„Christina!“, rief Wilhelm und eilte auf seine Frau zu.
„Vielen Dank, Herr Kayserling, dass Sie gleich gekommen sind. Ich hätte ja einen Wagen geschickt, aber derzeit sind alle unterwegs, und für Sie ist es ja nur ein Katzensprung hierher.“
Christina legte ihre Hand auf Wilhelms Wange und lächelte ihn aus großer Ferne an.
„Du bist schon da? Wie schön“, murmelte sie.
Wilhelm schaute Oberstleutnant Zmugg fragend an. „Der Notarzt hat ihr eine recht hohe Dosis verabreicht. Bei einmaliger Anwendung besteht keinerlei Gefahr. Morgen wird ein Arzt einen Hausbesuch machen und nach dem Rechten sehen. Zur Sicherheit. Der Notarzt und ich haben Ihrer Frau eine Woche Krankenstand verordnet. Der Schock sitzt ziemlich tief, sie muss sich erholen. Ich habe insgesamt vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter krank gemeldet. Es war für alle beteiligten Beamten ein traumatisches Erlebnis. Für Ihre Frau leider besonders, sie war die leitende Ermittlerin, sie hat alles aus nächster Nähe …“
Franz Zmugg stockte. Was sollte er noch viel erklären? Viel wichtiger war jetzt, dass seine Mitarbeiterin in sorgsame Pflege kam. Den psychologischen Dienst würde er gleich Morgen früh kontaktieren.
Wilhelm umfasste Christinas Taille und hob sie hoch.
„Können wir jetzt endlich nach Hause?“
„Ja, Christina. Kannst du gehen?“
„Aber ja, gehen kann ich schon.“
„Gute Nacht, Herr Zmugg.“
„Gute Nacht, Herr Kayserling. Und es tut mir leid, dass ich Ihnen Ihre Frau in einem derartigen Zustand übergeben muss. Wirklich, es tut mir leid.“ Wilhelm nickte mit verzwickter Miene und verließ das Büro. Christina hatte sich bei ihm eingehakt und folgte ihm einfach. Sie fühlte sich merkwürdig. Gut war es nicht.
Wilhelm warf die Fahrertür zu und versperrte den Wagen. Er streifte sein Jackett glatt und kontrollierte seine Schuhe.
„Du schaust eh tipptopp aus“, meinte Christina schmunzelnd. „Vor allem das neue Sakko macht sich gut.“
„Findest du?“
„Bisschen altmodisch vielleicht.“
Wilhelm warf die Stirn in Falten.
„Altmodisch?“
„Pardon, zeitlos! Mein Großvater hat ein ganz ähnliches Sakko gehabt, damals in den wilden Sechziger- und Siebzigerjahren. Er hat seine Sakkos in der Regel zwei oder drei Jahrzehnte getragen. Es wird alles wieder einmal modern.“
Wilhelm verzog seine Miene zu einem streitbaren Grinsen.
„Willst du anbandeln, meine Liebe?“
Christina lachte und drückte Wilhelm ein Küsschen auf die Wange.
„Komm schon, lassen wir unseren Gastgeber nicht länger warten.“
„Du hast Recht, jetzt hast du mich schon hierher geschleppt, also will ich mir auch einen Teller Suppe abholen. Habe schon ein Loch im Bauch.“
Christina schaute kurz zu dem betonierten Zaunpfeiler hinüber, wandte aber schnell wieder den Blick ab. Nicht daran denken, weiterleben.
„Er hat mich dreimal angerufen und eingeladen, irgendwann konnte ich nicht mehr absagen. Ich denke, für unser leibliches Wohl wird sehr gut gesorgt werden.“
Sie drückte, vom struppigen Hund des Hauses stoisch beobachtet, auf die Glockentaste, wenig später wurde die Tür aufgerissen.
„Herein, herein!“, rief Albrecht und winkte gestenreich.
Christina versah sich kaum, da wurde sie stürmisch mit Wangenküsschen begrüßt, Albrecht schüttelte Wilhelm über beide Ohren lächelnd die Hand.
„Herr Kammerhofer, Sie sind ja so guter Laune!“
„Den Herr Kammerhofer könnt ihr euch schenken! Wer bei mir zum Essen eingeladen ist, sagt du zu mir. Bitte sehr!“
Tausend Düfte strömten Christina entgegen. Der Tisch in der Wohnküche war feierlich gedeckt. Die beiden Gäste wurden von der gesamten Familie begrüßt. Christina guckte mit großen Augen zu den Töpfen am Herd. Unweigerlich lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Ein kurzer Blick zu Wilhelm verriet ihr, dass es ihm nicht anders erging.
„Also“, ergriff Albrecht mit großer Geste das Wort, „das heutige Menü beginnt mit einer dicken Erbsensuppe mit gerösteten Roggenbrotwürfeln, danach reiche ich einen Kürbishackbraten mit Erdäpfelknödeln und Sauerahorn. Für die Fleischesser habe ich eine feine Hirschlende geschmurgelt. Als Dessert gibt es Apfelstrudel nach Omas Geheimrezept, Bohnenkaffee, Eichenkaffee oder Kräutertee nach einer mystischen Rezeptur meines geliebten Eheweibes, in deren Adern keltisches Blut und druidisches Geheimwissen fließt. Zum Trinken habe ich Wasser eigens mit dem Kübel auf dem Kopf aus der Steyr geholt! Nein, blöder Scherz, also Leitungswasser, Hollersaft, Apfelsaft, Most, italienischen Weißwein oder burgenländischen Rotwein, selbstredend von Biowinzern. Das Pestizidkonzentrat mit Alkoholgehalt können die Menschenvergifter selber saufen, diese Sauhunde, die elendigen! Entschuldigung, ich will jetzt nicht gleich ausfällig werden. Zuerst aber, liebe Gäste, will ich mit einem Gläschen Sherry mit euch anstoßen und mich bei dir, Christina, für den Tipp bedanken! Robert, bitte!“
Der älteste Spross der Familie trug ein Tablett mit eleganten Sherrygläsern herein. Christina nahm ein Gläschen in Empfang.
„Für den Tipp bedanken? Mir fällt akkurat nicht ein, welchen Tipp du meinst“, bemerkte sie mit gerunzelter Stirn.
„Na, der Bachleithenhof in Dürnfeld! Du hast mir ja die Adresse aufgeschrieben!“
„Ach ja, genau!“
Albrecht öffnete die Tür zur Speisekammer.
„Schaut mal da rein.“
Christina und Wilhelm leisteten der Aufforderung Folge und fanden prall gefüllte Regale mit Erdäpfeln, Kürbissen, Krautköpfen, Rüben und in Gläsern eingelegtem Gemüse vor.
„Du hast dich also bei den Erdenkindern mit Rohstoffen eingedeckt“, schmunzelte Christina.
„Du hättest Albrecht sehen sollen“, führte Chantal aus. „Drei Stunden ist er auf und ab gelaufen, hat alles angegriffen, überall geschnuppert, vier Teller Gemüsesuppe gegessen und den Kofferraum des Wagens bis oben hin gefüllt.“
„Das ist ein Paradies! So gutes Gemüse in so großen Mengen habe ich noch nirgendwo gesehen! Und das Brot schmeckt nach fruchtbarer Erde und heißen Steinen, nicht nach Kunststoffverpackung. Ich erhebe mein Glas auf Nahrungsmittel, die diesen Namen auch verdienen!“
Die Gläser klingelten. Die Kinder stießen mit Himbeersaft an. Albrechts Augen leuchteten.
„Und noch etwas kann ich ankündigen!“
Albrecht stellte das geleerte Glas auf das Tablett. Christina legte den Kopf schief und wartete neugierig.
„Ich habe gekündigt!“
„Du verlässt den Steyrtalerhof?“
„Oui! Nie wieder Schickimickifraß! Entschuldigung. Aber nicht nur das. Ich habe auch den Mietvertrag gekündigt. Nach Ende des Semesters werden wir von Aschach fortziehen. Chantal, bitte, sag unseren Gästen, warum.“
Chantal nickte Christina und Wilhelm zu.
„Wir haben in Dürnfeld ein altes Gasthaus gekauft.“
Christina lachte auf.
„Euer Traum geht in Erfüllung!“
„Oui. Für die Kinder ist es natürlich schwierig, wieder in eine neue Umgebung zu kommen. Aber wir werden das gemeinsam schon schaffen“, führte Chantal aus.
„Das Haus ist renovierungsbedürftig, daher war es günstig zu haben, aber die Lage ist wunderbar, ein schöner Gastgarten mit alten Nussbäumen, eine große Wiese. Und ich habe die besten aller möglichen Lieferanten in unmittelbarer Nähe. Meine Güte, was werde ich kochen! Die Leute werden nirgendwo anders mehr essen wollen!“
„Ich freue mich für euch“, sagte Christina.
„Und ich freue mich für euch!“, rief Albrecht und legte seinen Arm um seine Tochter Claire. „Denn die Suppe wurde von dieser talentierten jungen Köchin zubereitet, und ich habe sie schon gekostet.“
Albrecht spitzte seine Lippen.
„Magnifique!“
ENDE