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Das rechtsmedizinische Institut befand sich in der Nußbaumstraße, nicht weit vom Sendlinger Tor. Es hatte einen prachtvollen Eingang mit hohen Säulen und breiten Steintreppen, die zu einem kleinen Platz führten. An der Seite gab es eine beschrankte Einfahrt, durch welche die Leichen über einen weniger prächtigen Innenhof und eine Tür aus gebürstetem Stahl in die Obduktionsräume gebracht wurden. Weber benutzte wie die meisten Leute, die in diesem Gebäude arbeiteten – Mediziner, Assistenten, Polizisten und Staatsanwälte –, den unauffälligen Nebeneingang auf der Rückseite. Statt den Aufzug zu nehmen, ging er durch das enge, nach starken Reinigungsmitteln riechende Treppenhaus eine Etage nach unten.

Im Flur blieb er neben den Plastikstühlen stehen und wartete auf Staatsanwalt Oldenburg. Sein Kopf fühlte sich leer an. Die Zunge lag wie ein vertrocknetes Stück Holz zwischen seinen Zähnen. Ich sollte mich wirklich pensionieren lassen, dachte er. Die paar Euro, die ich durch die Frührente verlieren würde, interessieren mich einen Dreck. Wofür brauche ich schon Geld?

Das Problem war, dass er nicht wusste, was er ohne seine Arbeit anfangen sollte. Seit Else gestorben war, lebte er in einem Vakuum. Er konnte einfach nicht allein zu Hause sitzen. Er konnte nicht schlafen. In letzter Zeit half selbst der Alkohol kaum noch.

Trotzdem war jetzt der Zeitpunkt für einen Schluck gekommen. Besser besoffen sein, als in Selbstmitleid zu ertrinken, dachte er. Er ging in die Toilette, schloss sich in der Kabine ein und holte eine Flasche aus der Innentasche seiner Jacke.

Zuerst hätte er sich beinahe übergeben, doch dann, nachdem er eine Minute lang die Stirn gegen die Wand über der Schüssel gedrückt hatte, ging es ihm allmählich besser. Er wusch sich die Hände und das Gesicht. Als er draußen im Vorraum den Staatsanwalt begrüßte, der gerade mit forschem Schritt durch die Tür kam, fühlte er sich schon fast wieder wie ein Mensch.

Trotzdem war er froh, als Grumann, der Gerichtsmediziner, sie hereinrief und es endlich losging. Ein Termin beim Urologen erfüllte ihn mit größerer Vorfreude.

Der Tote lag bereits auf dem Sektionstisch, die Instrumente auf einem Rollwagen daneben. Weber stellte sich in einiger Entfernung neben Oldenburg dicht an die gekachelte Wand, achtete jedoch darauf, sie nicht zu berühren. Soweit er wusste, war der Tod zwar keine ansteckende Krankheit, aber man konnte nicht vorsichtig genug sein.

Grumann schaltete sein Diktiergerät ein und begann mithilfe seines Assistenten, den Toten zu entkleiden.

»Leiche eines achtundzwanzigjährigen Mannes, identifiziert als Benedikt Spicher, Körpergröße 183 Zentimeter, Gewicht 74 Kilogramm, regelmäßiger Körperbau. Kaschmirpullover, weißes Hemd, dunkelgraue Anzughose, schwarze Halbschuhe aus Leder. Weißes Unterhemd, Unterhose, Socken.«

Während er sprach, verpackte er die Kleidungsstücke einzeln in sterile Plastiktüten, um sie für weitere Untersuchungen im kriminaltechnischen Institut bereitzustellen.

»Kleidung macht einen sauberen, gepflegten Eindruck. Weißlich gelbe Flecken an Unterhose, möglicherweise Sperma.«

Weber betrachtete den nackten toten Mann, dem nicht einmal ein letztes bisschen Würde gegönnt wurde. Er hatte die dünnen Arme und Beine eines Menschen, der sein Geld mit geistiger Arbeit verdiente, blass und nahezu unbehaart.

Grumann ging um den Sektionstisch herum und begann mit der Untersuchung des Kopfes. »Dichte Kopfbehaarung, deutliche Verletzung am Hinterkopf, leichte Blaufärbung der Gesichtshaut.« Er zog die Lider hoch und sah in die Augen. Anschließend leuchtete er in Nase, Ohren und Mund.

»Auffällige runde braune Flecken am Hals.« Oldenburg sah Weber an und nickte, als wäre die Sache für ihn damit klar.

Grumann widmete sich jetzt dem Rest des Körpers. Er entdeckte Prellungen im Rippenbereich und am linken Oberschenkel, die dem ersten Anschein nach durch den Unfall verursacht worden waren. Nachdem sie den Leichnam auf den Rücken gedreht hatten, dokumentierte er Totenflecke an den Oberschenkeln und im Nackenbereich. Unter den Fingernägeln fand er etwas, das er für getrocknetes Blut hielt, und entnahm eine Probe.

Weber ging hinaus, als Grumann das Seziermesser ansetzte, um mit einem Y-förmigen Schnitt von Schulter zu Schulter und hinab bis zum Schambein den Oberkörper aufzuschneiden. Als junger Kommissar hatte er geglaubt, diese Prozedur durchstehen zu müssen, aber jedes Mal war ihm übel geworden. Und die Zeiten, in denen er anderen etwas beweisen musste, waren lange vorbei. Es gab keinen Grund, sich damit zu quälen. Die Anwesenheit des Staatsanwalts genügte vollkommen.

Er wartete in dem engen Büro des Rechtsmediziners zwischen Bücherregalen, deren Inhalt sämtliche Grausamkeiten illustrierte, die einem menschlichen Körper widerfahren konnten. Er dachte darüber nach, wie jemand beschaffen sein musste, um mit ruhigen, sicheren Schnitten einen Menschen zu zerlegen wie ein Stück Vieh. Vielleicht musste man davon überzeugt sein, dass es sich nur um ein Gefäß handelte, dass die Seele sich schon anderswo befand. Weber war sich da nicht so sicher.

Er war noch in Gedanken versunken, als Grumann hereinkam, gefolgt von dem blassen Staatsanwalt.

»Einen Unfall können wir dann wohl definitiv ausschließen«, sagte Oldenburg.

Grumann setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs.

»Der Meinung bin ich auch«, sagte er. »Die Verletzungen am Hinterkopf waren eindeutig nicht letal, bloß eine harmlose Platzwunde. Es gab auch keine inneren Blutungen, wie sie bei Autounfällen häufig zum Tod führen. Dafür hatte er Verletzungen am Kehlkopfgerüst, und das Zungenbein ist gebrochen. Kleine Unterblutungen am Hals. Er ist erwürgt worden, ohne jeden Zweifel.«

»Könnte das eine Frau getan haben?«, fragte Weber.

»Natürlich«, sagte Grumann. »Aus physiologischer Sicht kann es auch eine Frau gewesen sein. Ein bisschen Kraft braucht man natürlich schon, aber möglicherweise war das Opfer ja benommen von dem Aufprall. Wenn ich einen Tipp abgeben sollte, würde ich sagen, dass der Täter eine enge Beziehung zu seinem Opfer hatte. Erwürgen mit bloßen Händen ist immer etwas ziemlich Intimes.«

Auf solche Intimitäten kann ich verzichten, dachte Weber. »Was ist mit den Spuren unter den Fingernägeln?«

Grumann nahm seine Brille ab und begann, sie zu putzen.

»Könnte natürlich Blut vom Täter sein. Vielleicht hat das Opfer sich gewehrt und ihn gekratzt. Abwarten, was das Labor sagt.«

Er sah Weber aus wässrigen blauen Augen an. »Sie bekommen morgen meinen vollständigen Bericht.«

Weber ging an die frische Luft, um eine Zigarette zu rauchen. Oldenburg folgte ihm und schnorrte sich eine.

»Ist das Beste gegen den Geschmack im Mund«, sagte Oldenburg. Weber stimmte ihm zu.

Eine Weile standen sie einfach da, rauchten und beobachteten die Kinder, die auf der anderen Straßenseite in der Toreinfahrt Fangen spielten. Weber mochte Kinder. Er hätte selbst gern welche gehabt, aber dazu war es nicht gekommen. Trotzdem, wenn man so viel mit dem Tod zu tun hatte, tat es gut, hin und wieder zuzusehen, wie das Leben gedieh. Gleichzeitig musste er daran denken, wie verletzlich Kinder waren. Wahrscheinlich wäre ich kein guter Vater gewesen, dachte er. Ich hätte zu denen gehört, die ihr Kind vor allem beschützen wollen und ihm damit jede Freiheit nehmen.

»Habt ihr eine weibliche Verdächtige?«, erkundigte sich Oldenburg schließlich. »Oder wieso hast du vorhin gefragt?«

»Nein, ich will nur keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

»Es kommt nicht besonders häufig vor, dass Frauen morden. Und dann noch auf diese Weise.«

»Tja, nichts ist, wie es mal war«, bemerkte Weber lakonisch.

»Wenn es eine Frau war, dann würde ich drauf wetten, dass sie vorher selbst zum Opfer wurde. Physisch oder psychisch. Woher sonst diese Wut? Vielleicht eine Freundin, die er ausgenutzt hat. Oder eine Prostituierte, die er misshandelt hat. In der Richtung würde ich an eurer Stelle ermitteln.«

»Ich richte es Kant aus, aber Sie wissen ja selber, wie er ist.«

Oldenburg trat die halb gerauchte Zigarette aus und erwiderte: »Klar. Na dann, rufen Sie mich doch einfach an, wenn es was Neues gibt.«

Er schien es plötzlich eilig zu haben. Auf dem Weg zu seinem Wagen rannte er fast.