gelesen, viel zu spät. Hören Sie zu.“

Selma strich das zerknitterte Papier glatt und las.

„Geliebte Selma, ich hoffe, du kannst mir meine Taten verzeihen, meine Ungeduld, meinen Schmerz, ich kann es nicht mehr ertragen, ich bin am Ende meiner Kräfte, ich sehe keinen Ausweg mehr. Wie habe ich ihn gehasst! Alles habe ich an ihm gehasst! Seine Abscheu gegen meine Mutter, seine Abscheu gegen deine Verletzlichkeit, seine Abscheu gegen mich. Als ich die Videos gesehen habe, als ich gesehen habe, wie er dich, Geliebte, für seine Perversionen erniedrigt hat, wie er aus deinen besten Gaben obszönen Schund gemacht hat, habe ich die Kontrolle verloren. Ich konnte es nicht mehr ertragen, mit diesem Schwein, mit dieser Bestie, die mein Vater war, in ein und derselben Welt zu leben. Selma, meine Geliebte, ich habe ihn getötet! Ich habe ihn verfolgt, mit einem Revolver, ich wollte ihn benutzen, doch dann hat sich das im Lager ergeben. Ich habe es getan, blind vor Wut und Hass. Er hat mich zuletzt noch beschimpft, hat mich verhöhnt, hat mir eine Tracht Prügel angedroht. Ich habe die Maschine eingeschaltet. Aber ich kann die Schuld nicht länger ertragen. Ich sehe keinen Ausweg. Selma, bitte verzeih mir, ich flehe dich an, verzeih mir! Wenn du diese Zeilen liest, werde ich schon fort sein. Ich bin zu allem entschlossen, ich werde es tun, ich werde kein Schwächling sein, so wie das Schwein mich immer genannt hat, ich werde mutig sein. Die Donau wartet auf mich. Ich gehe jetzt. Dein dich über alles und in alle Ewigkeit liebender Benjamin.“

Sie ließ das Blatt Papier sinken und starrte wieder in die Ferne. Vorsichtig, wie um ihre Entrückung nicht zu stören, erhob Christina die Stimme.

„Lassen Sie mich bitte diesen Brief sehen, Frau Felder.“

Sie schob das Papier über den Tisch.

„Das ist wahre Poesie“, schwärmte sie. „In die Flüchtigkeit des Lebens gewisperte Poesie. Ich habe nie schönere und schrecklichere Worte gelesen. Ich glaube, er hat mich wahrhaftig geliebt.“

Christina überflog den Text. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich wie ein im Memoformat gedrucktes E-Mail aus.

„Wie lange haben Sie ein Verhältnis mit Benjamin Felder gehabt?“

„Das Wort Verhältnis klingt abfällig, fast ordinär, Frau Inspektor. Benjamin war der verständnisvollste Mann, der mir je begegnet ist, feinsinnig, einfühlsam, hellhörig, wir haben stundenlang nur beisammen gesessen und einander die Hände gehalten. Es war kein Verhältnis, es war eine Seelenfreundschaft. Vor etwa einem Jahr ging es mir, ich weiß gar nicht mehr, warum, nicht sehr gut, und Herbert war fort, war in seiner mir fremden Geschäftswelt, war stark, kühn und erfolgreich, aber mir ging es sehr schlecht, da habe ich Benjamin angerufen. Er hat meinen Hilferuf sofort erhört, ist gekommen, hat mir zugehört, hat mich getröstet, hat mir das Gefühl von Geborgenheit gegeben. Die Liebe ist ein Geben und Nehmen, dieses Lebensprinzip habe ich verstanden, ich habe genommen, also habe ich auch gegeben. Wir waren glücklich. Natürlich durfte niemand davon etwas erfahren, ich bin immerhin eine verheiratete Frau! Benjamin war immer für mich da.“

„Frau Felder, haben Sie gewusst, dass Benjamin seinen Vater töten wollte?“

Selma begann ihr von der Bergtour zerzaustes Haar mit den Fingern zu kämmen und legte es schließlich zu einem losen Zopf geformt über ihre rechte Schulter. Sie sah dabei zerbrechlich und schön wie eine von Meisterhand geformte Puppe aus schneeweißem Porzellan aus.

„Nein. Ich weiß so wenig vom Leben, noch viel weniger weiß ich vom Tod. Hätte ich irgendetwas gewusst oder auch nur geahnt, hätte ich etwas unternehmen können. Ehrlich, Frau Inspektor, manchmal habe ich daran gedacht, Herbert zu verlassen, doch immer dann, wenn ich etwas Derartiges gedacht habe, haben mich schlimme Schuldgefühle förmlich zu Boden geworfen. Ich bin doch seine Frau gewesen! Selbst wenn er zu anderen Frauen gegangen ist, nur mich hat er geliebt, die anderen Frauen nicht, mit ihnen hat er nur gespielt. Er hätte mich niemals gehen lassen, er hätte mich eher getötet, als dass er mich hätte ziehen lassen.“

„Haben Sie das so auch zu Benjamin gesagt?“

„Das war nicht nötig, das hat er doch gewusst“, sagte Selma und stützte ihren Kopf in ihre Hände. „Frau Inspektor, entschuldigen Sie, ich fühle mich auf einmal sehr müde. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich fühle, wie sich alles rund um mich verdunkelt, ich sehe plötzlich den Boden unter meinen Füßen nicht mehr. Ich fürchte …“

„Was fürchten Sie, Frau Felder?“

„Ich fürchte, Sie müssen mir helfen, hier aufzustehen. Ich fürchte, ich muss wieder in die Klinik, ich brauche Hilfe, ich kann nicht mehr alleine leben, ich bin so ausgelaugt, fühle keine Kraft mehr in mir, ich fühle mich wie eine Marionette, deren Schnüre gekappt worden sind, ich fühle mich wie ein Wasserglas in einem jahrelang leer stehenden Haus, in dem sich Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat immer mehr Staub ansammelt. Können Sie mir bitte helfen?“

Christina stand auf.

„Ja, Frau Felder, das kann ich.“

Selma erhob sich und trat auf Albrecht zu. Auch er erhob sich. Sie reichte ihm die Hand.

„Es tut mir schrecklich leid, Albrecht, dass ich Ihnen den Abend verdorben habe. Sie sind ein so lieber Mensch, Ihre Frau eine so fabelhafte Mutter und Ihre Kinder so wunderbar lebensfroh. Ich wünsche Ihnen nur das Beste! Und vielleicht komme ich später einmal in den Steyrtalerhof und esse eines Ihrer großartigen Gerichte. Auf Wiedersehen, Albrecht.“

„Auf Wiedersehen, Selma. Alles Gute“, würgte Albrecht betreten hervor. Selma schnappte ihren Rucksack und folgte Christina, hinter den beiden Frauen ging Michael Greiner, der auch dem am oberen Treppenende postierten Raimund das Zeichen zum Aufbruch gab. Sie traten vor das Haus, Selma sah weitere Polizisten rund um das Haus postiert.

„Haben Sie befürchtet, dass ich Ihnen Probleme machen könnte?“, fragte Selma überrascht.

„Nun, wir wollten auf alle Fälle vorbereitet sein.“

Selma legte ihre Hand auf Christinas Unterarm und nickte ihr zu.

„Ich könnte keiner Fliege etwas zuleide tun, Frau Inspektor, nein, das könnte ich gar nicht.“

„Darüber bin ich sehr erleichtert, Frau Felder. Steigen Sie bitte in den Streifenwagen. Inspektor Greiner wird bei Ihnen sein. Ich kümmere mich um Ihren Wagen.“

Selma zog den Autoschlüssel aus ihrer Jackentasche und hielt kurz inne. „Einen Moment, Frau Inspektor, ich muss nur noch meine Medikamente aus dem Auto holen. Dann bin ich bereit.“

„In Ordnung“, sagte Christina und nickte zustimmend.

Selma öffnete den Wagen, warf den Rucksack auf den Beifahrersitz und setzte sich. Christina gab den versammelten Kolleginnen und Kollegen entwarnende Handzeichen. Dann zog Selma die Autotür zu und verriegelte den Wagen von innen. Christina warf sich herum, riss vergeblich an der Türschnalle und sah aus nächster Nähe, wie Selma die Pistole entsicherte. Ein Knall. Der zuckende Oberkörper und der zerstörte Schädel der Frau sanken vornüber auf das Lenkrad, blutrote Masse rutschte von der Innenseite der Fensterscheibe. Christina taumelte zurück, stolperte, ging zu Boden, schnappte nach Luft. Vorbei! Sie hatte versagt! Sie hatte sich übertölpeln lassen! Christina bemerkte gar nicht, wie Raimund sie packte, fortschleifte und in einen Streifenwagen setzte. Sie sah nur das Blut vor Augen, so viel Blut.