34

Kant spürte, wie seine Knie nass wurden, nass von Webers Blut, das die Wolldecke gesättigt hatte und eine dunkle Pfütze auf dem Holzboden bildete.

»Es tut mir leid«, sagte Melanie zum zehnten Mal. Kant sah zu ihr auf. Sie saß jetzt mit angezogenen Beinen auf der Eckbank und umklammerte ihre Unterschenkel. Ihr Gesicht, das sie zwischen den Knien zu verstecken versuchte, flackerte im Feuerschein. Immer wieder wischte sie mit den Handflächen über ihre Hosenbeine. Auch sie war voller Blut, weil sie ihm geholfen hatte, Weber in die Hütte zu tragen und die Blutung aus dem Loch in seinem Brustkorb mit einem Handtuch zu stillen.

Webers Gesicht war blass, die Haut über seinen Wangenknochen fast durchsichtig. Kant fühlte seinen Puls, ein unregelmäßiges Pochen an dem sehnigen Hals.

Rademacher kam durch die Tür. »Er ist weg«, sagte er zu Kant. Er schaltete seine Taschenlampe aus, bevor er sich über Weber beugte und seine Hand nahm. »Ich schwör dir, dass wir das Schwein erwischen.«

Weber reagierte nicht. Seine Augen waren starr an die Decke gerichtet.

»Wo bleibt denn bloß der Scheiß-Notarzt?«, fragte Rademacher.

»Es tut mir so leid«, sagte Melanie.

Kant spürte, wie sich Webers Finger in den Stoff seiner Hose krallten. Langsam drehte er den Kopf zu ihm. Sein Blick kehrte aus der Unendlichkeit zurück und legte sich auf Kants Gesicht.

»Ich mach das Bürschchen fertig«, presste Rademacher hervor.

»Sei still«, sagte Kant. »Ihr geht jetzt beide raus. Lasst mich mit ihm allein.«

Rademacher griff nach Melanies Handgelenk und zog sie von der Bank hoch. Mit dem starren Gesichtsausdruck einer Puppe ließ sie sich vor die Tür führen.

Weber hustete, und ein dünner Faden Blut lief ihm aus dem Mundwinkel. »Das war’s dann wohl«, sagte er leise.

Kant wusste, dass er recht hatte. Und dass es keinen Sinn hatte, ihm zu widersprechen. Er strich mit der Hand über Webers Lederjacke, bis er die Ausbeulung fand, und zog den Flachmann aus der Innentasche. »Willst du was trinken?«

Ein schwaches Lächeln huschte über Webers Gesicht. »Ich habe aufgehört.«

»Sehr gut«, sagte Kant.

»Ich wollte bloß das Mädchen retten.«

»Dem Mädchen geht es gut.«

»Das war ein Fehler … der Junge … der hatte bloß Angst. Der war es nicht, oder?«

»Das spielt jetzt keine Rolle. Du hast alles richtig gemacht.«

»Danke, dass du an mich geglaubt hast«, brachte Weber mühsam hervor. Er begann, am ganzen Körper zu zittern.

»Du musst nicht sprechen, wenn es dich zu sehr anstrengt. Ruh dich ein bisschen aus.«

Weber atmete tief ein.

Und wieder aus.

Dann starb er.

Nachdem Webers Leiche in die Gerichtsmedizin abtransportiert worden war und die Einsatzkräfte das Gebiet um die Hütte und den Parkplatz abgeriegelt hatten, wurde Melanie zurück zum Parkplatz gebracht. Kant sprach mit ihr, während sie neben einer uniformierten Polizistin auf dem Rücksitz eines Einsatzbusses saß und von einem Sanitäter durchgecheckt wurde. Sie sagte aus, Christian habe sie nur beschützen wollen, und Kant neigte dazu, ihr zu glauben.

Sie hatte nicht gesehen, was vorgefallen war, aber genau wie Kant hatte sie drei Schüsse gehört. Das passte zu den vorläufigen Ergebnissen der Spurensicherung. Aus dem Jagdgewehr waren zwei Schüsse abgegeben worden, einer davon hatte Weber in die Brust getroffen. Auch in Webers Dienstwaffe fehlte eine Patrone. Und auf einem Pfad, der auf der anderen Seite der Hütte ins Tal hinabführte, waren Blutspuren gefunden worden.

Christian war verletzt. Er war in Panik zu Fuß geflohen und hatte weder Unterstützer noch Geld. Kant war sicher, dass er nicht weit kommen würde.

Er übergab die Einsatzleitung an Rademacher und ging zu seinem Wagen, der noch genauso dastand wie zuvor, während sich alles andere verändert hatte. Es gab nichts, was er heute noch tun konnte. Er setzte sich ans Steuer und legte die Stirn auf den kalten Kunststoff in der Mitte des Lenkrads. Nur für einen Moment. Nur bis seine Hände aufhörten zu zittern.

Als es am Fenster klopfte, war er sich nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war. Fünf Minuten? Eine halbe Stunde? Er ließ die Scheibe runter, und Katja beugte sich zu ihm herab.

»Können Sie mich mitnehmen? Zurück ins Dorf? Oder wollen Sie lieber alleine sein?«

»Steigen Sie ein.«

Sie fuhren schweigend durch die Nacht. Kant schaltete das Radio ein und sofort wieder aus. Die Musik erschien ihm in diesem Augenblick unglaublich profan. Er beobachtete das Spiel der Schatten auf Katjas Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen und den Kopf gegen die Kopfstütze gelehnt. Anspannung und Trauer spiegelten sich in ihrer Miene. Die Ereignisse dieses Tages hatten schmerzhafte Erinnerungen wachgerufen. In jener Sommernacht vor sechs Jahren war ein Mädchen in ihren Armen gestorben. Kant hatte gerade den letzten Atemzug seines Kollegen miterlebt. Das war etwas, was sie verband.

Als er vor ihrer Haustür hielt, öffnete sie die Augen, machte aber keine Anstalten auszusteigen. Kant überlegte, ob er den Motor ausschalten sollte. Nein, das wäre eine aufdringliche Geste.

»Willst du darüber reden?«, fragte sie. »Entschuldigung, ›Sie‹ meinte ich natürlich.«

»Schon okay«, sagte Kant. »Wir sind doch Kollegen.«

Katja legte die Hand auf den Türgriff und sah ihn an. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Ich weiß es selbst nicht.«

»Gibt es jemanden, der auf dich wartet?«, fragte Katja.

»Ja«, sagte Kant. »Meine Tochter.«

»Wie alt?«

»Schon fast erwachsen.«

»Meinst du, die kommt eine Nacht alleine klar?«

»Besser als ich, nehme ich an.«

Katja lachte leise. »Wir müssen ja nicht gleich miteinander ins Bett springen. Einfach nur ein paar Gläser Wein trinken. Musik hören. Was man halt so macht unter Kollegen.«

Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit, als Kant den Schlüssel aus der Zündung zog und die Armaturenbeleuchtung ausging. Es lag schon über ein Jahr zurück, dass er zuletzt eine Nacht mit einer Frau verbracht hatte. Der kurze Moment der Ekstase war die Peinlichkeit danach nicht wert gewesen. Andererseits weckte die Nähe des Todes bei ihm das Bedürfnis, das Leben zu feiern.

»Ein Schluck Wein kann ja nicht schaden«, sagte er schließlich.

Sie führte ihn in ihre kleine Wohnung im Souterrain eines Einfamilienhauses. Im Wohnzimmer lag ein Wäschehaufen auf dem Sofa, nur der einzige Sessel war frei.

»Entschuldige«, sagte sie. »Ich kriege nicht viel Besuch. Schieb den Kram einfach zur Seite. Ich bin gleich wieder da.«

Kant rief seine Tochter an. Überraschenderweise meldete sich nicht ihre Mailbox, sondern sie selbst. Ausgerechnet jetzt, da er ihr zum ersten Mal im Leben lieber eine Nachricht hinterlassen hätte.

»Sag nicht, du kannst nicht kommen«, sagte sie. Ihm war schon öfter aufgefallen, dass Kinder eine sadistische Freude dabei empfanden, den tadelnden Tonfall ihrer Eltern zu imitieren.

»Ein Kollege von mir ist gestorben.« Keine Lüge, aber eine Ausrede.

»Das tut mir leid«, sagte Frida. »Wo bist du denn?«

»Bei einer Kollegin.«

»Okay …«

»Wir sehen uns morgen, ja?«

»Morgen ist Silvester. Du hast gesagt, dass ich zu Nicos Party gehen kann.«

»Ach ja. Klar. Aber nur bis eins, spätestens. Und nimm ein Taxi.«

»Du bist der Beste, Papa.«

Nachdem er aufgelegt hatte, sah Kant sich im Wohnzimmer um. Die Unordnung hatte etwas Tröstliches; sie lenkte von der Einsamkeit ab, die in allen Ecken lauerte. Das Leben ist Chaos, dachte Kant, erst mit dem Tod kehrt Ordnung ein. Er fragte sich, ob andere ähnlich empfanden, wenn sie in seine Wohnung kamen. Jetzt wahrscheinlich nicht mehr. Nachdem Frida sich überall ausgebreitet hatte, war dort kein Platz mehr für Einsamkeit.

Er zog die Schuhe aus und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Als Katja wieder auftauchte, hatte sie die Uniform gegen ein schlichtes schwarzes Kleid getauscht. Wieder einmal wunderte er sich, wie sehr sich Polizisten veränderten, wenn sie Zivilkleidung trugen. Katja wirkte mit einem Mal sehr verletzlich.

Sie goss ihm aus einer Flasche mit Schraubverschluss Wein ein. Der bittere Nachgeschmack und die unverhüllte Schärfe des Alkohols störten Kant nicht, im Gegenteil, sie erschienen ihm angemessen. Das war kein Abend, an dem man einen edlen Tropfen aus dem Keller holte.

»Der Polizist, der heute gestorben ist, das war wohl mehr als ein Kollege?«, sagte Katja, während sie sich neben ihn setzte.

Kant leerte sein Glas in einem Zug und schenkte sich nach. Er erzählte ihr, wie er als junger Kommissaranwärter Weber kennengelernt hatte, wie sie sich angefreundet hatten, wie Weber nach dem Tod seiner Frau in ein Loch gefallen war, aus dem er bis zum Schluss nicht mehr rauskam, und wie mies er selbst sich fühlte, weil er seinem Kollegen nicht hatte helfen können. Und weil er gerade so in Schwung war, erzählte er ihr auch von seinen Problemen mit Frida. Katja war klug genug, ihm keine Ratschläge zu geben.

»Jetzt habe ich aber genug Müll bei dir abgeladen«, sagte er, als sie bei der zweiten Flasche angelangt waren. »Wahrscheinlich hältst du mich jetzt für einen selbstmitleidigen alten Sack.«

»Warte mal ab, bis ich dir meine Geschichte erzählt habe«, sagte sie.

»Leg los.«

»Nein. Nicht heute. Ein anderes Mal, falls es dazu kommt.« Sie lächelte.

»Das würde ich nicht ausschließen«, sagte Kant.

»Bist du immer so überschwänglich?«

»Nur wenn ich daran erinnert werde, wie beschissen kurz das Leben ist.«

»Würde es dir was ausmachen, mich ein bisschen im Arm zu halten?«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Kant so überschwänglich, wie er eben konnte.

Schließlich schliefen sie doch miteinander.

Als sie später nebeneinander im Bett lagen und Katja das Licht ausgeschaltet hatte, sah er zur Decke und lauschte ihrem Atem. Es dauerte nicht lange, bis sie einschlief. Seine Gedanken kehrten zurück zu Weber. Plötzlich erlebte er einen Moment übernatürlicher Klarheit. Dieser alte Schweinehund hatte es darauf angelegt. Es war ihm nicht nur darum gegangen, Melanie zu retten, sondern so schnell wie möglich seiner Frau zu folgen. Immerhin ein kleiner Trost, dachte er, bevor auch ihm die Augen zufielen.