12

Athelstan stand am nächsten Morgen früh auf und beschloß, seine Messe in einer der Kapellen der Westminster Abbey zu lesen. Er ging hinunter in den Schankraum. Küchenjungen und Mägde waren dabei, den Kamin zu reinigen. Die Köchinnen hatten die Öfen in der Küche angezündet und erfüllten jetzt die Luft mit dem süßen Duft von frischgebackenem Brot.

»Guten Morgen, Pater!« Banyard, frisch wie der junge Morgen, kam mit einem Weinfäßchen auf der Schulter die Kellertreppe herauf.

»Guten Morgen, Herr Wirt!« antwortete Athelstan. »Ist es noch zu früh fürs Frühstück?«

»Es ist nie zu früh, Pater.«

Banyard führte ihn zu einem Tisch und servierte ihm eigenhändig frischgebackene kleine Brote, dazu Streifen von gepökeltem Schweinefleisch und auf Athelstans Wunsch einen Becher verdünntes Bier. Athelstan aß langsam; er merkte, daß der Gastwirt sich nicht entfernen wollte.

»Bist du froh, wenn das Parlament zu Ende ist?« fragte Athelstan. »Ich meine, du verdienst ja dann nicht mehr so viel.«

Der Wirt zog eine Grimasse und rückte ein paar Schemel zurecht. Dann wischte er sich die Hände an einem Lappen ab, setzte sich Athelstan gegenüber und stützte die Ellbogen auf den Tisch.

»Das kommt auf eins heraus, Pater. Wenn die Abgeordneten fortgehen, kommen Richter und Anwälte wieder.«

»Und die Abgeordneten der Commons steigen immer in diesem Gasthof ab?« fragte Athelstan.

Banyard spreizte die Hände. »Dies ist das dritte Parlament in vier Jahren, Pater. Ja, unsere Zimmer werden immer von Gästen aus der Grafschaft bewohnt.«

»Also von Sir Edmund und seinen Kollegen.«

Banyard lächelte. »Na ja, es sind nicht immer dieselben, aber letztes Mal war Sir Edmund auch hier, ja.«

»Und es hat keine besonderen Vorkommnisse gegeben?«

»Nein, das nicht gerade, Pater, aber im Parlament an St. Michaelis des Jahres 1379…«

»Also im vorigen Jahr …?«

»Ja, Pater, im vorigen Jahr - da gab es einen Streit zwischen Sir Edmund und den Schergen des Herrn Regenten.« Banyard hob gleich die Hand. »Oh, es wurde kein Blut vergossen, kein Dolch gezogen. Es geschah gerade, als Sir Edmund London verlassen und nach Shrewsbury zurückkehren wollte. Ob es Zufall war oder Absicht, jedenfalls traf er draußen im Hof mit zwei von Gaunts Gefolgsleuten zusammen.« Banyard wischte sich noch einmal die Hände ab und stopfte den Lappen dann unter seine Schürze. »Passiert ist nichts, aber im Hof hallte es von Drohungen und Gegendrohungen.«

»Worum ging es?«

»Ach, um das Übliche, Pater. Die Forderungen des Regenten und die Reaktion der Commons.« Er verstummte und schaute über Athelstans Schulter hinweg, und sein braunes, spöttisches Gesicht begann zu grinsen. »Wenn man vom Teufel spricht… Ich gehe am besten wieder an die Arbeit.«

Banyard schob geräuschvoll seinen Schemel zurück und verschwand in die Küche, als Sir Edmund Malmesbury hereingerauscht kam. An Athelstans Tisch blieb er stehen.

»Darf ich mich zu Euch setzen, Pater?«

»Sir Edmund, seid mein Gast.«

Der Ritter setzte sich. Sir Edmund hatte offenbar große Sorgfalt auf seine Toilette verwendet, aber Athelstan sah, daß er bleich war und schwarze Ringe unter den rotgeränderten Augen hatte.

»Ihr habt nicht gut geschlafen, wie, Sir Edmund?« Athelstan schob seinen Teller von sich.

Der Ritter bekreuzigte sich und griff nach einem der kleinen Brote. »Die Zeiten sind besorgniserregend, Pater. Die schlechte Ernte, die Überfälle der Franzosen …«

Athelstan beugte sich über den Tisch. »Sir Edmund«, unterbrach er ihn. »Ich beleidige Euch auch nicht. Vielleicht könnt Ihr mir die gleiche Freundlichkeit erweisen. Daß Ihr nicht schlafen könnt, hat nichts mit französischen Überfällen oder einer schlechten Ernte zu tun. Drei von Euren Kollegen sind ermordet worden, und Ihr bleibt trotzdem hier und bringt Euch selbst und die anderen in Gefahr?«

Malmesbury sah sich nervös um. »Wenn ich es Euch erzählen könnte, Pater, würde ich es tun.«

»Und warum könnt Ihr es nicht?«

Malmesbury starrte auf das Stück Brot in seiner Hand. »Es ist zu spät«, flüsterte er. »Wir sind zu weit gekommen.«

»Wobei, Sir Edmund? Um des lieben Gottes willen?«

Sir Edmund hob den Kopf; und ein bitteres Lächeln verzerrte sein Gesicht.

»Ich kenne Euch, Athelstan«, sagte er leise. »Ihr und Euer Bruder wart als Bogenschützen und Knappen in Lord Fitzalans Gefolge in Frankreich. Im Dorf Crotoy. Erinnert Euch!« Athelstans Herz setzte einmal aus, und er wandte den Blick ab. Er erinnerte sich an Lord Fitzalans Zelt; er und Stephen hatten drinnen Wache gehabt, als Sir Fitzalan ein paar Ritter bewirtet hatte. Ja, Malmesbury war dabei gewesen.

»Alles ändert sich«, sagte Malmesbury. »Was wurde aus Eurem Bruder?«

»Er ist gefallen.« Athelstan hob den Kopf. »Er wurde aus dem Hinterhalt ermordet.«

»Und da seid Ihr Ordensbruder geworden. Ein Akt der Wiedergutmachung, so höre ich.«

»Nein.« Athelstan lächelte düster. »Ich bin Priester geworden, weil Gott es so wollte. So, wie Er jetzt von Euch die Wahrheit hören will.«

»Heute ist ein wichtiger Vormittag.« Malmesbury hob die Stimme und wechselte mit Absicht das Thema. »Das Alltagsgeschäft ist erledigt, und heute kommen die Abschlußreden über die Steuern, die die Krone erheben will.«

»Ihr meint den Regenten?«

»Ja, ich meine den Regenten«, erklärte Malmesbury nicht minder laut.

Athelstan sah sich um. Goldingham stand in der Tür und starrte zu ihnen herüber. Athelstan verspürte die Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit, die er schon am Abend zuvor empfunden hatte. Diese Ritter würden ihm nichts erzählen. »Ich muß jetzt gehen, Sir Edmund.«

Athelstan trank seinen Becher aus und verließ die Schankstube; er durchquerte den Hof und ging durch eine schmale Gasse zum Fluß. Dort stand er über eine Stunde am Ufer und schaute auf den Strom der Themse, um Herz und Sinne zu beruhigen und auch, um das vorgeschriebene Fasten zu absolvieren, bevor er die Heilige Messe las. Langsam spazierte er dann zur Abtei; noch lagen ihre Gärten und Höfe still da. Durch das Hauptportal betrat er das Kirchenschiff und ging dann den Nordgang hinauf, wo er auf Pater Benedict stieß, der in einer Seitenkapelle seine Messe beendete.

»Natürlich, Bruder«, sagte er, als Athelstan seine Bitte vorgetragen hatte, »selbstverständlich kannst du hier deine Messe lesen.«     

Er überließ dem Dominikaner Meßgewand, Albe und Achseltuch und ließ Brot und Wein zu dem kleinen Altar bringen, den er auch benutzt hatte. Athelstan kniete nieder und bereitete sich vor, und dann las er die Messe des Tages. Er tat sein Bestes, um sich auf das Sakrament zu konzentrieren und die Korruption zu vergessen, die Lügen, Täuschungen und Morde, mit denen er es zu tun hatte.

Danach legte er die Gewänder ab und wanderte langsam zurück zum Gasthof. Zwischen den Menschenmassen, die sich mittlerweile um die Westminster Hall drängten, sah er plötzlich Malmesbury und seine Kollegen, die zur Vormittagssitzung des Parlaments ins Kapitelhaus gingen. Als er im Gasthof ankam, hatte Sir John es sich bereits in der Schankstube bequem gemacht und verspeiste genüßlich ein Frühstück aus Fleischpastete, einer Schüssel Gemüse und einem Krug Starkbier.

»Jetzt bist du ja wieder in besserer Verfassung, Bruder.« Er winkte Athelstan zu einem Schemel. »Ruhe deine müden Glieder aus.« Über den Tisch hinweg strahlte er ihn an. »Hab geschlafen wie ein Schweinchen. Zwar ist die Lady Maude nicht hier, aber wir haben ein überaus behagliches Ruheplätzchen gefunden.« Er deutete mit dem Kopf zur Tür. »Unsere edlen Ritter gehen bereits ihren bedeutenden Geschäften nach und glucken zusammen wie eine Schar Hühner. Wohlgemerkt, sie denken bereits an die Heimreise«, fügte er hinzu. »Fragen sich, wie sie den braven Bürgern von Shrewsbury erklären sollen, weshalb drei von ihnen nicht lebend zurückgekehrt sind.« Er wollte weiterreden, aber dann hörte er abrupt auf zu essen.

»Sir John, was ist los?«

Cranston nahm noch einen Bissen von seiner Pastete. »Welch eine Vision von Liebreiz!« krähte er. »Zumindest die eine.« Athelstan fuhr auf seinem Schemel herum, als Benedicta, begleitet vom grinsenden Watkin, in die Schenke kam. Er sprang auf, rief nach weiteren Schemeln und bat Banyard, seinen Gästen zu bringen, was sie haben wollten.

»Gibt es gute Nachrichten?« fragte er hoffnungsvoll.

Benedicta strahlte vor Aufregung und nickte. Dann errötete sie, als Sir John sich über den Tisch beugte, sie umarmte und ihr einen saftigen Kuß auf die Wange drückte. Der Coroner grinste Watkin an. »Für dich kann ich das gleiche nicht tun, mein Herr.« Watkin zog eine dankbare Grimasse.

»Andererseits, mein Gast kannst du natürlich sein.«

»Was gibt es denn Neues?« fragte Athelstan eilig.

»Wir haben den Affen gefangen«, verkündete Watkin stolz und schüttelte den Kopf. »Er kam kurz vor Tagesanbruch zurück. Perline …« Er schniefte. »Dieser Halunke. Nun, er legte ihm Früchte hin, und der Affe, der war fast dankbar, daß er wieder in seinen Käfig durfte. Das arme Vieh sah gar nicht so furchterregend aus.«

»Und ist er schon zurückgebracht worden?«

»O ja«, sagte Watkin, und bevor er sich besinnen konnte, fuhr er fort: »Wir haben Cranston in ein Boot gesetzt, und Moleskin und Perline haben ihn in den Tower hinübergefahren.«

Während Benedicta und Watkin Athelstan von ihren Großtaten erzählten, versammelten sich die Commons im Kapitelhaus und debattierten noch einmal eifrig über die Steuerforderungen des Regenten. Zur Eröffnung der Sitzung hatte Pater Benedict sich an das Rednerpult gestellt und »Veni Creator Spiritus« angestimmt. Dann war der Sprecher die Tagesordnung durchgegangen: Er hatte verkündet, man werde jetzt eine Stunde lang tagen, und dann werde man eine Pause einlegen, damit die Herren Abgeordneten frühstücken könnten - entweder im Kreuzgang, wo die braven Brüder Bier und Brot servieren würden, oder in den Garküchen und Tavernen rings um die Abtei.

Sir Maurice Goldingham war sehr erleichtert, als diese Stunde vorüber war. Ihm war die Angst auf den Magen geschlagen. Während Redner um Redner ans Pult getreten war, hatte Sir Maurices größte Sorge darin bestanden, daß ihm ein Malheur passieren könnte. Endlich hatte die Glocke des Kapitelhauses geläutet, und der Sprecher hatte die Unterbrechung der Sitzung verkündet.

Die Abgeordneten strömten durch das Vestibül, vorbei an der Kapelle der Heiligen Faith und hinaus in die Kreuzgänge, die zu Höfen und Gärten führten. Sir Maurice entschuldigte sich hastig und lief durch den östlichen Kreuzgang, wo die Latrinen waren. Eigentlich wurden sie von den Mönchen benutzt, aber solange das Parlament tagte, hatte man sie für die Abgeordneten der Commons reserviert. Diese Latrinen bestanden aus einer Reihe von Zellen, jede mit eigener Tür, die an eine Außenwand in einem der kleinen Gärten angebaut waren, und sie wurden allseits bewundert, denn sie wurden mit Wasser, das durch Ulmenholzröhren von der Abteiküche her hier durchgeleitet wurde, sauber gespült. Sir Maurice lächelte, als er die Hose herunterlassen und seinen Gedärmen Erleichterung verschaffen konnte. Er saß da und schloß vor Behagen die Augen. Wie luxuriös diese Latrinen waren! Die guten Laienbrüder reinigten sie jeden Tag. Auf dem kleinen Steinsockel neben ihm lag ein Vorrat von sauberen, feinen Leintüchern. Sir Maurice rieb sich den Bauch.

»Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist«, murmelte er bei sich. Er bezweifelte, daß seine Bauchschmerzen von etwas herrührten, was er im »Ungeheuer« oder in einer der Garküchen bei der Abtei gegessen hatte. Es war einfach die Anspannung, ausgelöst von dem Zwang, in Westminster bleiben zu müssen, obwohl ein Mörder ihn und seine Kollegen auf leisen Sohlen bedrohte. Sir Maurice schloß die Augen. Er dachte an Shrewsbury, an das Rathaus, den Marktplatz, an sein eigenes Landhaus, an frische Bäche und Felder und an seine Geliebte, eine junge, entgegenkommende Witwe, die ihm ans Herz gewachsen war.

Sir Maurice hatte einen trockenen Geschmack im Mund. In Shrewsbury würde er sich nach eigenem Belieben Wein und Speisen bestellen und sich ohne Hast vergnügen können. Er öffnete die Augen. Sir Edmund Malmesbury hatte ihnen eingeschärft, zusammenzubleiben, aber wiederum - er war doch kein Kind! Er konnte wohl kaum fragen, ob die anderen mitkamen, während er auf der Latrine hockte, als wäre er ein kleiner Junge oder eine verängstigte Maid. Außerdem konnte er hören, wie weiter unten die Türen auf- und zugingen: Es waren noch andere Leute hier. Vielleicht würde er ein bißchen gezuckerten Met trinken, um seine Eingeweide zu beruhigen, und sich dann wieder den anderen anschließen.

Sir Maurice griff nach einem Leintuch. Dabei merkte er, daß es draußen immer stiller geworden war. Angst krampfte seinen Magen zusammen. Sir Maurice zog eine Grimasse und beschloß, noch eine Weile auf der Latrine zu bleiben. Er hörte leise Schritte draußen und entspannte sich. Es waren noch andere da. Türen öffneten und schlossen sich wieder. Sir Maurice richtete sich auf. Was war das? Schaute da jemand in jede der Zellen, um sich zu vergewissern, daß sie leer waren?

Sir Maurice beugte sich vor und drückte gegen die Tür; er fand plötzlich, daß die Flucht dem Angriff vorzuziehen sei. Die Tür ging nicht auf. Sir Maurice sprang auf, warf sich mit aller Macht dagegen - aber entweder hatte draußen jemand einen Keil davorgeklemmt oder er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen.

Goldingham hämmerte gegen die Tür. »Was soll das?« rief er. »Ist das ein Scherz?«

Er hörte ein Geräusch, und sein Magen krampfte sich so sehr zusammen, daß er sich wieder auf die Latrine setzen mußte. In diesem Augenblick wurden eine Kerze, eine Pfeilspitze und ein Stück Pergament unter der Tür durchgeschoben.

»Tag der Rache, Tag den Sünden summte draußen eine Stimme. »Welch ein Graus wird sein und Zagen …«

Sir Maurice riß den Mund auf und wollte schreien, aber seine Kehle war ausgedörrt. Er starrte die Tür an und dachte an den toten Bouchon, an Swynford und Hamett- und vor allem an jene anderen grausigen Leichen, die an einer Schlinge gebaumelt hatten.

»Oh, hilf mir!« wisperte Sir Maurice. »Oh, lieber Gott, hilf mir.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wollte noch einmal versuchen, zu schreien. Da flog jäh die Tür der Latrine auf. Goldingham sah die Schattengestalt, erblickte auch die kleine Armbrust, und noch bevor er ganz stand, traf ihn der Bolzen dicht unter dem Herzen.

*

Athelstan und Cranston wollten eben wieder in ihre Kammern zurückkehren, nachdem ihre Gäste sich verabschiedet hatten, aber da wurde die Tür zum Schankraum aufgestoßen, und Banyard stürzte herein.

»Sir John! Sir John!« rief er und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Es gibt wieder einen Mord im Kapitelhaus!« Der Wirt ließ sich auf einen Schemel fallen. »Gerade ist ein Bote gekommen, ein Junge!« Er rang nach Atem. »Ich habe ihn zurückgeschickt und ihm gesagt, Ihr würdet gleich kommen.«

»Wer wurde ermordet?« fragte Athelstan.

»Der Wirt schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Gott erbarme sich seiner, aber das weiß ich nicht.«

*

Athelstan und Cranston eilten zur Tür hinaus und zur Abtei hinauf. Die Nachricht von dem Mord hatte sich bereits herumgesprochen. Männer standen in Gruppen zusammen und tuschelten. Ein Königlicher Kurier rannte zum Kai hinunter; zweifellos trug er die Kunde flußabwärts zu Gaunt in den Savoy-Palast. Athelstan und Cranston eilten durch die Abtei. Am Eingang zu den Kreuzgängen hielt ein Offizier der Bogenschützen sie auf, aber Cranston brüllte ihn nur wütend an und drohte, ihn ohne weitere Umstände dem Regenten zu melden. Der Mann erbleichte. Er kratzte sich am Kopf, murmelte eine Entschuldigung und war gleich bereit, Sir John und Athelstan durch die Kreuzgänge in den Hof mit den Latrinen zu eskortieren. Abgeordnete der Commons wimmelten überall herum, und Sir Miles Coverdale - unbehelmt, das Schwert in der Hand - versuchte Ordnung zu schaffen. Athelstan sah die aufgerissene Latrinentür. Malmesbury, Aylebore und Elontius standen um eine am Boden liegende Gestalt herum und tuschelten furchtsam blickend mit Sir Peter de la Mare, dem Sprecher der Commons. Der Coroner schob sich durch das Gedränge, und Athelstan folgte ihm. Ohne die Abgeordneten zu beachten, kauerte der Coroner sich sofort neben dem Gefallenen nieder.

»Gott erbarme sich!« hauchte er, als er Goldinghams entsetztes Gesicht sah. Blicklos starrten die Augen in die Höhe, ein Blutrinnsal sickerte aus dem Mundwinkel, und ein Armbrustbolzen hatte sich grausam tief in die Brust des Mannes gebohrt. Athelstan roch den fauligen Abortgestank und schlug die Tür zu. Dann kniete auch er neben der Leiche nieder.     

»Es ist so schnell gegangen«, erklärte Malmesbury und deutete auf Goldinghams Hose, die nur halb über die Oberschenkel gezogen war. »Wir wollten ihn noch schicklich herrichten, aber…«

»Coverdale!« brüllte Cranston.

Gaunts Hauptmann kam im Laufschritt herbei. Athelstan betrachtete sein Gesicht aufmerksam. Der Soldat war bleich, sein Blick panisch, aber war es nur der Umstand, daß wieder ein Mord geschehen war, was ihn so aufbrachte?

»Sir John?«

»Ich will, daß dieser Hof geräumt wird!« blaffte Cranston und stand auf. »Verstanden? Von Sir Maurices Kollegen und Sir Miles Coverdale abgesehen, verschwindet sofort alles in den Kreuzgängen!« Cranston hielt die rechte Hand hoch, an der sein großer Ring mit dem Wappensiegel der Stadt funkelte, und starrte mit blitzenden Augen die arroganten Herren an, die sich nicht entfernen wollten.

»Ich bin Sir John Cranston, der Coroner!« brüllte er. »Ihr müßt und werdet Euch jetzt verziehen!«

»Wenn Ihr der Coroner seid«, schrie jemand zurück, »wieso ergreift Ihr dann den Schuldigen nicht?«

Cranston marschierte breitschultrig in die Menge hinein und brüllte: »Wenn der Mann, der diese Bemerkung gemacht hat, den Mut hat, vorzutreten, dann kann ich ihm vielleicht ein paar Wahrheiten über diesen Fall auseinanderlegen. Wenn nicht, so nenne ich ihn einen Schurken, einen Feigling und einen Spitzbuben!«

Und Cranston zog sein Schwert - so schnell, daß es sogar Athelstan überraschte. Der Coroner hielt es in die Höhe; seine Faust umklammerte den dicken Knauf, und die lange Stahlklinge blitzte im Sonnenlicht: eine Rittergeste, mit der ein Gegner zum Kampf herausgefordert wurde. Aber der anonyme Störenfried und die übrigen Abgeordneten waren klug genug, den Mund zu halten. Cranston, wie er so mit gespreizten Beinen dastand, das weiße Haar gesträubt, die Augen funkelnd, bot einen furchterregenden Anblick, um so mehr, da sein mächtiges Breitschwert in der Sonne blitzte. Die Menge zog sich in die Kreuzgänge zurück. Coverdale befahl dem Offizier der Bogenschützen, alle Zugänge abzusperren, und Malmesbury und seine Kollegen standen dicht beieinander ein Stück abseits. Athelstan zog dem Toten die Hose hoch. Dann umfaßte er das Kreuz an seinem Hals und flüsterte das Totengebet. Als er damit fertig war, beugte er sich noch ein bißchen tiefer; er sprach im Namen des Toten das Reuebekenntnis und raunte ihm die Worte der Absolution ins Ohr. Cranston, der sein Schwert inzwischen wieder in die Scheide gesteckt hatte, sah dabei zu und wartete ab, bis Athelstan den Schlußsegen gesprochen hatte. »Es ist das wenigste, was ich tun kann«, erklärte der Ordensbruder und richtete sich auf: »Sir Miles?« rief er. »Wo hat man den Toten gefunden?«

Coverdale deutete auf die Latrine. Athelstan ging hinein und hielt sich wegen des Gestanks die Nase zu.

»Er war gegen die Wand geschleudert worden«, rief Coverdale. »Der Bolzen muß aus nächster Nähe abgeschossen worden sein. Er sah lächerlich aus«, fügte der Hauptmann hinzu und kam heran. »Halb lag er auf dem Latrinensitz, und seine Hose schlotterte ihm um die Knöchel.«

»Wer hat ihn gefunden?« fragte Cranston.

»Ich.« Sir Humphrey Aylebore trat vor und bemühte sich, seine Angst unter demonstrativem Trotz zu verbergen. »Im Kapitelhaus ist mir aufgefallen, daß Sir Maurice sich den Bauch hielt. Als die Sitzung zu Ende war, lief er schnell davon.«

»Also wußtet Ihr, daß er zur Latrine wollte«, sagte Athelstan. Aylebore kräuselte die Lippen. »Spart Euch Eure Unterstellungen, Pater.«

»Ich unterstelle Euch nichts«, fauchte Athelstan zurück. »Ich versuche nur, die Wahrheit herauszufinden. Sir Maurice kam hierher wie ein paar andere auch. Alle gingen wieder, und als niemand sonst mehr hier war, schlug der Mörder zu.«

»Und es war niemand hier, als ich kam«, erklärte Aylebore. »Die erste Sitzung dauert nur eine Stunde, und die meisten Leute haben keinen so schwachen Darm wie Sir Maurice.«

»Hat er schon früher über Beschwerden geklagt?« fragte Cranston.

»Nun…« Malmesbury trat vor. »Goldingham hatte einen schwachen Leib. Er hatte sich in Frankreich die Ruhr geholt, wie er uns bei jeder Gelegenheit in Erinnerung rief.«

»I-eib, Därme!« schnarrte Aylebore und schlug die Latrinentür zu. »Was tut das zur Sache?« Er funkelte Coverdale an. »Wer hat den Mörder durchgelassen? Wie konnte eine Armbrust hierher in den Kreuzgang gelangen?«

»Wer sagt denn, daß meine Soldaten jemanden durchgelassen haben?« erwiderte Coverdale hitzig. »Die einzigen Leute, die wir durchgelassen haben, waren die Abgeordneten und ihre Schreiber - jeden also, der das vorgeschriebene Siegel bei sich trug. Ich habe unter meinen Leuten bereits Nachforschungen angestellt. Niemand hat heute morgen etwas Außergewöhnliches bemerkt. Es wurden keine Waffen hereingebracht.« Drohend trat er auf Sir Humphrey zu und stieß mit dem Finger nach ihm. »Das muß bedeuten, Sir, daß der Mörder bereits hier war: einer von diesen braven, edlen Rittern.« 

»Friedlich, friedlich!« Athelstan trat zwischen Aylebore und Coverdale. »Sir Maurice Goldingham ist tot«, fuhr er leise fort. »Wenn Ihr Euch gegenseitig mit Beleidigungen überhäuft, bringt ihn das nicht zurück, und den Mörder fangen wir damit auch nicht.«

»Und wann wird man ihn fangen?« höhnte Malmesbury. »Wenn wir alle tot sind und in Leichentücher gewickelt auf einen Karren geworfen werden, um nach Shrewsbury zurückzufahren?«

»Wenn Ihr die Wahrheit gesagt hättet«, antwortete Athelstan, »wenn Ihr, Sir Edmund, oder Eure Kollegen ehrlich gegen Sir John und mich gewesen wäret, dann wären einige dieser Morde vielleicht nicht passiert. Und Ihr könnt immer noch verhindern, daß weitere passieren.«

»Ach, schon wieder singt er das alte Lied!« höhnte Aylebore. »Jawohl, ich singe schon wieder das alte Lied!« gab Athelstan zurück. Er ging noch einmal zur Latrine, riß die Tür auf, bückte sich und hob die kleine Kerze, die Pfeilspitze und das Pergament auf. Dann kam er heraus und drückte Malmesbury die Sachen in die Hand.

»Memento! Woran sollte er sich erinnern, Sir Edmund?« flüsterte er heiser. Dann hob er die Stimme. »Wovor habt Ihr alle Angst? Welches schreckliche Verbrechen verfolgt Euch aus der Vergangenheit?« Er starrte in die Runde, aber die Ritter schauten ihn nur ausdruckslos an. »Laßt uns gehen, Sir John«, sagte Athelstan eisig. »Hier finden wir die Wahrheit nicht!«

Sie gingen durch die Kreuzgänge hinaus. Vor der Abteikirche deutete Sir John auf die Bank unter dem Baum, auf der sie auch am Tag zuvor gesessen hatten. Als sie sich niedergelassen hatten, schaute Athelstan den merkwürdig schweigsamen, bedrückten Coroner an.

»Was habt Ihr, Sir John?«

»Ich wünschte, ich wäre vorhin nicht aus der Haut gefahren«, antwortete der Coroner. »Ich hätte nicht das Schwert ziehen und diese Männer herausfordem sollen. Eine solche Beleidigung werden sie nicht einfach hinnehmen.« Er spielte mit dem Ring an seinem Finger. »Wir müssen diesen Mörder fangen, Athelstan«, fügte er hinzu. »Wenn es uns nicht gelingt, wird der Sprecher der Commons beim König meine Absetzung beantragen, bevor das Parlament sich auflöst; dessen bin ich sicher.«

»Unfug«, antwortete Athelstan. »Wie hätten wir den Mord an Goldingham verhindern können? Er ging zur Latrine, und der Mörder schlug zu. Oh, da mag Malmesbury noch so sehr toben und protestieren: Seine Kollegen weigern sich, die Wahrheit zu sagen. Kommt, Sir John.« Athelstan klopfte dem Coroner auf den fetten Oberschenkel. »Was Ihr jetzt braucht, ist eine von Master Banyards Pasteten und ein Humpen Ale.«

Cranston erhob sich betrübt, und zusammen wanderten sie zurück zum »Ungeheuer«. Athelstan führte Sir John in den kleinen Garten hinaus, aber selbst der Duft einer saftigen Rindfleischpastete und ein schäumender Humpen Ale vermochten die Stimmung des Coroner nicht aufzuhellen. Er saß da, stocherte in seinem Essen herum und sah höchst belämmert aus.

Sie waren fast fertig, als ein Küchenjunge kam und verkündete, da wolle sie jemand sprechen. Athelstan folgte ihm in die Schankstube. Er hoffte, es werde Sir Edmund oder einer seiner Kollegen sein, und war ziemlich überrascht, als er die schwarzgekleidete Kapuzengestalt in der Tür stehen sah. Eine von Adern überzogene Hand kam aus dem Ärmel und schlug die Kapuze zurück. Aelfric, der Archivar, schaute ihm beschämt entgegen.

»Bruder, es tut mir leid, was gestern geschehen ist. Wie der Psalmist sagt: ›Ich bin ein Wurm und kein Mensch.‹ Das Beweismaterial, das ihr sucht, hat der Regent bereits mitgenommen«, flüsterte er heiser. Dann zog er eine mit scharlachrotem Band umwickelte Pergamentrolle aus dem weiten Ärmel seiner Kutte und reichte sie Athelstan. »Aber das hier hat er vergessen«, sagte er. »Ich habe von dem Mord heute früh gehört. Bitte Sir John um Vergebung für seinen alten Lehrer.«

Und wie ein Schatten war er zur Tür hinaus. Athelstan kehrte in den Garten zurück und schnürte die Rolle auf, während er Banyard zurief, er möge ihnen die Humpen noch einmal füllen.

»Was war?« fragte Cranston nervös.

»Euer alter Lehrer«, antwortete Athelstan und entrollte das Pergament. »Und er hat uns etwas zum Studieren gebracht.« Athelstan betrachtete die gedrängte Schrift und ließ seinen Blick rasch die Rolle hinunterwandem, die aus aneinandergenähten Pergamentstücken bestand. Er legte das Dokument aus der Hand, als Banyard ihnen ihr Ale brachte, und beachtete die neugierigen Blicke des Wirts nicht.

»Was ist es denn?« fragte Cranston ungeduldig.

Athelstan schüttelte nur den Kopf, während er sich daran machte, das normannische Französisch und das Küchenlatein des obskuren Schreibers zu übersetzen.

»Athelstan, um Himmels willen …!«

»Allmählich öffnet sich eine Tür«, sagte er. Er klopfte auf das Pergament und starrte in den Garten hinaus.

»Nämlich?« fragte Cranston.

»Das sind Petitionen«, sagte Athelstan langsam. »Sie sind in zwei Gruppen geteilt, aber alle sind ungefähr zwanzig Jahre alt. Sie kommen aus der Grafschaft Shropshire. Das eine ist eine Sammlung von Petitionen mit dem Siegel von Leuten wie Sir Edmund Malmesbury, Sir Francis Hamett und Sir Maurice Goldingham, und sie enthalten heftige Proteste gegen die Geheimbünde, die von gewissen Bauernführem in der Grafschaft gegründet werden. Nun müßt Ihr Euch daran erinnern, Sir John, daß Edward III. in den Jahren 1359 und 1360 Steuern erhob, um eine große Armee gegen Frankreich aufzustellen.«     

»Ja, das stimmt.« Cranston machte schmale Augen. »Es gab viel Unruhe, nicht nur in der walisischen Grenzmark, sondern auch in Kent, Essex und anderswo. Alle Welt beklagte sich, wie sie es bei Steuern immer tut.«

»Ah!« Athelstan deutete auf das Pergament »Die Bauern in Shropshire haben aber anscheinend gehandelt. Sie haben sich zusammengeschlossen und den Steuereintreibem Widerstand geleistet. Und was noch wichtiger ist, sie haben sich den Forderungen ihrer Grundherren nach mehr Arbeit für weniger Lohn widersetzt.«

Cranston nahm einen Schluck Bier. »Ah«, seufzte er, »ich verstehe. Die neue Steuerlast dürfte auf den Schultern der Reichen gelegen haben. Die wiederum dürften versucht haben, derartige Forderungen an ihre Pächter weiterzugeben, indem sie sie zwangen, mehr zu produzieren, oder ihnen die Löhne kürzten. Aber was hat das alles mit den Morden zu tun?«

»Nun, hört zu, Sir John.« Athelstan schaute auf das untere Ende des Pergaments. »Ungefähr drei Jahre später taucht ein neues Bündel Petitionen auf - nicht von den Rittern, und übrigens auch nicht von den Bauernführem, sondern von Witwen.« Athelstan deutete auf eine Petition. »Zum Beispiel die hier von Isolda Massingham. Sie behauptet, eine Bande von Gesetzlosen, Raubrittern, Strauchdieben und Halsabschneidern führe einen Krieg gegen einsame Bauernhöfe. Sie redet von maskierten und vermummten Männern, die in ihr Haus eingedrungen seien und ihren Mann Walter hinausgeschleppt hätten. Später habe er drei Meilen vor dem Dorf am Ast einer Eiche gebaumelt.« Athelstan blickte auf. »Und der Leichnam war entstellt worden, indem man ihm rote Kreuze ins Gesicht geritzt hatte.«

»So …« Cranston setzte den Humpen an und trank. »Zwei von unseren Toten waren auf ähnliche Weise entstellt, aber …«

»Ah!« Athelstan hob die Hand. »Isolda erhebt keine Anschuldigungen. Sie richtet auf niemanden den anklagenden Finger, aber sie verlangt, daß die Richter des Königs in die Grafschaft entsandt werden, damit die für dieses unerhörte Verbrechen Verantwortlichen ermittelt werden. Isolda, so schätze ich, war kein Bauerntrampel aus ärmlichen Verhältnissen. Ihr Mann war ein Bauer, aber ziemlich wohlhabend. Daher die Petition.«

»Das wird so sein«, bestätigte Cranston. »Nach der Großen Pest waren Arbeitskräfte knapp. Ganze Anwesen standen leer, und Landarbeiter und Bauern, vor allem die Wohlhabenderen unter ihnen, hatten mehr Land zu bebauen, und so konnten sie höhere Löhne fordern. Außerdem konnten sie eigene Erzeugnisse auf dem Markt anbieten.« Er zuckte die Achseln. »Es ist genauso wie heute: Die Bauern, denen es gut geht, verlangen mehr Freiheit, um ihr eigenes Land zu beackern und ihre Erzeugnisse zu verkaufen, doch die Grundherren sind entschlossen, sie weiterhin an die Scholle zu binden. Aber, Athelstan, was hat das mit den Morden in Westminster zu tun?«

»Wie ich schon sagte«, antwortete Athelstan, »war Isolda eine recht wohlhabende Witwe. Wahrscheinlich ging sie zu irgendeinem Schreiber, der diese Petition für sie aufsetzte und dafür sorgte, daß sie dem Kronrat in Westminster vorgelegt wurde.«

»Ja, ja«, sagte Cranston gereizt. »Das habe ich alles schon verstanden.«

»Nun, ich werde jetzt einen logischen Sprung machen«, fuhr Atheisten fort. »Massinghams Mörder waren keine Bande von Gesetzlosen.« Der Bruder hielt inne, um seine Worte mit Sorgfalt zu wählen. »Ich weiß nicht, ob Witwen wie Isolda Massingham wußten, wer ihre Männer ermordete, aber ich habe den Verdacht, es waren Sir Edmund Malmesbury und seine Ritter.« Atheisten rollte das Pergament zusammen. »Isoldas Petition ist wichtig, und ich würde zu gern erfahren, was die Krone daraufhin unternommen hat.«