8

Während Athelstan das Feuer im Herd seines kleinen Priesterhauses anfachte, eilte Sir Francis Hamett durch das menschenleere Vestibül zum Kapitelhaus der Westminster Abbey. Er war gereizt, weil Wachsoldaten und Bogenschützen ihn immer wieder anhielten. Aber als er erst durch die Absperrungen auf das Abteigelände gelangt war, wich sein Ärger einer wohligen Genugtuung darüber, daß er dem so schwer faßbaren Perline Brasenose bald begegnen würde. Vor der Treppe, die ins Kapitelhaus führte, hielt Hamett inne; dann bog er nach rechts und ging die lange Treppe zur Monstranzkammer hinunter. Unten angekommen, drückte er vorsichtig die eisenbeschlagene Tür auf. Dahinter lag eine Gewölbekammer mit kahlen Steinwänden, eigentlich nicht mehr als ein großer Kellerraum, trocken und sauber. Zwei brennende Fackeln steckten in Haltern an der Wand.

»Perline?« flüsterte Hamett. Seine Stirn war mißvergnügt gerunzelt. »Wo in Gottes Namen steckst du?« zischte er, aber seine Worte hallten ungehört durch die leere Kammer.

Hamett seufzte verdrossen und wischte sich mit dem Mantelsaum das Gesicht ab. Er setzte sich auf einen Steinsockel am anderen Ende der Kammer. Vielleicht war der Soldat woanders hingegangen? Wenn er wiederkäme, würde er Brasenose ordentlich die Leviten lesen. Über ihm begannen die Abteiglocken zur Vesper zu läuten. Obwohl die Wände dick waren, hörte Hamett das Fußgetrappel der Mönche, die herunterkamen. Es wurde still, und dann hörte er von fern, wie der Chor anfing zu singen.

»Exsurge, Domine, exsurge et vindica causam meam erhebe Dich, o Herr, erhebe Dich und sitze zu Gericht über meine Sache.«

Hamett hörte diese Worte und lächelte matt. Hatte Gott sich erhoben, um über ihn und die anderen zu Gericht zu sitzen? Plötzlich war er müde; er lehnte sich an die Wand und starrte in die Dunkelheit. So vieles war schiefgegangen. Vor zwanzig, dreißig Jahren, da waren er und die anderen junge Paladine gewesen, die geistigen Nachfolger Artus’ und seiner Ritter. Sie hatten sogar einen Chronisten in seinem Kloster dafür bezahlt, daß er nachwies, wie Artus seine Burg in Shropshire erbaut hatte. Und hieß es nicht, daß seine Gemahlin Ginover im Kloster der Weißen Damen begraben lag, unter den Eichen bei Boscobel? Die Ritter vom Schwan hatten ihre Tafelrunde in Lilleshall Abbey abgehalten. In leuchtenden Farben und unter dem schrillen Schmettern silberner Trompeten hatten sie Reiterspiele und Turniere veranstaltet. Und dann hatten sie den Kelch gefunden. Anfangs war Sir Edmund Malmesbury mißtrauisch gewesen. Er hatte sich lustig gemacht über den Reliquienhändler, der ihnen das Stück angeboten hatte. Sir Henry Swynford aber war damit zu einem gelehrten Mönch gegangen, und der hatte erklärt, der Zedemholzkelch sei in der Tat sehr alt und könne durchaus jener Gral sein, nach dem König Artus und seine Ritter gesucht hatten. Oh, wie waren sie entzückt gewesen!

Hamett streckte die Beine aus, um seine verkrampften Muskeln zu lockern. Im großen Refektorium von Lilleshall waren sie zusammengekommen und hatten sich um die Tafel gesetzt; der Kelch hatte auf einem Sockel gestanden, bedeckt mit einem purpurnen Damasttuch. Nacheinander hatte jeder Ritter das Privileg gehabt, ihn einen Monat lang zu besitzen, aber dann war er verschwunden. Eines Abends, als sie in der Abtei gerade beim Abendbankett saßen, war Malmesbury hereingestürmt und hatte gebrüllt: »Der Kelch ist fort! Der Kelch ist fort!«    

Sie hatten alles durchsucht, aber den Kelch nicht wiedergefunden, und die Saat der Zwietracht war gesät gewesen. Niemand erhob offene Beschuldigungen, doch die Ritter vom Schwan hatten angefangen, untereinander zu flüstern. Mit anklagendem Finger hatte man bald auf diesen, bald auf jenen gezeigt, die Fäule hatte sich ausgebreitet wie der Mehltau auf einer Blume, war in ihr Leben gesickert und hatte weitere Zwietracht fortgezeugt. 

Eines hatte zum ändern geführt. Der Krieg in Frankreich nahm eine schlechte Wendung, und zu den Verlustmeldungen kamen die Folgen der großen Pest: Es fehlte an Arbeitskräften, und die Bauern verlangten bessere Einkünfte und mehr Rechte. Hamett und die übrigen hatten ihre Seelen in die Finsternis irren lassen …

Hamett beugte sich seufzend vor: Das war doch sicher alles vergessen? Er hatte seine Ländereien bewirtschaftet, Bücher gekauft und ein Interesse für merkwürdige exotische Tiere entwickelt. Zu diesem Parlament hatte er gar nicht kommen wollen. Tatsächlich hatte er sogar im stillen versucht, seine eigene Wahl zu hintertreiben, aber der Sheriff war ein Mann Gaunts. Als die Wahlzettel im Rathaus von Shrewsbury gezählt worden waren, da war Hamett vom Resultat ebenso überrascht gewesen wie alle anderen. Oh, Malmesbury hatte ihnen geraten, tapfere Miene zu machen, und herumtrompetet, was sie alles tun würden, wenn sie erst in Westminster wären, aber irgend etwas an der Sache war faul gewesen.

Hamett und Aylebore hatten leise protestiert, aber der Sheriff hatte hinter seinem großen Tisch gelächelt und die Hände gespreizt. »Ihr seid gewählt worden«, hatte er erklärt. »Oder wollt Ihr sagen, ich bin korrupt?« 

Was hätte Hamett tun können? Lauter Widerspruch hätte einen merkwürdigen Eindruck gemacht. Statt dessen also hatte er wie der Rest das Ergebnis akzeptiert; er war mit den anderen nach Westminster gereist und wie üblich im Gasthof »Zum Ungeheuer« abgestiegen.

Hamett regte sich, als er ein Geräusch aus dem Vestibül draußen hörte, einen leisen Schritt. Er stand auf; aber jetzt hörte er nichts weiter als den fernen Gesang des Chores. Doch dann kam wieder ein Geräusch, und er ging langsam zur Tür. Zu seiner Überraschung war die Fackel im Wandhalter über der Treppe erloschen.

»Ist da jemand?« rief er. Ein Angstschauer lief ihm über den Rücken. Er umfaßte den Griff seines Dolches und ging vorsichtig die Treppe hinauf: »Perline?« flüsterte er.

Oben sah er sich um: nichts als Schatten, die im Fackelschein tanzten und die Gesichter der Ungeheuer oben an den Säulen noch grotesker erscheinen ließen. Dämonen lachten auf ihn herab, Satyrn bleckten die Zähne. Hamett bemühte sich, beherrscht zu atmen. Sollte er noch warten oder lieber gehen? Er ging wieder die Treppe hinunter und gelobte sich, wenn Perline nicht bald käme, würde er gehen und Rachepläne schmieden. Wütend ballte er die Fäuste: Er hatte Perline einen besonderen Brief gegeben, der ihm den Zutritt zum Kapitelhaus ermöglichte. Wieso hatte der Soldat diesen Brief nicht benutzt und war einfach gekommen, statt ihm eine Nachricht zu schicken und ihn zu einem Treffen hierher zu bestellen? Hamett kehrte zu seinem Steinsockel zurück und setzte sich. Er zerbrach sich nicht länger den Kopf über die geheime Verabredung, die er mit dem jungen Soldaten aus dem Tower getroffen hatte; statt dessen kehrten seine Gedanken immer wieder zu Sir Henry Swynford zurück: zu seinem Gesicht, das eine Maske des Entsetzens gewesen war, und zu dem straff um seinen Hals geschnürten Garottendraht. Und dann Bouchons Leiche, von Flußschleim bedeckt, das Gesicht kränklich grün. Und die grausigen roten Kreuze, die man ihnen in die Haut geritzt hatte! Ein schreckliches Memento aus der Vergangenheit.

Er und die übrigen hatten Malmesbury flüsternd beschworen, mit ihnen zu fliehen. Malmesbury hatte ebensolche Angst gehabt, aber er hatte den Kopf geschüttelt. »Ihr wißt, was passieren wird«, hatte er gewarnt. »Wir haben keine Wahl.«

»Aber die Pfeilspitze und die Kerze?« hatte Aylebore erwidert »Wer könnte davon wissen?«

»Der Regent«, sagte Malmesbury.

»Hat er uns hergeholt, um uns zu ermorden?« hatte Goldingham gefragt. »Warum schwenken wir nicht um, Sir Edmund? Vielleicht will der Regent uns wegen unserer Opposition bestrafen.« Malmesbury hatte den Kopf geschüttelt und die Hände vors Gesicht geschlagen. »Er kann nichts tun«, hatte er gemurmelt. »Der Regent hat ein Zeichen versprochen.«

»Das ist doch lächerlich«, hatte Goldingham gestottert. »Wir warten hier wie Lämmer, bis man uns die Kehle durchschneidet?«

Hamett starrte auf seine Finger. Der Regent hatte Malmesbury empfohlen, Vertrauen in Cranston zu setzen. Die Abgeordneten hatten vereinbart, sich nicht zu trennen. Aber - Hamett schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel - er mußte Brasenose treffen. Er hatte gutes Silber gegeben, und dafür wollte er etwas bekommen!

Er hörte ein Geräusch an der Tür und hob den Kopf. Sein Herz setzte einmal aus, und das Blut gefror ihm in den Adern. Eine Gestalt mit hochgeschlagener Kapuze stand da.

»Brasenose?« flüsterte Hamett.

»Tag der Rache«, intonierte die Gestalt und kam langsam herunter, »Tag den Sünden, wird das Weltall sich entzünden. Welch ein Graus wird sein und Klagen, wenn der Richter kommt mit Fragen …«

Hamett wich in die Ecke zurück und schlug wild um sich. Die Gestalt warf ihm etwas zu: Eine Pfeilspitze fiel ihm vor die Füße, dann eine Kerze und ein Stück Pergament.

Hamett fiel auf die Knie und ballte die Fäuste. »Bitte …!« flehte er.

Die Gestalt kam immer näher. Das Gesicht konnte Harnett nicht erkennen. Das Licht war schlecht, die Tür zur Kammer war geschlossen, und die Fackel flackerte hinter der furchterregenden, grausigen Gestalt. Ein Phantasma, das verborgenes Entsetzen in Hametts Seele aufrührte und Bilder aus der Vergangenheit heraufbeschwor. Reiter in Rüstung und Helm, mit Fackeln in den Händen, versammelten sich unter den ausgestreckten Ästen einer mächtigen Eiche, an denen Gestalten baumelten und tanzten.

»Das ist so lange her!« stöhnte Hamett.

»Nichts bleibt immer in der Vergangenheit, Sir Francis«, antwortete die Gestalt.

Hamett fuhr auf. Er kannte die Stimme!

»O nein, nicht Ihr, um der Barmherzigkeit willen!«

»Macht Euren Frieden mit Gott.«

Die Axt kam unter dem Mantel des Mannes hervor. Sir Francis duckte sich. Die Axt sauste herab, und der glatte Streich ließ Hametts Kopf über den Boden der Kammer rollen.

*

Athelstan saß an seinem Tisch im Pfarrhaus und starrte ins Feuer.

»Ich gehöre ins Bett«, sagte er leise zu Bonaventura.

Der große Kater, der nach seiner nächtlichen Jagd rechtschaffen müde war, lag ausgestreckt vor dem Feuer und schnurrte in der Wärme. Athelstan betrachtete das Pergament, das vor ihm lag. Er hatte versucht, einen Sinn in die Ereignisse des Tages zu bringen. So viel war passiert! Die Bilder der Erinnerung waren noch frisch. Zwei grausige Leichen in ihren Särgen - einst mächtige Männer, die jetzt im Tod erbärmlich aussahen. Banyard, wie er sie zu Dame Mathilda führte, und diese junge Hure mit den schönen, fast entblößten Brüsten.

Atheisten lächelte. »Sie war sehr schön, Bonaventura. Haare, so schwarz wie die Nacht, und ein Körper, der auch einen Heiligen in Versuchung geführt hätte.«

Der Kater hob den Kopf; als wolle er nicken, und ließ sich wieder zurückfallen. Atheisten starrte in die Flammen. Wenn Bonaventura nur sprechen könnte - dann könnte er ihm erzählen, was er in den dunklen Straßen und Gassen von Southwark sah! Dann wäre das Geheimnis des Dämons bald gelöst. Atheisten preßte die Lippen zusammen. Nun, der Dämon würde warten müssen, bis Pater Anselm seinen Rat gegeben hätte. Er fragte sich, ob Sir John wohl schlief, und dachte an ihre Begegnung mit dem Totensammler. Gottlob hatte der Kerl Perlines Leichnam nicht entdeckt. Cranston hatte wahrscheinlich recht: Perline war nicht aus der Garnison im Tower desertiert, sondern hatte den Konstabler bestochen, um sich entfernen und seinen eigenen Geschäften nachgehen zu können. Aber welchen? Und weshalb traf Perline sich mit einem Abgeordneten an einem dunklen, einsamen Kai? Atheisten kratzte sich am Kinn: Anscheinend war Hamett nach Southwark gekommen, um sich mit Perline zu treffen, und zusammen waren sie über den Fluß zu der Frachtwaage gefahren - aber warum? Konnte Perline etwas mit dem makabren Tod dieser Ritter zu tun haben?

Bonaventura regte und streckte sich. Atheisten erinnerte sich an Cranstons Sorge wegen der verschwundenen Katzen in der Cheapside. Er beugte sich hinunter und streichelte Bonaventura.

»Ein Meer von Sorgen, Bonaventura! Ein Meer von Sorgen.«

Er setzte sich wieder an seinen Tisch, griff nach dem Federkiel und schloß die Augen, um sich zu konzentrieren. Ich habe mein Brevier gebetet, dachte er, und Philomel schnarcht zum Steinerweichen. Gegen unseren Dämon kann ich nichts unternehmen, solange Prior Anselm nicht geantwortet hat. Sir John und seine Katzen? Die müssen warten. Was also ist mit den Morden in Westminster?

Athelstan seufzte, öffnete die Augen und schrieb seine Gedanken nieder.

Item: Bouchon und Swynford gehörten zu einer Gruppe mächtiger Männer, die eine Gesellschaft namens »Ritter vom Schwan« gegründet haben.

Item: Was ist aus dieser Gesellschaft geworden?

Item: Haben die Pfeilspitze, die Kerze und das Stück Pergament etwas mit dem ritterlichen Treiben dieser Herren zu tun?

Item: Haben die Morde an Bouchon und Swynford etwas mit dem Zerfall der Gesellschaft der »Ritter vom Schwan« zu tun?

Item: Welche anderen Streitigkeiten gibt es zwischen diesen Rittern, von einem gescheiterten Geschäftsunternehmen zur See abgesehen?

Item: Was gibt es in der Vergangenheit dieser Ritter, das sie zu verbergen suchen? Welches schreckliche Geheimnis gibt es zwischen ihnen?

Item: Ist es nur ein Zufall, daß Pater Benedict, der Kaplan der Commons, durch seinen verstorbenen Amtsbruder, Pater Antony, mit diesen mächtigen Herren aus Shropshire bekannt ist?

Item: Wieso hat Hamett sich mit Perline Brasenose getroffen? Und warum hat er Cranston nicht die Wahrheit gesagt?

Item: Mit wem hat Bouchon sich am vergangenen Montag abend getroffen? Woher stammte der schwarze Schmutz unter seinen Fingernägeln?    

Athelstan warf den Federkiel hin und streckte sich. Bouchons Leiche, dachte er, war in der Nähe von Tothill Fields gefunden worden. Das hieß, er mußte ermordet und bei Hochwasser in die Themse geworfen worden sein, denn bei Ebbe wäre die Leiche zur Stadt zurückgespült worden. Athelstan rieb sich den Mund. War damit etwas über den Ort des Mordes gesagt? Die Leiche hatte sich im Schilf verfangen. Athelstan schüttelte den Kopf; das würde er sich merken. 

Er griff zur Feder und schrieb weiter.

Item: Warum war dieser mysteriöse Priester, der anscheinend von jedermann unbemerkt den Gasthof »Zum Ungeheuer« betreten und wieder verlassen konnte, so zuversichtlich, daß er entkommen würde, ohne daß ihn jemand sah? Es sei denn, er wäre selbst einer der Ritter gewesen.

Verdrossen ließ Athelstan den Federkiel sinken. »Ach, Bonaventura«, sagte er, als der Kater heraufsprang und den Kopf in seine Hand schmiegte. »Das ist das eigentliche Geheimnis, du listenreichster unter den Katern. Wieso verschwinden diese Herren nicht aus Westminster und kehren nach Shropshire zurück? Schließlich sind sie allesamt eingeschworene Gegner des Regenten. Es sei denn, natürlich …« Athelstan streichelte Bonaventura und starrte auf seine Notizen. »Es sei denn, treuester Kater, der Regent selbst kennt ihre schrecklichen Geheimnisse und zwingt sie, in Westminster zu bleiben.«

Athelstan setzte den Kater behutsam wieder auf den Boden. Er ging in die Speisekammer, goß ein wenig Milch in eine Zinnschale und stellte sie vor den Kamin. Bonaventura kam heran, hockte sich nieder und schleckte die Milch mit seiner kleinen, rosaroten Zunge auf.

Athelstan kniete sich neben ihn und lauschte dem behaglichen Schnurren des Katers. Er schaute in die Dunkelheit »Warum will Gaunt, daß diese Abgeordneten, seine eingeschworenen Feinde, in Westminster zugegen sind?«

Er ließ sich auf die Fersen zurücksinken. Sollten er und Cranston den Regenten um eine Audienz ersuchen? Darauf bestehen, daß John von Gaunt ihnen alles erzählte, was er über diese Männer wußte? Oder würde Gaunt nur die schmalen Brauen hochziehen und achselzuckend völlige Unwissenheit vorschützen?

Atheisten kehrte zu seinem Schreibzeug zurück und hielt inne; er lauschte dem Wind, der draußen durch die Bäume auf dem Friedhof rauschte. Er dachte an Watkins kleine Armee. Simplicitas war nicht dabeigewesen, aber sie trieb sich ständig bei der Kirche herum und fragte Atheisten, ob es Neuigkeiten gebe. Der Ordensbruder stützte das Kinn in beide Hände.

»Zeit«, murmelte er. »Alle diese Geheimnisse sind eine Frage der Zeit.«

Sie waren wie die Muster in einem Wandteppich, der langsam entrollt wurde. Bis jetzt sah er noch nicht das kleinste Glimmen, das ihn durch das Labyrinth der Geheimnisse führen könnte. Er warf einen Blick auf die Stundenkerze. Wenn er noch länger aufbliebe und arbeitete, würde er nur immer aufgeregter werden. Er ging zum Kamin und stellte das grobe Drahtgitter auf, damit Flammen und Funken nicht herauswehen konnten. Abwesend tätschelte er Bonaventuras Kopf, packte sein Schreibzeug zusammen und ging zur Treppe. Dann seufzte er und kehrte zum Tisch zurück. Schon einmal hatte er das Tintenfaß stehenlassen, und Bonaventura hatte es umgeworfen. Atheisten drückte den Stopfen hinein und öffnete die Tasche mit seinem Schreibzeug. Da fiel der Feuerschein auf die beiden Maulkörbe, die der Totensammler im »Heiligen Lamm Gottes« auf dem Tisch hatte liegenlassen. Atheisten nahm sie aus der Tasche und betrachtete sie aufinerksam. Das Leder war schwarz und verschrammt.

»Wie kann jemand Gottes armer Kreatur solche Grausamkeiten zufügen?« fragte er Bonaventura.

Er riß einen der Maulkörbe auseinander und untersuchte das rote innere Leder. Dann lächelte er und kniete nieder, um Bonaventuras Kopf zu streicheln. »Es muß einen Schutzengel für Katzen geben«, sagte er. 

Atheisten steckte den zerrissenen Maulkorb wieder in die Tasche, und als er die Treppe hinaufstieg, sang er leise vor sich hin. Morgen würde er vielleicht wenigstens eins der Geheimnisse aufklären, mit denen er und Cranston zu kämpfen hatten.

*

»Ite missa est - gehet, ihr seid entlassen.«

Athelstan schaute auf seine Pfarrkinder hinunter, die zu seiner Überraschung allesamt im Morgengrauen zur Frühmesse erschienen waren; begierig warteten sie darauf zu erfahren, was ihr Pfarrer im Hinblick auf den Dämon anzufangen gedachte. Athelstan hatte ihnen den Schlußsegen gespendet und wollte eben die Altarstufen hinuntersteigen und noch das Knie vor dem Allerheiligsten beugen, als er den verzweifelten Ausdruck in Watkins Augen sah. Seufzend setzte er sich auf die Altarstufen. Crim, der Ministrant, setzte sich zu seiner Rechten, und Bonaventura ließ sich links nieder. Aufrecht saß der Kater da und starrte mit seinem gesunden Auge mißbilligend diese Leute hier an, die das Erscheinen seiner morgendlichen Milchschale verzögerten.

»Brüder und Schwestern«, begann Athelstan, »ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Ich habe meinen Prior, Pater Anselm, um Hilfe gebeten.«

»Und diese Hilfe ist da, Pater!«

Athelstan fuhr hoch. Er spähte durch den Lettner zu dem stämmigen, untersetzten Ordensbruder, der durch das Kirchenschiff herangeschlendert kam. Als der Mann die Kapuze zurückschlug, erkannte Athelstan das freundliche, lächelnde Gesicht seines Dominikanerbruders John Armitage. Athelstan erhob sich, und Armitage kam durch den Lettner herauf; die Pfarrgemeinde machte hastig Platz. Armitage ergriff Athelstans Hand.

»Ich bin schon seit einer ganzen Weile hier, Bruder, hinten im Schatten. Wer ist dein Maler?«

Athelstan deutete auf den nervös dreinblickenden Huddle.

»Du hast ein gutes Auge, Mann.« Armitage kratzte sich die glattrasierte Wange. »Hast du schon mal daran gedacht, Dominikaner zu werden? Wir brauchen gute Maler.«

Huddle schüttelte den Kopf; dieser geschäftige Ordensbruder, der ihn da so eindringlich anstarrte, jagte ihm großen Schrecken ein.

»Wir brauchen gute Maler«, wiederholte Armitage. »Wenn alle unsere Kirchen so aussähen, würden wir vielleicht mehr Leute in die Messe bringen.« Er lockerte den Strick, der sich um seinen beträchtlichen Wanst spannte; Athelstan wußte jedoch, daß er sich für einen so dicken, schweren Mann sehr flink bewegen konnte. »Der Pater Prior schickt mich«, sagte Armitage leise. »Aber ich habe keine Lust, die Sache vor versammelter Gemeinde zu besprechen.«

»Was Pater Athelstan angeht«, trompetete Watkin, der diese Worte gehört hatte, »geht uns alle an, besonders wenn es sich um unseren Dämon handelt.«

»Er ist der Vorsitzende des Gemeinderates«, flüsterte Athelstan rasch; er hatte den warnenden Ausdruck in Armitages Blick gesehen.

Pater John ging zu Watkin hinüber und schaute auf ihn hinunter. Dieser starrte trotzig zurück. Der Ordensbruder beugte sich vor und flüsterte dem Mistsammler etwas ins Ohr. Watkins Miene veränderte sich; er strahlte von einem Ohr zum ändern und nickte feierlich. Armitage beugte das Knie vor der Monstranz, und Athelstan, Crim und Bonaventura folgten ihm in die Sakristei. Nachdem Athelstan rasch seine Meßgewänder abgelegt hatte, führte er seinen Gast hinüber ins Pfarrhaus.

»Ich habe Hafergrütze«, bot er an.

Armitage leckte sich die Lippen. »Milch und Honig auch?« fragte er.

»Reichlich.« Athelstan lächelte.

»Dann ist mein Becher wahrhaft zum Überfließen voll«, sagte Armitage.

»Was hast du zu Watkin gesagt?« fragte Athelstan, während er seinen Gast bediente.

Armitages Augen funkelten. »Ich habe ihm gesagt, er solle in der Kirche bleiben und den Chorraum bewachen: Sollte der Dämon zuschlagen, so werde er es sicher auf den Hochaltar abgesehen haben. Und nur ein Mann wie Watkin sei stark genug, um ihm Widerstand zu leisten.«

Athelstan grinste. Nun widmeten sie sich erst mal dem Frühstück. Viel gab es nicht, aber Armitage schwor, es sei tausendmal besser als das, was im Refektorium zu Blackfriars aufgetischt werde. Als er fertig war, stützte er die Ellbogen auf den Tisch und schaute zu Athelstan hinüber. Seine dunklen Augen blickten jetzt nicht mehr so fröhlich.

»Prior Anselm hat mir von deinem Problem berichtet.« Athelstan nickte wachsam. »Ich dachte, du lehrst in den Hallen von Oxford«, sagte er ausweichend.

»Das Essen dort war so schrecklich, daß ich mich zurückversetzen ließ«, scherzte Armitage und klopfte sich auf den Bauch. »Jetzt bin ich in Blackfriars, vorgeblich als Bibliothekar und Archivar. Aber ich bin auch Exorzist für den östlichen Teil Londons. Na ja, für den größten Teil davon, mit Ausnahme der Gemeinden nördlich von St. Mary of Bethlehem.«

Athelstan starrte ihn ungläubig an. Er hatte Armitage aus Novizentagen als einen heiteren, praktisch veranlagten Priester in Erinnerung, nicht als einen von denen, die sich mit Dämonen, Beschwörungsformeln und Exorzismen befaßten.

»Ich weiß, was du denkst, Athelstan.« Armitage pickte einen Krümel vom Teller und steckte ihn in den Mund. »Aber meine Aufgabe ist nicht so furchterregend wie sie erscheint.« Er lächelte schmal. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Leute es nach zwei Humpen Ale schaffen, in jeder Ecke Dämonen und Kobolde zu sehen.«

»Aber hier ist es etwas anderes«, entgegnete Athelstan.

»Ich weiß, ich weiß, der Pater Prior hat es mir erzählt. Einer aus deiner Gemeinde wurde körperlich angegriffen, andere haben eine dunkle, abscheuliche Gestalt gesehen, und du selbst hast einen schrecklichen Gestank in eurem Beinhaus wahrgenommen. Bevor ich in eure Kirche kam, habe ich es besichtigt, aber ich habe nichts gerochen und auch sonst nichts Ungewöhnliches bemerkt.«

»Weil es geschrubbt und geputzt worden ist«, erwiderte Athelstan scharf.

Armitage griff nach seiner Hand. »Bruder, ich will mich ja nicht über dich lustig machen. Ich bin jetzt seit achtzehn Monaten Exorzist. In dieser Zeit habe ich mich um über fünfzig Fälle kümmern müssen. Alle ließen sich durch natürliche Phänomene erklären. Aber«, fuhr er langsam fort, »es gibt auch andere.« Er nahm einen Schluck von seinem Ale. »Vor zehn Tagen kam ich in ein Haus bei St. Giles Cripplegate. Die Mutter dort hatte von merkwürdigen Geräuschen und Schreien in der Nacht berichtet. Von unheilvollen Gefühlen und dunklen Vorahnungen. Und, Athelstan, ich habe das gleiche verspürt. Ich durchforschte das Haus. Ich segnete es. Ich nahm einen Exorzismus vor, aber ich konnte nichts Ungehöriges entdecken. Die Frau war Witwe: sanft, fromm, ein bißchen ängstlich, aber im Grunde genommen eine gute Frau. Ich wollte wieder gehen, als ihr zwanzig Jahre alter Sohn hereinkam. Er war nach der neuesten Mode gekleidet, und sein Haar war gekräuselt und in Löckchen gelegt. Er war schrecklich höflich.« Armitage blinzelte, und Athelstan sah die Angst in seinen Augen. »Dieser junge Mann nun«, fuhr der Exorzist fort, »nahm meine Hand und fragte mich, wie es mir gehe. Ob ich nicht noch auf einen Humpen Ale bleiben wolle? Und ein bißchen Silber für die Armen mitnehmen?« Armitage schloß die Augen und nagte an der Unterlippe. »Dieser junge Mann«, fuhr er mit rauher Stimme fort, »machte mir wirklich angst. Seine Augen waren tot, Bruder. Man hatte den Eindruck, als sei das ganze Gesicht eine Maske und etwas anderes liege dahinter: ein Wesen, dunkel und unheimlich, das mich und seine Mutter verhöhnte.«     

Der Exorzist stellte sein Ale hin. »Ich habe nicht den Mut aufbringen können, noch einmal hinzugehen und dieser Frau zu sagen, daß die Seele ihres Sohnes in Finsternis gehüllt ist, aber als Exorzist bin ich dieser Meinung. Er hat irgendeinem Laster gefrönt, das finsteren Mächten die Tür geöffnet hat.« Er schob seinen Humpen von sich. »Ich erzähle dir das, Athelstan, weil es meine Vorstellung von einem Dämon wiedergibt: Besessenheit. Es ist jemand, dessen Erscheinung und Auftreten kühl, rational und logisch wirken, ja, sogar angenehm.«

Athelstan streichelte Bonaventura, der ihm auf den Schoß gesprungen war. »Und damit willst du sagen, wir haben hier in Southwark keinen Dämon?«

Armitage lächelte. »Glaubst du es denn wirklich, Bruder?« Athelstan schüttelte den Kopf.

»Dann folge deinem Herzen, Athelstan. Wenn du einem Teufel begegnest, dann wird es keine dunkle Gestalt sein, die sich zwischen Gräbern herumtreibt. Du weißt, was ich meine?« Athelstan dachte an die mächtigen Abgeordneten in Westminster, ihr gelassenes Hohnlächeln, ihre Verlogenheit, die Doppelzüngigkeit ihres Lebens. »Ja, ich weiß es.«

Armitage seufzte. »Das dachte ich mir. Du bist Schreiber beim Lord Coroner, nicht wahr? Dir geht ein ansehnlicher Ruf voraus, Bruder Athelstan. Denke doch an die Mörder, die du gejagt hast, an die Männer und Frauen, die ein anderes Leben auslöschen können, ohne mit der Wimper zu zucken - und dann wischen sie sich den Mund ab und verkünden vor aller Welt ihre Unschuld. Das sind deine Dämonen. Jedoch«, er schlug seine Kapuze hoch, »zugleich könnte es sein, daß deine Pfarrkinder recht haben: Vielleicht treibt sich ein Wesen in Southwark herum. Aber ich bezweifle es eigentlich.«

»Was soll ich dann tun?« fragte Athelstan.

»Benutze die Logik, für die du so berühmt bist.« Armitage stand auf. »Halte deine Gemeinde ruhig. Studiere alle Beweise, die man dir vorlegt. Suche nach der schwachen Stelle, und wenn du sie findest, wird sich das Geheimnis entwirren.« Armitage griff nach seinem Mantel. »Es tut mir leid - ich habe dir wenig Trost spenden können, Bruder. Der Pater Prior hat mich nach Eltham geschickt, und er bat mich, dich unterwegs zu besuchen.« Armitage grinste. »Ich schlage dir eine Wette vor, Bruder: Wenn du deinen Dämon binnen einer Woche nicht gefunden hast, komme ich zurück und bleibe hier, bis du ihn hast.«

»Und wenn ich ihn finde?«

Armitage streckte die Hand aus. »Dann schickst du deinen Maler nach Blackfriars; da ist ein Stück kahle Wand bei der Sakristei, und immer, wenn ich daran vorbeikomme, stelle ich mir dieses wunderschöne Gemälde vor, auf dem Christus mit der Samariterin spricht. Keine Sorge, man wird ihn gut bezahlen.«

Athelstan ergriff die ausgestreckte Hand. »Die Wette gilt.« Armitage dankte Athelstan und Bonaventura für die Gastlichkeit, segnete die beiden und verließ das Pfarrhaus.

Eine Zeitlang blieb Athelstan sitzen und dachte über alles nach, was der Exorzist gesagt hatte.

»Bruder John hat die Wahrheit gesagt«, befand er schließlich. »Aber wo ist die schwache Stelle in all dem?«

Er nahm den Kater auf den Arm und starrte zu dem kahlen Kruzifix über dem Kamin hinauf. Watkin und die anderen hatten den Dämon am Montag abend zum ersten Mal gesehen. Am selben Abend war Sir Oliver Bouchon ermordet worden. Perline Brasenose, der seit Samstag nicht mehr zu Hause gewesen war, hatte sich offenbar drüben auf der anderen Seite mit Sir Francis Hamett am Kai getroffen. Seit Montag abend war der Dämon bei Benedictas Haus gesehen worden - das ebenfalls recht einsam und endegen lag dann von Ranulf in dem leeren Haus und gestern noch einmal auf dem Gemeindefriedhof. Wo also war die schwache Stelle in all dem?

Es klopfte.

»Herein«, rief Athelstan.

Halb hatte er mit Cranston gerechnet, aber es war Benedicta, die mit einem Korb am Arm hereinschlüpfte. Gleich herrschte großes Durcheinander, denn Bonaventura sprang eilig herbei, um zu sehen, ob es da etwas zu fressen gäbe.

»Ich habe Euch etwas mitgebracht«, sagte die Witwe und stellte ihren Korb auf den Tisch. Sie nahm kleine, in Leintuch gewickelte Bündel heraus und packte sie aus: Käse, ein kleiner Tiegel mit Marmelade, ein Stück Pökelschinken, ein paar Scheiben Räucherspeck, Zwiebeln und ein Beutel Hafergrütze. Dazu konnte Athelstan nicht nein sagen. Cranston machte sich ständig darüber lustig, aber er war nur allzu froh, Benedictas hübsches Gesicht zu sehen. Sie trug die Lebensmittel in die Speisekammer und half Athelstan, den Tisch abzuräumen. Er holte einen frischen Krug Bier, und dann setzten sie sich, und er erzählte ihr, was sich in Westminster zugetragen hatte. Benedicta hörte aufmerksam zu. Die Lachfältchen in ihrem glatten, olivfarbenen Gesicht verloren sich, als Athelstan vom Tod der beiden Ritter und von den finsteren Intrigen berichtete, die der Regent womöglich betrieb. 

»Ihr solltet Euch vorsehen, Athelstan«, warnte sie ihn dann. »Wenn Ihr über den Markt geht, lächeln die Leute und grüßen Euch, und das gehört sich auch so. Aber wenn Ihr fort seid, dann geht das Flüstern los, angefacht und genährt von den Bauern, die ihre Waren dort feilbieten. In Essex herrscht Unruhe; in Coggeshall hat man einen Steuereintreiber angegriffen, und in Colchester haben sie königlichen Boten das Tor versperrt. Man munkelt, daß die Leute Waffen Zusammentragen und Schwerter und Dolche verstecken. Man schlägt Eiben, um Bogen und Pfeile daraus zu machen. Sensen und Kanthaken werden geschärft, und zwar nicht für die Ernte.« Sie beugte sich über den Tisch und legte ihre weiche Hand auf Athelstans. »Da zieht ein Unwetter auf, Pater. Die Stadt wird schreckliche Gewalttaten erleben.«

»Bevor du fragst, Benedicta …« Befangen zog Athelstan die Hand weg, stand auf und trat ans Feuer. »Ich werde bleiben, wo ich bin, solange der Prior nichts anderes befiehlt.«

Benedicta sah die störrische Linie um seinen Mund und wußte, daß diese Diskussion beendet war.

»Und der Dämon?« fragte sie rasch.

»Den jage ich noch.«

»Und Perline?«

Athelstan schüttelte den Kopf.

»Ich habe Simplicitas auf dem Markt getroffen«, erzählte sie weiter. »Sie scheint sich immer noch Sorgen zu machen. Ich habe sie gefragt, ob es Neuigkeiten gibt, aber sie hat nur den Kopf geschüttelt und ist weiter ihren Einkäufen nachgegangen.« Benedicta lachte befangen und spielte mit der Silberkette an ihrem Hals. »Ich wäre früher hier gewesen, aber ich habe ihr noch geholfen, ihren Korb zu tragen.«

Benedicta fuhr hoch, als die Tür aufgestoßen wurde und Cranston wie der Nordwind hereingestürmt kam. Er krähte entzückt, als er Benedicta sah, packte sie bei den Schultern, bückte sich und drückte ihr einen feuchten Kuß auf jede Wange. »Gott sei Dank für hübsche Weiber«, brüllte er. Dann drehte er sich um, blieb breitbeinig stehen und schob die Daumen hinter den Gürtel. »Los, Athelstan, pack deine Sachen, schließ deine Kirche ab. Wir müssen nach Westminster.«

Athelstan stöhnte.

»Befehl des Regenten«, fuhr Cranston fort. »Letzte Nacht wurde Sir Francis Hamett in der Monstranzkammer ermordet. Sein Körper lag auf dem Boden, seinen Kopf hatte man mit den Haaren an einen Fackelhalter an der Wand gebunden.« Er zog eine Grimasse. »Anscheinend ist unser guter Ritter gestern abend dort hinuntergegangen, um sich mit jemandem zu treffen, Gott weiß, mit wem. Die Wache hat ihn durchgelassen. Heute morgen sah einer der Bogenschützen, daß die Tür offenstand, und ging hinunter, um nachzusehen. Dann kam er wieder herausgestürmt und kreischte wie von Sinnen.«

»Aber wieso war Hamett so dumm, an einen derart einsamen Ort zu gehen?«

Cranston zuckte die Achseln. »Weiß der Himmel. Malmesbury hatte den Rittern befohlen, zusammenzubleiben. Aber das müssen wir gerade herausfinden.« Er klopfte Athelstan auf die Schulter. »Tut mir leid, Bruder, aber uns beiden bleibt nichts anderes übrig, als im ›Ungeheuer‹ Quartier zu beziehen. Das ist der Befehl des Regenten.«

Athelstan wollte protestieren, doch Cranston schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Debatte, Bruder. Alle Angelegenheiten hier werden warten müssen.« Grinsend sah er Benedicta an. »Um die Pfarre mußt du dich jetzt kümmern - und wenn du lange genug sitzenbleibst und so hübsch aussiebst, fängst du vielleicht sogar den Dämon.« Er wandte sich wieder Athelstan zu. »Es gibt noch einen weiteren Befehl. Am Samstag morgen wollen Gaunt und der junge König in einer Prozession zu den Commons nach Westminster reiten.« Er blähte die Brust. »Ich als Justizbeamter des Königs werde dieser Prozession angehören, und du, mein guter Athelstan, wirst mich natürlich begleiten müssen.« Athelstan starrte ins Feuer. Am liebsten hätte er sich schreiend geweigert, aber damit hätte er Cranston nur geärgert und sonst nichts erreicht.

»Benedicta, ich lasse dir die Schlüssel hier.« Er stand auf. »Kümmere dich um Bonaventura. Vergiß nicht, Philomel zu füttern, und frag den Pfarrer von St. Swithin, ob er so gut sein möchte, herzukommen und die Frühmesse zu lesen.«

Benedicta versprach alles. Athelstan ging zum Herd, nahm den Feuerhaken und wühlte damit in der Glut herum. »Das wird gleich ausgehen«, sagte er abwesend.

»Keine Sorge, Bruder«, beruhigte ihn Benedicta. »Ich werde mich um alles kümmern.«

Athelstan kletterte die Stiege zu seiner Schlafkammer hinauf. Während er die Satteltasche packte, die am Fußende seines Bettes hing, dachte er nicht an Westminster, sondern an Simplicitas. Wieso kaufte eine einsame junge Frau, die angeblich von Sorge um ihren verschwundenen Ehemann gepeinigt wurde, auf dem Markt so viel ein, daß Benedicta ihr tragen helfen mußte?