»Ihr glaubt also, in Southwark gibt’s einen Teufel?« fragte Moleskin, der Bootsmann, als Athelstan und Cranston in sein Fährboot stiegen, um sich flußabwärts nach Westminster rudern zu lassen.
»Es gibt eine Menge verdammte Kobolde in Southwark!« gab Cranston zurück und nahm einen Schluck aus seinem wunderbaren Weinschlauch, stets gefüllt und immer dabei, verborgen unter seinem Mantel. »Und mehr noch«, fuhr er schmatzend fort und drückte den Stopfen wieder hinein, »die meisten gehören zu Bruder Athelstans Pfarrgemeinde.«
Moleskin funkelte ihn wütend unter zusammengezogenen Brauen an und legte sich in die Riemen, um das Boot über die aufgewühlte Themse zu treiben. Trostsuchend schaute er zu seinem Pfarrer hinüber. Aber Athelstan hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen und starrte in die Nebelbank, die sich in der Morgensonne allmählich lichtete. Cranston stieß ihn scherzhaft in die Rippen.
»Komm schon, Bruder. Du hast kaum ein Wort gesagt, seit wir die Kirche verlassen haben. Sei nicht niedergeschlagen. Benedicta wird dafür sorgen, daß alles seine Ordnung hat. Und wenn der Teufel noch einmal erscheint, wird sie ihn vielleicht mit ihrem hübschen Gesicht und ihrer bezaubernden Art einfangen.«
»Das ist kein Spaß, Sir John«, sagte Athelstan. »Benedicta hat eine Gestalt in ihrem Garten gesehen, und Pike wurde ohne jeden Zweifel angegriffen. Irgendeine schreckliche Kreatur hat letzte Nacht in unserem Totenhaus gelauert.«
»Aber ein Teufel, ein Dämon?« rief Cranston. »Geh doch nur einmal durch die Stadt, Bruder. Da siebst du jede Menge Dämonen, in kostbare Seide gekleidet, wie sie vom allerbesten Wein trinken und auf das feinste duften.«
»Das hier ist anders«, widersprach Athelstan. Er lächelte den Bootsmann an. »Moleskin, rudere nur immer weiter. Was du hier hörst, taugt nicht für die Debatten im ›Gescheckten‹. Jetzt lehrt die Heilige Mutter Kirche.« Athelstan wandte sich um und deutete in das aufgewühlte Wasser der Themse. »Seht Ihr, Sir John, in diesem Fluß existieren zwei Welten nebeneinander. Die, die an der Oberfläche ist, und die darunter. Beide haben Einfluß aufeinander. Beide sind miteinander verbunden, und doch sehen wir nur das, was an der Oberfläche ist; darunter aber liegt eine andere Welt mit Wracks, Fischen, Pflanzen und allerlei anderen Lebewesen. Nun hat Gott eine sichtbare und eine unsichtbare. Welt erschaffen. Wenn wir beten, betreten wir die unsichtbare.« Er unterbrach sich, um eine lange Reihe von Schwänen zu bewundern, die gelassen vorüberschwammen, die schlanken Hälse gebogen, die Schwingen aufgespreizt. »Was geschieht, Sir John, wenn die denkenden Mächte aus jener Welt, die feindselig sind gegen Gott und den Menschen, sich in unserer Welt manifestieren? Oh, und ich rede hier nicht von Zwergen und Hexenmeistern, sondern von etwas anderem.«
»Aber nicht nur deshalb machst du dir Sorgen, nicht wahr?« stellte Cranston fest.
»Nein.« Athelstan schüttelte den Kopf. »Ich mache mir Sorgen um Pike. Joscelyn, der Wirt vom ›Gescheckten‹, erzählt mir, daß er sich heimlich mit Männern trifft, die sich nach Tieren benennen: das Wiesel, der Fuchs …«
»Die Große Gemeinschaft des Reiches?« fragte Cranston.
»Aye, Sir John. Die Bauemgemeinschaft, die eifrig den Aufstand plant.« Athelstan schüttelte den Kopf. »Das alles wird in einem Blutbad enden, und Pike wird hängen.«
Cranston starrte über den Fluß. Er sah den schimmernden Turm von St. Paul und das große Kreuz auf der Spitze, angefüllt mit berühmten Reliquien zum Schutz vor dem Blitz.
»Pike hat recht«, brummte Cranston. »Oh, nicht mit seiner Verschwörung, aber damit, daß sich das alles rächen wird.« Er deutete auf die lange Reihe der Kähne, die auf Queenshithe zusteuerten.
»Kornbarken«, erläuterte Moleskin bereitwillig.
»Das weiß ich«, blaffte Cranston, aber Moleskin fuhr unbeirrt fort. »Ohne sie gäbe es kein Brot mehr in den Bäckereien. Die Stadtbehörden kaufen Getreide von jenseits des Meeres.«
»Und wo fahren sie hin?« fragte Athelstan.
»Zu den Speichern bei East Watergate«, sagte Moleskin. »Ihr solltet mal mit Bonaventura hingehen, Bruder. Die Kähne sind voll von Ratten und Mäusen.«
»Wann, glaubt Ihr, wird sie kommen?« fragte Athelstan. »Die geplante Revolte?«
»Diesen Sommer, nächsten Sommer«, antwortete Cranston. »Und was werdet Ihr dann tun, Sir John?«
»Ich werde meinen Helm aufsetzen und meine Rüstung anlegen, und dann reite ich zum Tower und stelle mich unter das Banner des Königs, denn ich bin sein Coroner.« Cranston schwieg einen Augenblick. »Ich hoffe nur, ich sehe weder Pike noch sonst eines deiner Gemeindemitglieder vor der Spitze meines Schwertes. « Er beugte sich zu Athelstan. »Und was wirst du tun, Bruder? Die Rebellen sagen, wer sich ihnen nicht anschließt, wird sterben, und sie haben nichts übrig für Pfaffen.«
»Ich werde jeden Morgen aufstehen, so Gott will«, antwortete Athelstan. »Ich werde Bonaventura seine Milch geben. Ich werde meine Kirche abschließen, mich vor den Lettner knien, die Messe lesen und meiner Arbeit nachgehen.«
Cranston schnippte verärgert mit den Fingern. »Und du glaubst, du bist sicher?« fragte er.
Athelstan griff nach der dicken Hand des Coroners. »Sir John«, sagte er, »ich kann nur das tun, was ich kann. Der Pater Prior hat die Sache schon zur Sprache gebracht. Er möchte, daß die Mitglieder unseres Ordens die Hauptstadt verlassen, bis die Krise vorüber ist.«
Cranstons blaue Augen funkelten wütend.
»Und da Ihr gerade vom Tower sprecht«, fügte Athelstan hastig hinzu, um rasch das Thema zu wechseln. »Auch da habe ich Sorgen.«
»Wovon sprichst du?«
»Perline«, warf Moleskin ein. Das Gesicht des alten Bootsmannes legte sich besorgt in Falten. Insgeheim bewunderte Athelstan, daß er so aufmerksam lauschen und gleichzeitig so geschickt die Ruder führen konnte.
»Perline Brasenose«, erläuterte Athelstan. »Ein junger Mann mit Flausen im Kopf. Seine Mutter war eine Hure und hat ihn im Bordell großgezogen. Ein Jahr verbrachte er im Gefolge des Earl von Warwick; dann nahm er seinen Abschied und heiratete ein Mädchen namens Simplicitas aus meiner Pfarrgemeinde. Ein guter Junge«, erklärte Athelstan, »aber ein bißchen verrückt. Unfug zieht ihn an wie der Honig die Biene.«
»Und?« fragte Cranston.
»Er ist verschwunden«, sagte Athelstan.
»Ich habe immer gesagt, daß es so kommen würde«, verkündete Moleskin.
»Ach, sei still«, entgegnete Athelstan. »Um des Himmels willen, zeig doch ein wenig Barmherzigkeit! Perline ist in die königliche Garde im Tower eingetreten. Ich dachte, er würde ruhiger werden, aber jetzt ist er verschwunden.« Athelstan befingerte seinen Gürtel. »Und bevor Ihr davon anfangt, Sir John: Es mag ja Vorkommen, daß Männer ihre Frauen verlassen, aber nicht Perline. Bei all seinen Fehlern, er hat Simplicitas geliebt, aber man hat nichts mehr von ihm gehört. Könntet Ihr die Augen offenhalten, und falls Euch etwas zu Ohren kommt…«
»Ich habe ihn gesehen.« Moleskin schaute seinen Pfarrer beleidigt an. »Vor zwei Nächten habe ich ihn gesehen. Er stand am Kai, bei den Treppen von St. Mary Overy. Ich brachte gerade einen dieser Ritter vom Parlament hinüber.« Moleskin hörte auf zu rudern und stützte sich auf seine Riemen. »So war’s. Sir Francis Hamett aus Stokesay in Shropshire. Ein komischer kleiner Mann war das.« Moleskin zog die Ruder ein. »Hat am ganzen Körper gezittert. Saß da, wo Ihr jetzt sitzt.«
»Und was könnte ein vornehmes Mitglied des Parlaments in Southwark wollen?« fragte Cranston sarkastisch.
Moleskin zwinkerte bloß, und Athelstan wandte den Kopf ab. Aye, dachte er, was wollen die Reichen in Southwark, abgesehen von einer frischen jungen Hure aus den vielen Bordellen dort? Er sah Moleskin an.
»Und Perline?«
»Er erwartete ihn auf der Treppe zum Fluß. Der Ritter geht hinauf, Perline schüttelt ihm die Hand, und die beiden verschwinden in der Dunkelheit.« Moleskin verzog das Gesicht »Mehr weiß ich nicht.«
Athelstan seufzte und drückte Cranstons Arm. »Sir John, diese Angelegenheit in Westminster …?«
Cranston tippte sich an die Nase und deutete mit dem Kopf zu Moleskin hinüber, worauf Athelstan sich im Heck zurücklehnte. Das Fährboot war jetzt mitten auf dem Fluß in der Biegung; es glitt an Whitefriars und dem Temple vorbei und näherte sich dem Nordufer der Themse. Moleskin ruderte angestrengt und wich geschickt den Müllkähnen aus, einem königlichen Schlachtschiff mit Kurs nach Dowgate, Fischerbooten und der endlosen Kette von Getreidekähnen und anderen Booten, die Lebensmittel für die Londoner Märkte brachten. Der Nebel lichtete sich immer mehr, und Athelstan sah die Türme und Dächer von Westminster, als die Morgensonne sie erfaßte. Er schloß die Augen, betete im stillen das Veni creator spiritus und bat um Anleitung bei den Problemen, denen er in seiner Gemeinde gegenüberstand, und auch bei denen, die ihn in Westminster erwarteten. Auf dem Weg zum Kai hatte Sir John den Gemeindemitgliedern ein paar gutmütige Beschimpfungen zugerufen und ihm ein wenig vom Besuch des Regenten und vom Tod Sir Henry Swynfords und Sir Oliver Bouchons erzählt. Athelstan begriff, daß sie wieder einmal einen Sohn Kains zu verfolgen hatten. Der größte Teil seiner Arbeit mit Cranston drehte sich um Verbrechen aus Leidenschaft: eine Messerstecherei in einer Schenke, ein wüster Streit zwischen Ehemann und Weib, oder auch der Tod eines Bettlers unter den Rädern eines Fuhrwerks. Aber hin und wieder quoll etwas aus der Finsternis hervor, das unheimlicher war und böser: kaltblütiger Mord. Und Athelstan spürte, daß in Westminster, das Cranston nur das »Haus der Krähen« nannte, schreckliche und blutige Morde verübt worden waren und daß noch weitere bevorstanden.
Athelstan hatte die Stelle vom »unsterblichen Leben, göttlichen Leben« erreicht, als Cranston ihm einen Rippenstoß versetzte. Er öffnete die Augen und sah, daß sie die Ufertreppe, King’s Steps, erreicht hatten. Moleskin stützte sich auf seine Riemen und starrte ihn neugierig an.
»Entschuldigung«, murmelte der Ordensbruder; er stieg aus dem Boot und folgte Sir John die schimmeligen, schlüpfrigen Stufen hinauf und in einen der Höfe des Palastes. Ringsherum erhoben sich große, majestätische Gebäude: Westminster Hall, wo das königliche Gericht tagte, die Kirche St. Margaret und, alles andere beherrschend, die Abtei des Bekenners, deren mächtige Türme hoch in den Himmel ragten.
In Westminster herrschte immer ein reges Treiben. Händler, Höker, Hausierer und Kaufleute verdienten sich ihren Unterhalt an denen, die hier zusammenströmten, an Klägern, Beklagten, Advokaten, Sheriffs und, wichtiger noch, an den Abgeordneten des Parlaments.
Cranston ließ den Ordensbruder neben einem großen Steinkreuz warten und betrat die Abtei durch einen Seiteneingang. Er blieb einige Zeit verschwunden; Athelstan setzte sich auf die Stufen der Steintreppe, die zu dem Kreuz hinaufführte, und betrachtete die rotbemützten Richter in ihren hermelinverbrämten schwarzen Gewändern, die an ihm vorübereilten, und die Gerichtsdiener mit ihren weißen Hauben, die Arm in Arm vorbeistolzierten, die Köpfe zusammengesteckt, und über die Feinheiten irgendeines Gesetzes oder einer Rechtsstreitigkeit disputierten. Athelstan mußte lächeln, als ein Höker zwischen ihnen hindurchstürmte und aus vollem Halse brüllte: »Austern! Frische Austern zu verkaufen!«
Als nächste kamen zwei Büttel mit einer Reihe Gefangener im Schlepptau. Athelstan musterte die Sträflinge mitleidig. Alle waren zerlumpt und unrasiert; Schuhe und Stiefel hatten ihnen die Wärter im Fleet-Gefängnis oder in Newgate bereits gestohlen. Die Büttel machten bei einem Wasserverkäufer halt, um sich zu erfrischen. Athelstan stand auf, steckte dem Burschen eine Münze zu und nahm ihm Eimer und Kelle ab. Dann ging er an der Reihe der Gefangenen vorbei und bot jedem einen Schluck Wasser an. Gottlob protestierten die Büttel nicht. Athelstan hatte eben den Eimer zurückgebracht und einen Dank gemurmelt, als er ein bekanntes Gesicht entdeckte.
»Cecily!« rief er.
Das blonde Mädchen in seinem langen gelben Taftkleid sah sich erschrocken um. Athelstan bemerkte die schwarz geschminkten Augen und sah auch, daß Wangen und Lippen dick mit Rouge beschmiert waren.
»Cecily!« rief er. »Komm her!«
Das Mädchen kam mit unschuldigem Engelsgesicht herübergetrippelt.
»Pater, welch eine Überraschung! Was macht Ihr denn hier?« Athelstan hatte Mühe, weiter ein strenges Gesicht zu machen. »Wichtiger ist, Cecily, was du hier machst.«
Das Mädchen öffnete den kecken kleinen Mund.
»Und lüg nicht«, warnte Athelstan. »Ich habe dich heute morgen in der Messe vermißt, und wir hatten eine wichtige Gemeinderatssitzung.« Er nahm ihre Hand und schob einen seiner kostbaren Pennies zwischen ihre Finger. »Fahr zurück«, befahl er. »Bei den King’s Steps findest du Moleskin. Ich brauche dich zu Hause, Cecily.« Er beugte sich vor. »In St. Erconwald hat man einen Dämon gesehen.« Als er beim Umfassen ihrer warmen Hand das billige Parfüm roch, mit dem das Mädchen sich gebadet hatte, wäre er fast zurückgezuckt. »Jetzt fahr hinüber und hilf Benedicta. Bleib weg von hier.«
Cecily nagte an der Unterlippe, aber sie nickte. Athelstan schob sie sanft von sich. »Fahr geradewegs nach Hause«, befahl er. »Ich werde Benedicta fragen, wann du angekommen bist.« Cecily rannte bereits, und Athelstan sprach ein kurzes Dankgebet dafür, daß Cecilys Neugier über den Dämon sie vielleicht von hier fernhalten würde. Er setzte sich wieder auf die Treppe und schaute mit funkelndem Blick umher. Jetzt entdeckte er auch die Scharen junger Frauen, die wie die Spatzen lärmten. »Dies ist das Haus Gottes«, murmelte er und sah, wie zwei Mädchen mit einem übertrieben prunkvoll gekleideten Rechtsanwalt schäkerten. »Aber Sir John hat recht! Es ist ein ›Haus der Krähen‹.«
Athelstan erkannte wohl, was an einem solchen Ort für jemanden wie Cecily so anziehend war. Männer aus ganz England kamen hierher; ihrer Frauen und Familien ledig, nutzten sie die kurze Freiheit restlos, um jeder Laune nachzugeben. Athelstan warf einen Blick zur Abtei. Vielleicht würde das Parlament Besserung bringen. Sogar seine Pfarrkinder hatten davon gesprochen.
Pike, der Grabenbauer, indessen war zynisch gewesen wie eh und je. »Nur die Advokaten kommen ins Parlament«, hatte er erklärt, »und wir wissen, was für Lügner das sind!« Dann hatte er seine Stimme gesenkt. »Aber wenn’s soweit ist, wenn die große Veränderung kommt, dann hängen wir alle Advokaten auf!«
»Träumst du, Bruder?«
Athelstan blickte jäh auf. Cranston drückte soeben den Stopfen wieder in den wunderbaren Weinschlauch.
»Fast die ganze Abtei ist abgeriegelt«, erklärte der Coroner. »Die Abgeordneten der Commons tagen im Kapitelhaus, und das wird bis zum Nachmittag dauern. Also« - er half seinem Gefährten auf die Beine - »können wir uns die Toten anschauen. Sie liegen eingesargt im Gasthof ›Zum Ungeheuere«
Er führte Athelstan aus dem Abteigelände in ruhige Seitenstraßen und durch einen tiefen Torbogen in den großen Hof vor dem »Ungeheuer«. Das Gasthaus war langgestreckt und geräumig, zwei Stockwerke hoch, mit sauber gestrichener Fassade: Weiß strahlte der Putz zwischen schwarz glänzenden Balken. Das Dach war mit Ziegeln gedeckt, und die eleganten Fenster hatten Bleiverglasung. Im Hof herrschte ein Treiben wie in einem Bienenkorb. Pferdeknechte und Stallburschen führten Pferde ein und aus, und ein schweißbedeckter Hufschmied hämmerte an seinem Amboß. Gänse und Hühner drängten sich in den Stalltüren und balgten sich um Körner. Hunde kläfften, und fette, dickbäuchige Schweine mit hängenden Ohren schnüffelten grunzend am Fuße eines hohen, mit schwarzer Erde durchsetzten Misthaufen herum.
Sie betraten den Flur der Schenke. Die Steinplatten des Fußbodens waren sauber geschrubbt, die Wände weiß gekälkt, und die Luft duftete nach süßen Kräutern und würzigem Kochdunst. Der Schankraum war groß und luftig; in der Decke zwischen den geschwärzten Balken waren Luftabzugslöcher, und am anderen Ende boten große, offene Fenster einen Blick hinaus in einen Garten und auf einen der größten Fischteiche, die Athelstan je gesehen hatte. Ein paar Gäste saßen herum, hauptsächlich Bootsleute vom Fluß, aber auch hier hockten Anwälte in kleinen Alkoven, hatten Manuskripte vor sich auf dem Tisch ausgebreitet und tuschelten wichtigtuerisch miteinander.
»Man möchte nicht meinen, daß hier die Leichen zweier Ermordeter liegen, nicht wahr?« flüsterte Athelstan, und Cranston schaute schmatzend in die Runde. »Nichts trinken«, warnte Athelstan. »Wir haben noch im ›Haus der Krähen‹ zu tun, vergeßt das nicht.«
»Und was habt Ihr für einen Wunsch, Ihr Herren?« fragte ein hochgewachsener, kräftiger Mann.
»Im Augenblick keinen«, antwortete Cranston. »Wir möchten nur ein Wörtchen mit dem Wirt reden.«
Der Mann spreizte die Hände. »Ihr redet mit ihm«, sagte er. »Ich bin hier der Gastwirt, Cuthbert Banyard, geboren und aufgewachsen unter den Glocken von Bow.«
Athelstan musterte den Mann. Er hatte ein kraftvolles, arrogantes Gesicht, braungebrannt von der Sonne, und einen dichten Schopf schwarzer Haare, tiefliegende Augen und eine leicht gebogene Nase. Das Gesicht mit dem glattrasierten Kinn und den schmalen Lippen hatte ein hartnäckiges Aussehen. Ein Mann mit einem scharfen Blick für seinen Profit, dachte Athelstan.
Der Wirt deutete auf seinen befleckten Kittel, der ihm bis unter die Knie reichte. »Heute ist Schlachttag«, erklärte er. »Fleisch muß zerlegt werden, und da spritzt das Blut«
»Wie bei einem Mord«, gab Cranston zurück.
Banyard zog den Kopf zurück.
»Ich bin Sir John Cranston, Coroner der Stadt, und das ist Bruder Athelstan, mein Secretarius, der Gemeindepfarrervon St. Erconwald in Southwark.«
Banyard lächelte ehrerbietig. »Mylord Coroner, wie kann ich Euch helfen?«
»Zuerst einmal«, antwortete Cranston, ohne sich um Athelstans Stöhnen zu kümmern, »einen Humpen Ale. Von deinem besten, wohlgemerkt - nicht die Neige aus irgendeinem alten Faß. Und was duftet da so aus deiner Küche?«
»Kapaun, geschmort mit Pilzen und Zwiebeln.«
»Einmal davon.« Cranston sah Athelstan an. »Nein, zweimal, und auch etwas zu trinken, Bruder?«
»Ein wenig Ale«, antwortete Athelstan resigniert.
Cranston rauschte an dem Wirt vorbei zu einem Tisch unter dem Fenster. Ohne auf Athelstans warnende Blicke zu achten, fing er an, auf die verschiedenen Kräuter im Garten zu deuten.
»Das da ist Mutterwurz«, erklärte der Coroner. »Man erkennt es am harten, bräunlichen Stiel; es macht Mütter fröhlich und beruhigt ihren Leib, wirkt harntreibend, säubert die Brust von Schleim und tötet Würmer im Bauch.«
Cranston drehte sich händereibend um, als der Schankbursche ihnen zwei Zinnteller mit delikaten Kapaunstreifen, bedeckt von einer schweren Sauce, und zwei Krüge Ale auftischte. Cranston und Athelstan zogen ihre Hornlöffel hervor. Athelstan stocherte in seinem Essen herum, denn er hatte wenig Appetit. Cranston aß seinen Teller leer und machte sich dann mit unvermindertem Genuß über den seines Gefährten her. Als er fertig war, winkte er Banyard herüber, der in einem Alkoven stand und sie aufmerksam beobachtete.
»Setz dich, Mann. Wo sind die Toten?«
»Oben, in einer Kammer.« Der Wirt wischte sich die Hände sorgfältig an einer Serviette ab. »Es ist gut, daß Ihr gegessen habt, bevor Ihr sie Euch anschaut, Mylord Coroner.«
Cranston drehte sich auf seinem Schemel um und lehnte sich an die Wand. »Leichen bringen meine Säfte nicht durcheinander, Mann. Menschliche Bosheit tut es. Sir Henry wurde wann ermordet?«
»Gestern am späten Abend. Er ging in Sir Olivers Kammer.« Der Wirt zeigte auf eine Dienstmagd, ein fröhliches, munteres Mädchen mit langem Blondhaar; sie bediente am anderen Ende der Schenke eine Schar Bootsleute und lachte über ihre Scherze. »Christina sah, daß die Tür offenstand, und ging hinein. Ihre Schreie hätte man noch in Whitefriars hören können. Ich rannte die Treppe hinauf. Sir Oliver lag in seinem Sarg, und Sir Henry lag mausetot auf dem Boden.«
»Wo waren seine Gefährten, die anderen Ritter?« fragte Athelstan.
»Die meisten in ihrer Kammer«, antwortete Banyard.
»Die meisten?«
Banyard lächelte bescheiden. »Bruder, ich habe alle Hände voll damit zu tun, mein Gasthaus zu führen. Ich kann Euch nicht sagen, wo jeder meiner Gäste abends hingeht.« Banyard grinste. »Es wäre allerdings interessant, darüber ein wenig zu spekulieren.«
»Was soll das heißen?« wollte Cranston wissen.
»Mylord Coroner, da fragt Ihr sie am besten selbst.«
»Alle Ritter und Abgeordneten aus Shrewsbury wohnen also hier?« fragte Athelstan. »Ist das so Brauch?«
»Ja.« Cranston übernahm die Antwort. »Die Abgeordneten pflegen sich in der Regel nach ihren Lord- oder Grafschaften zusammenzusetzen. Der Kanzler beruft das Parlament schriftlich ein und sendet das Dokument an jeden Sheriff im Königreich. Dieser veranstaltet dann eine Zusammenkunft aller Freisassen seines Bezirks, und sie wählen ihre Abgeordneten.« Cranston faßte sich ans Kinn. »Seit hundert Jahren gibt es Parlamente in Westminster, und die Commons organisieren sich immer besser.«
»Ihr wißt aber viel, Mylord Coroner.« Banyards Bewunderung war offensichtlich.
»Ja.« Cranston räusperte sich. »Ich schreibe da an einer Abhandlung.«
Athelstan schloß die Augen und hoffte, Cranston werde jetzt nicht zu einem seiner endlosen Vorträge ansetzen. Der Coroner mußte seinen Blick bemerkt haben, denn er grinste.
»Es mag genügen, wenn ich sage, daß ich die Frage der Parlamente genau studiert habe. Aber wie gesagt, sie organisieren sich immer besser. Sie haben einen Sprecher, sie treffen in einem eigenen Saal zusammen, und sie haben gelernt, keine Steuern zu bewilligen, wenn nicht auch bestimmte Forderungen erfüllt werden.« Er blies die Wangen auf. »Dementsprechend wissen viele Abgeordnete schon Monate im voraus, wann ein Parlament einberufen werden soll.«
»Und so war es auch hier«, ergänzte Banyard. »Schon vor Wochen haben die Ritter einen Kurier geschickt und mich gebeten, ihnen Kammern freizuhalten. Wir haben alle Abgeordneten aus Shrewsbury hier.«
»Ja, ja«, fiel Cranston ihm ungeduldig ins Wort. »Aber wann sind sie angekommen?«
»Oh, vor neun Tagen«, antwortete Banyard. »Fünf Tage vor der Parlamentseröffnung.«
»Und vor diesen Todesfällen ist nichts Ungewöhnliches passiert?«
»Nein.« Der Wirt schüttelte den Kopf. »Es hat sich überhaupt sehr wenig ereignet, Mylord; sie haben nur geredet. Sie sind alle sehr gut im Reden. Sie reden beim Frühstück, und wenn sie aus Westminster zurückkommen, hocken sie hier in der Schankstube und schwatzen, bis sogar die Hunde vor Erschöpfung Umfallen.«
»Und Bouchons Tod?«
Banyard deutete quer durch den Raum. »Er und seine Kameraden saßen da drüben, schmausten und tranken. Oh, sie waren alle sehr von sich eingenommen; ich bemerkte allerdings, daß Bouchon still und zurückgezogen wirkte. Sie tranken viel.« Banyard verzog das Gesicht. »Aber was kann ich dagegen einwenden? Nun, an diesem speziellen Abend diskutierten die Herren über ein Geschäft ganz anderer Art: über die Freuden des Fleisches.«
»Du meinst, sie sprachen über ein Freudenhaus?«
»Ja.« Banyard machte ein unbehagliches Gesicht. »Nun gibt es hier nichts dergleichen, meine Herren. Ich führe ein achtbares Haus; ich muß allerdings gleich zugeben, daß ich wohl ein Auge zudrücke, wenn sie mal jemanden mit hereinbringen.«
»Aber dieses Freudenhaus …?« drängte Cranston ungeduldig. »Dame Mathilda Kirtles führt ein diskretes Haus«, antwortete Banyard. »In der Cottemore Lane, ein kleines Stück weiter unten am Fluß.«
»Und ist Sir Oliver mit ihnen fortgegangen?« fragte Athelstan. »0 nein. Gegen Ende des Mahls stand Sir Oliver auf, zog sich den Mantel an, schlug die Kapuze hoch und verließ die Schankstube. Die anderen riefen ihm noch nach, aber er war ganz gedankenverloren. Und im Handumdrehen war er verschwunden.«
»Und du weißt nicht, wohin?«
»Mylord Coroner, ich hatte an diesem Abend viel zu tun. Da könnt Ihr jeden meiner Diener hier fragen. Ich habe die Schenke nicht verlassen. Wir haben erst lange nach der Sperrstunde geschlossen. Dazu haben wir eine Lizenz«, fügte er hastig hinzu.
Athelstan nahm einen Schluck aus seinem Humpen und sah sich in der Schenke um. Es war ein Palast im Vergleich zu anderen Gasthäusern, dachte er; die verputzten Wände waren erst vor kurzem gestrichen worden, die Binsen auf dem Boden knisterten frisch, und wenn er die Sandale niederdrückte, roch er den Duft von Rosmarin, der dort hineingestreut war. Die Tische waren aus Eichenholz und gut gearbeitet. Es gab Schemel, richtige Bänke und sogar ein paar Stühle mit hohen Lehnen. Gläser und Zinnteller standen auf Borden an der Wand. Über ihnen auf dem Kaminsims prangte die farbenprächtige Darstellung eines Ungeheuers, halb Mensch, halb Tier, das sich im Kampf mit einem Ritter um dessen Schwert wand und schlängelte. Das Essen war gut zubereitet, und nach Cranstons wohligem Gebrumm zu urteilen, war das Ale zweifellos das beste in London.
»Du hast ein feines Geschäft hier, Master Banyard«, bemerkte Athelstan.
»Oh, es ist sehr angenehm, Bruder. Überaus angenehm, jawohl.«
»Kennst du die meisten Leute, die hierher kommen?«
Banyards Blick huschte schnell hin und her. »Die meisten, Bruder, ja. Und wenn es Fremde sind, so kommen sie immer wieder. Am Schnitt ihrer Kleidung erkenne ich, was die Leute sind: Fährmann, Gerichtsdiener, Kurier, Büttel oder ein königlicher Beamter aus dem Schatzamt oder der Staatskanzlei. Aber bevor Ihr danach fragt: Ich habe keine Fremden gesehen, und auch sonst nichts Ungewöhnliches.«
»Und Sir Olivers Leichnam?« fragte Cranston.
»Er wurde flußabwärts gefunden«, antwortete Banyard. »Ein paar Fischer fanden ihn im Schilf bei Horseferry.«
»Ach, natürlich.« Cranston lehnte sich zurück. »Ich erinnere mich, daß ich als Kind da gespielt habe. Das Schilf wächst hoch und schön dicht.« Er lächelte Athelstan an. »Ganz in der Nähe von Tothill Fields.«
»Woher wußten sie, daß es Sir Oliver war?« fragte Athelstan. »Er hatte Dokumente in der Tasche, wasserfleckig, aber noch lesbar, und so riefen die Fischer einen Schreiber dazu. Der sah schon an der Kleidung des Toten, daß es ein bedeutender Mann sein mußte. Man schaffte den Leichnam zum Westminster Yard, und Sir Miles Coverdale, der für den Schutz des Abteigeländes zuständig ist, erkannte den Toten und ließ ihn herbringen.«
»Wurde ein Arzt gerufen?« fragte Cranston.
»Der Mann war tot und roch nach Fisch, Sir John. Aber nein«, fügte Banyard eilig hinzu, als er sah, wie der Coroner die Stirn runzelte. »Man brachte ihn nach oben. Am Nachmittag kamen seine Kollegen aus dem Kapitelhaus. Ich habe eine alte Frau aus der Chancery Lane kommen lassen; sie hat den Leichnam entkleidet und in ein Leichenhemd gehüllt.« Banyard warf einen Blick zur Balkendecke hinauf. »Aber ich bin froh, wenn sie ihn und den anderen ins Leichenhaus nach St. Dunstan’s in the West bringen.«
»Durchaus.« Der Coroner nickte. Er schwenkte seinen leeren Humpen vor Banyards Nase hin und her und hoffte, der Wirt werde ihm nachschenken lassen, aber Banyard, der an solche Possen gewöhnt war, nahm überhaupt keine Notiz davon.
»Die Leiche wies keinerlei Male auf?« fragte Athelstan.
»Das hat die Alte gesagt.«
»Und Sir Henry?«
»Nun, der schien unter Bouchons Gefährten am meisten aufgebracht zu sein. Ich habe mich erboten, einen Priester kommen zu lassen, der gegen Entgelt die Totenwache übernehmen könnte. Er war einverstanden. Pater Benedict ist Benediktinermönch und Kaplan bei den Commons«, erläuterte Banyard, »aber er hat soviel zu tun, daß ich nach einem Priester von St. Bride’s in der Fleet Street schickte. Ihr könnt hingehen und Euch erkundigen. Doch was letzte Nacht angeht - na, da fragt ihr am besten die Magd. Christina!«
Die Schankdirne kam herüber. Ihr milchweißes Gesicht war von der Küchenhitze leicht gerötet, und ihr volles blondes Haar war jetzt mit einem Band fest nach hinten gebunden. Ein hübsches, lebhaftes Mädchen mit fröhlichen Augen und einem Mund, dachte Athelstan bei sich, den Gott zum Küssen geschaffen haben mußte. Sie trug einen dünnen, fleckigen Kittel, der sich straff über einen stattlichen Busen spannte und an der schmalen Taille von einer roten Wollkordel zusammengefaßt wurde. Sie grinste Sir John an und schaute nervös blinzelnd zu Athelstan hinüber, aber an der Art, wie sie Banyards Ruf gefolgt war, erkannte Athelstan, daß der Gastwirt die Liebe ihres Lebens sein mußte.
»Setz dich, Mädchen.« Cranston deutete auf einen Schemel am Nachbartisch. »Es tut gut, bei der Arbeit ein bißchen zu rasten. Master Banyard, vielleicht noch ein bißchen Ale für uns alle?« Banyard blieb auf seinem Schemel sitzen und starrte ihn an; schließlich wühlte Cranston seufzend seine Börse hervor. »Und sorge dich nicht um die Bezahlung«, knurrte er.
Banyard rief einem der Schankburschen etwas zu und wandte sich dann an Christina. »Du brauchst nicht aufgeregt zu sein, Mädchen. Das hier ist der berühmte Sir John Cranston.« Er warf dem Coroner einen verschlagenen Blick zu. »Und Bruder Athelstan, sein Secretarius.«
Christina klapperte niedlich mit den Wimpern. »Ich habe von Euch gehört, Sir.«
Cranston spreizte sich wie ein Pfau, während Athelstan innerlich hoffte, das Mädchen möge die Schmeicheleien auf ein Mindestmaß beschränken.
»Gestern abend«, begann er unvermittelt, »als Sir Henry ermordet wurde …«
»Erwürgt wurde er«, antwortete das Mädchen sofort. Sie nahm dem Schankburschen das Bier ab und trank gierig; dann leckte sie sich den Schaum von der Oberlippe. »Wie ein Huhn. Die Schnur war ihm um den Hals gezogen worden, wie man eine Börse zuzieht.«
»Erzähle Sir John von dem Priester«, drängte Banyard.
»Wir hatten gestern abend viel zu tun«, berichtete Christina. »Master Banyard war im Keller.« Sie wandte sich dem Gastwirt zu und lächelte ihn selig an. »Da kam ein Priester herein.« Das Mädchen nahm den Humpen in beide Hände und hob ihn an die glühende Wange. »Er trug einen Kapuzenmantel, und die Kapuze hatte er sich weit ins Gesicht gezogen. Ich war sehr beschäftigt, aber ich sah die Rosenkranzperlen in seiner Hand. Ich fragte ihn, ob er der Priester sei, der die Totengebete sprechen würde. Er nickte.« Sie zuckte die Achseln. »Ich sagte ihm, wo die Kammer war, aber da ging er schon nach oben. Die Schankstube war voller Gäste«, fuhr sie fort. »Deshalb habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Später brachte ich einen Krug Bier zu Sir Henry Swynford hinauf. Der saß in seiner Kammer und starrte in die Dunkelheit. Nur eine Kerze brannte auf seinem Tisch. Ich fragte ihn, ob ihm auch nichts fehlte, und er brummte irgend etwas zur Antwort.« Christina trank einen Schluck von ihrem Ale.
»Erzähle Sir John, was dann geschah.«
»Nun …«
»Verzeihung«, warf Athelstan ein. Er hatte das Mädchen aufmerksam betrachtet und fragte sich insgeheim, ob sie nicht ein bißchen einfältig war; sie schwatzte wie ein Kind, ohne nachzudenken und ohne sich zu fürchten.
»Hast du das Gesicht des Priesters gesehen?«
»Setzt Eure Kapuze auf, Pater.«
Athelstan zuckte die Achseln und zog sich die Kapuze über den Kopf, um sein Gesicht zu verbergen.
»0 nein, Pater«, wandte Christina ein. »Es war anders. Senkt den Kopf.«
Athelstan gehorchte. Christina zog die Kapuze noch weiter über den Kopf nach vom und zupfte dann den vorderen Teil der Kutte hoch, bis der Mund bedeckt .war.
»Seht Ihr, Pater - so sah er aus.«
Athelstan schlug die Kapuze zurück und zog ein wenig verlegen die schwarze Kutte wieder herunter, weg von Mund und Kinn.
Im Dunkeln hätten ihn nicht einmal seine Pfarrkinder in diesem Aufzug erkannt. Tatsächlich hatte sogar erst kürzlich der Generalobere seines Ordens eine Weisung an alle Dominikaner erlassen, im Umgang mit Kutte und Kapuze bedachtsam zu sein, damit man sie nicht für Gesetzlose oder Strauchdiebe hielt. »Sprich weiter«, sagte er zu dem Mädchen.
»Nun, ein bißchen später«, plapperte Christina, »ging ich die Treppe hinauf. Ich hörte ein Geräusch aus Sir Olivers Zimmer, Gesang, Gebet.« Sie schloß die Augen. »Es war etwas mit … mit …« Sie stockte. »Ja, das war’s.« Sie schlug die Augen auf »Etwas von einem Tag der Rache.«
»Von einem Tag der Rache?« wiederholte Cranston.
»Hast du die Stimme erkannt?« unterbrach Athelstan.
»Nein, sie klang tief und gedämpft, als habe der Sprecher sich etwas über den Mund gelegt. Aber dann« - Christinas Blick ging rasch hin und her, und Athelstan überlegte, ob sie vielleicht doch schlauer sei, als er vermutet hatte - »dann dachte ich, es sei der Priester, der da betete, vielleicht mit gesenktem Kopf.« Ein Schauer überlief das Mädchen. »Es war unheimlich. Im Korridor brannte nur eine Fackel, und die Schatten tanzten. Ich hatte Angst; ich wußte ja von dem Toten und dachte an Gespenster, und dann redete die Stimme von Rache und von Gottes Zorn, und daß die Erde brenne.«
»Das Dies Irael« rief Athelstan aus. »Tag der Rache Tag den Sünden.« Er starrte in Cranstons ratloses Gesicht. »Tag der Rache Tag den Sünden, wird das Weltall sich entzünden. Welch ein Graus wird sein und Zagen …«, sang Athelstan. »Das ist aus der Totenmesse; der Priester singt es, bevor er das Evangelium verliest.« Athelstan griff nach Christinas Hand. »Und du bist sicher, daß die Stimme nicht Sir Henry Swynford gehörte?«
»0 nein, sie klang anders: dunkel, gedämpft.«
»Was hat das zu bedeuten, Bruder?« wollte Cranston wissen. Athelstan rieb sich das Gesicht mit beiden Händen. Trotz der gemütlichen Wärme in der Schankstube war ihm kalt und ängstlich ums Herz. Die meisten Meuchelmörder töteten schnell und leise.
Er antwortete langsam. »Es bedeutet, Mylord Coroner, daß der Priester - und ich glaube nicht, daß es der Priester war, den unser guter Wirt hier für die Totengebete gedungen hatte -, es bedeutet, daß der Priester der Mörder war. Als Sir Henry vor dem Sarg seines Kollegen kniete, legte dieser Mörder ihm rasch die Garotte um den Hals, und während er ihn ermordete, sang der Mörder diese Worte. Nicht als Gebet, sondern als schrecklichen Racheruf.«