Der Wirt führte sie kopfschüttelnd zur Galerie im ersten Stock hinauf. Auf der Treppe blieb er stehen, und das Glasfenster hinter ihm umrahmte sein Gesicht. Athelstan roch die duftenden Kräuter, die in einem Töpfchen auf dem schmalen Fenstersims standen, und aus dem Hof unten hörte er das schrille Krähen eines Hahns. Aus irgendeinem Grunde mußte er an die Worte des Evangeliums denken, an die Geschichte vom Heiligen Petrus und wie er den Herrn verriet, ehe der Hahn dreimal krähte. Er wappnete sich; er und Cranston waren dabei, ein dunkles, verworrenes Labyrinth von Mord und Intrige zwischen den reichen Lords des Landes zu betreten. Der Tod der Herren Swynford und Bouchon war sicher kein Unfall, und die beiden waren auch nicht Opfer eines unglücklichen Zufalls geworden. »Nun, worauf warten wir?« bellte Cranston.
Banyard hob den Finger. »Hört, Pater.«
Athelstan spitzte die Ohren und hörte ein leises Murmeln.
»Das ist Pater Gregory«, erklärte der Wirt. »Er ist heute morgen gekommen, um die Toten zu salben. Danach«, fuhr er munter fort, »bringt man sie hinunter zur Leichenputzerin, einer alten Frau, die auf der anderen Seite des Palastes wohnt. Sie nimmt die Eingeweide heraus und stopft die Leichen mit Kräutern aus. Wie ich gehört habe, ist Sir Edmund Malmesbury dabei, ein kleines Gefolge zusammenzustellen, das sie nach Shrewsbury zurück eskortieren soll.«
Cranston wollte weitergehen, aber Banyard breitete vor der nächsten Treppe die Arme aus. »Ich denke, wir sollten warten«, sagte er.
»Und ich denke, wir sollten nicht warten«, widersprach Cranston grollend.
Er stieg weiter hinauf. Athelstan zuckte entschuldigend die Achseln und folgte ihm. Er warf einen Blick die Treppe hinunter. Unten stand Christina und starrte zu ihnen herauf. Ihr Mund war ein großes, rundes 0.
»Keine Angst, Kind«, rief Athelstan zu ihr hinunter. »Mit Sir John wird uns schon nichts passieren.«
Sie gingen den Korridor entlang und betraten eine Kammer. Obwohl die Fenster offenstanden und die Blendläden aufgeklappt waren, stank die Luft nach Tod und Verwesung. Die beiden Leichen lagen in ihren Särgen auf einem eigens auf Böcken errichteten Tisch am Fuße des Vierpfostenbettes. Der Priester, der davor auf einem Kissen kniete, bekreuzigte sich und stand hastig auf: Graue Haut und graue Haare, ein langes, müdes Gesicht, wäßrige Augen und ein sabbernder Mund -Athelstan empfand auf der Stelle Abneigung gegen Pater Gregory. Er sah aus wie der geborene Trinker. Sofort hatte Athelstan Gewissensbisse wegen seines harten Urteils und trat mit ausgestreckten Händen auf den Mann zu.
»Pater Gregory, bitte entschuldige, daß wir dich bei deinen Gebeten stören. Ich bin Bruder Athelstan von St. Erconwald, und das ist Mylord Coroner, Sir John Cranston.«
Der Priester zwang sich zu einem matten Lächeln und schüttelte Athelstan kraftlos die Hand. Cranstons machtvoller Schraubstockgriffließ ihn zusammenzucken.
»Gott habe Erbarmen mit ihnen«, klagte der Priester dann und deutete mit flatternder Handbewegung auf die Toten. »Ein schrecklicher Tod! Ein schrecklicher Tod! Heute hier und morgen schon fort, eh, Bruder?«
Er schwankte ein bißchen, und Athelstan fragte sich, ob er sich womöglich mit mehr als nur Gebeten gestärkt haben mochte. »Warum bist du nicht gestern abend gekommen?« fragte Cranston; er hockte sich auf einen Schemel und wischte sich mit dem Mantelsaum über das Gesicht.
»Ich war fort, wißt Ihr. Jede …« Der Mann stammelte. »Jede Woche besuche ich meine Mutter für einen Tag. Als ich heute morgen zurückkam, fand ich Master Banyards Nachricht. Schrecklich, schrecklich.« Er plapperte weiter. »Wenn man sich vorstellt, daß ein Priester einen Mann so erwürgen konnte.«
»Wenn Ihr unten warten wollt«, sagte Banyard freundlich zu ihm, »dann wird Christina Euch etwas zu essen geben, Pater. Mylord Coroner hier muß die Leichen untersuchen.«
Der Priester warf Sir John einen furchtsamen Blick zu und huschte hinaus.
»Du kannst gleich mitgehen«, sagte Cranston lächelnd zu dem Wirt. »Wir brauchen dich hier nicht mehr.«
Banyard zog ein Gesicht; er ging, nicht ohne die Tür hinter sich zuzuschlagen. Ächzend und brummend erhob Cranston sich wieder und betrachtete die beiden Leichname.
»Es passiert uns allen, Bruder. Aber der Tod ist doch etwas Schreckliches.«
Athelstan machte ein segnendes Kreuzzeichen und hockte sich neben den Leichnam zur Linken. Ein vergilbtes Stück Pergament oben am Sarg gab bekannt, daß dieser Tote Sir Oliver Bouchon war: eine dürre Bohnenstange mit einem barschen, groben Gesicht, das vom schleimigen Wasser der Themse nur noch schrecklicher gemacht worden war. Die Haut hatte sich bläulich-weiß verfärbt, die Lippen waren schlaff. Jemand hatte zwei Münzen auf die Augen gelegt, und Athelstan sah auch die kleinen roten Kreuze, die man in die Stirn und in jede Wange gekerbt hatte. Man hatte den Leichnam entkleidet und in ein einfaches Hemd gehüllt; Athelstan schob es zurück, schluckte heftig und fühlte die kalte, klamme Haut. Bouchon war am ganzen Leib von alten Narben und Striemen bedeckt, in denen Cranston Schwert- und Dolchverletzungen erkannte; zum Teil allerdings handelte es sich auch um die Spuren von engsitzenden Gürteln oder Stiefeln.
»Ein alter Soldat«, erklärte Cranston. »Er muß im Ausland gedient haben. Bei den Zähnen der Hölle, ich brauche jetzt etwas zu trinken.«
»Gleich, Sir John, aber helft mir bitte erst.«
Cranston gehorchte, und zusammen drehten sie den Toten um. Athelstan betrachtete die schlaffen Hinterbacken, die muskulösen Schenkel und die behaarten Beine, und er verspürte eine seltsame Trauer. Hier lag eine Welt für sich: Welche Hoffnungen, welche Freuden, welche Ängste und welche Alpträume hatten das Leben dieses Mannes durchdrungen? Wurde er geliebt? Hatte er Ideale? Würden die Leute über seinen Tod trauern? Athelstan fuhr mit den Fingern durch das noch feuchte, dichte schwarze Haar am Hinterkopf des Toten.
»Ah!« rief er aus.
»Was ist denn, Bruder?«
»Fühlt selbst.«
Cranstons stumpfe Finger betasteten den Hinterkopf und erstarrten, als er eine große, harte Beule spürte.
»Bringt mir eine Kerze«, sagte Athelstan.
Sir John reichte ihm eine von denen, die Pater Gregory angezündet hatte, und Athelstan hielt sie dicht ans Haar. Der heiße Talg der Kerze tropfte zischend auf das feuchte Haar, aber sie spendete Athelstan genug Licht, so daß er die große, rote Prellung erkennen konnte.
»Wenn jemand behauptet«, erklärte Athelstan, »Sir Oliver Bouchon sei ausgerutscht und in die Themse gefallen, dann ist er entweder ein Lügner oder ein Dummkopf. Jemand hat diesem armen Mann einen mächtigen Schlag auf den Hinterkopf versetzt.«
»Warum hat es sonst niemand bemerkt?«
»Weil niemand danach gesucht hat, Sir John.«
Athelstan richtete sich auf und reichte die Kerze zurück. »Sir Oliver wurde besinnungslos geschlagen und in die Themse geworfen. Es ist schade, daß man den Toten entkleidet hat; ich hätte gern nachgewiesen, daß er bewußtlos geschlagen wurde, als er am Flußufer entlangging.«
»Wie kommst du darauf?«
Athelstan drehte den Leichnam um, nahm behutsam seine Hände und deutete auf die schmutzigen Fingernägel und die Schlammspuren an den Handballen.
»Wenn man ihn anderswo niedergeschlagen hätte«, erläuterte Athelstan, »würde ich Blutergüsse erwarten, weil man den Bewußtlosen entweder über das Pflaster geschleift oder auf einen Karren geworfen haben muß. Aber wie Ihr seht, hat er nur die Beule am Hinterkopf. Schmutzspuren dagegen finden sich unter den Fingernägeln und an den Handballen. Bouchon muß am Flußufer gewesen sein. Sein Angreifer schlug ihn bewußtlos, und Sir Oliver fiel auf den Bauch, wahrscheinlich in den Schlamm. Dann hat man ihn hochgehoben und in den Fluß gerollt.«
»Aber warum hat das Wasser den Schmutz nicht von den Händen und Nägeln abgewaschen?«
Athelstan schüttelte den Kopf. »Von den Kleidern vielleicht, sogar vom Gesicht.« Er kniete noch einmal nieder und untersuchte Sir Olivers grobe Züge. »Nicht einmal hier, von den kleinen roten Kreuzen abgesehen, findet sich eine Schramme oder ein blauer Fleck; das ist merkwürdig. Doch um Eure Frage ohne Umstände zu beantworten, Sir John: Das Flußwasser dürfte alle oberflächlichen Schmutzflecken von Gesicht und Kleidung entfernt haben. Aber sagt mir, Mylord Coroner, habt Ihr je eine Leiche gesehen, die einem brutalen Anschlag zum Opfer gefallen ist und die offene Hände mit gespreizten Fingern hat?« Sir John schüttelte lächelnd den Kopf.
»Bei Sir Oliver war es nicht anders«, fuhr Athelstan fort. Er hielt die Hände hoch und krümmte die Finger. »Wenn Ihr das nächste Mal Eure Kerlchen oder Lady Maude betrachtet, während sie schlafen, dann achtet darauf, wie sie die Finger in die Handfläche krümmen. Bei einem bewußtlosen Mann ist das nicht anders. Nach kurzer Zeit setzt, auch im Wasser, die Totenstarre ein. Alles versteift sich - daher die leichten Schmutzspuren an den Handflächen und unter den Fingernägeln von dort, wo er gefallen ist. Und mehr noch« - Athelstan ergriff Sir Olivers rechte Hand »seht doch, wie tief der Schmutz sich eingegraben hat. Sir Oliver muß gefallen sein und die Hände, bevor er das Bewußtsein verlor, wie ein Tier in den Boden gekrallt haben.« Athelstan schüttelte den Kopf. »Der arme Mann. Gott schenke ihm die ewige Ruhe. Und jetzt zu Sir Henry.«
Sir John ging zur anderen Seite von Swynfords Sarg. Athelstan kniete dort nieder und löste das Hemd, das unter dem Kinn des Toten zugebunden war. Dabei mußte der Ordensbruder innehalten und die Augen schließen, denn das Gesicht des grauhaarigen Ritters war im Tode schrecklich verzerrt. Der Mund war eine Grimasse, und die Augen waren halb geöffnet, weil der Kopf leicht zur Seite gerollt war und die Münzen, die man auf die Lider gelegt hatte, heruntergerutscht waren. Es sah aus, als wolle der Tote gleich aufwachen und einen gräßlichen Wutschrei ausstoßen, weil man ihn so unversehens in die Finsternis hatte fahren lassen. Auch Swynfords Gesicht war von roten Kreuzen entstellt, die man in die Haut geritzt hatte. Athelstan drückte das Kinn des Mannes hoch und betrachtete den rot leuchtenden Striemen um den Hals, der sich besonders tief einkerbte, wo jetzt der Adamsapfel hing.
Athelstan zog das Hemd herunter, aber wieder konnte er keine Schrammen oder Blutergüsse entdecken. Doch wie Sir Oliver wies auch Sir Henrys Leib die Male und Narben eines Soldatenlebens auf. Mit Sir Johns Hilfe drehte er den Leichnam um und starrte auf den blauen Fleck im Kreuz des Toten.
»Wie ist es denn dazu gekommen?« flüsterte er.
»Knie dich hin, Bruder.« Sir John lächelte seinen Secretarius an. »Los, knie nieder, und ich zeige dir, wie er gestorben ist.« Athelstan gehorchte.
»Nein, nein, nur auf ein Knie«, verbesserte Sir John. »So betet ein Ritter: ein Knie gebeugt, eines oben, allzeit bereit.« Athelstan tat wie geheißen. Er hörte, wie Sir John leise hinter ihm herantrat. Plötzlich wurde sein Kopf zurückgerissen, als Sir John ihm einen Gürtel um die Kehle schlang, so daß das Leder in seinen Hals biß, während das Knie des Coroner ihm ins Kreuz stieß. Athelstan prustete und fuchtelte mit den Händen, und der Gürtel wurde gelockert. Sir John half ihm auf die Beine und drehte ihn um. Er sah den Schrecken im sanftmütigen Gesicht des Dominikaners.
»Hier, Bruder, nimm ein Schlückchen aus dem Weinschlauch.« Diesmal lehnte Athelstan nicht ab; er nahm einen großzügigen Schluck und gab Sir John den Schlauch zurück.
»Gut gemacht, Coroner. Ihr wart sehr schnell.«
»Das Kennzeichen des professionellen Meuchelmörders.« Sir John belohnte sich selbst mit zwei kräftigen Schlucken. »Die Garotte arbeitet sehr viel flotter, als viele Leute denken. In Frankreich habe ich gesehen, wie junge Bogenschützen, fast noch Kinder, auf diese Weise mit französischen Posten verfahren sind, wenn wir nachts auszogen. Ein schrecklicher Tod, Bruder - so schnell, daß es selbst dem stärksten Mann schwerfällt, seinen Feind zu packen.«
Athelstan nickte. Er war in Panik geraten, aber ihm war klar, daß er sich unter keinen Umständen gegen Sir John hätte wehren können: Er hatte ihn mit dem Knie von sich ferngehalten und ihn gleichzeitig schnell mit dem Gürtel gewürgt. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und betrachtete Swynfords Leichnam.
»So ist er also gestorben. Er ist hereingekommen und niedergekniet. Der Mörder, der sich als Priester ausgegeben hatte, trat hinter ihn. Sir John, wie lange dürfte das gedauert haben?«
»Nun, Bruder, wenn du angefangen hättest, sehr schnell zu zählen, dann dürfte Swynford das Bewußtsein verloren haben, als du bei fünf angekommen warst.«
»Und die ganze Zeit hat der Mörder gesungen und das Dies Irae verhöhnt.« Athelstan schaute sich in der Kammer um. »Sir John, wir müssen die Habe der Toten untersuchen.«
Cranston nickte und ging hinaus. Athelstan hörte, wie er oben an der Treppe nach Banyard rief. Der Ordensbruder stand zwischen den beiden Särgen, schloß die Augen und sprach selbst ein Requiem für diese Seelen, die so unvermittelt aus dem Körper gerissen worden waren.
Cranston kam zurück. »Komm, Bruder, die Sachen sind nebenan. Der Wirt hat mir den Schlüssel gegeben.«
Athelstan folgte dem Coroner in die benachbarte Kammer, in der offenbar Sir Henry Swynford gewohnt hatte. Die Kleider der Männer lagen in zwei Haufen auf dem Boden. Athelstan sah sie sorgfältig durch. Bouchons Sachen waren immer noch tropfnaß, fleckig und schmutzig vom Fluß, aber er fand nichts Ungewöhnliches an ihnen; sogar der Dolch des Ritters steckte noch in der Scheide. Cranston durchstöberte unterdessen die übrigen Besitztümer und öffnete lederbezogene Holztruhen, Satteltaschen und kleine Metallkassetten, allesamt mit den Wappen der Toten verziert. Bouchons zeigte einen schwarzen Eber, der aufgerichtet in einem azurblauen Feld stand, und Swynford hatte drei schwarze Krähen auf goldenem, mit kleinen roten Kreuzen gevierteltem Grund. Münzen und Geldbeutel waren da, Messer und mehrere kleine, in Kalbsleder gebundene Bücher mit ledernen Schließen. Athelstan öffnete sie.
»Was ist das, Bruder?« fragte Cranston.
»Die Sagen um König Artus«, antwortete Athelstan. »Ihr wißt schon - Lanzelot vom See, Tristan und Isolde.« Er griff nach einem anderen Band. »Hier auch: Sir Gawain und der Grüne Ritter. Die Suche nach dem Heiligen Gral. Merkwürdig …«
»Ach, um Gottes willen, Bruder - König Artus und seine Tafelrunde, das sind doch beliebte Sagen. Chaucer und andere Dichter schreiben ständig davon. Als ich jünger war, war es durchaus gebräuchlich, daß junge, modische Ritter Tafelrunden unterhielten, wo sie spielen und Turniere reiten konnten.«
»Ich finde es nur merkwürdig, daß zwei Ritter, wenn auch aus derselben Gegend, sich mit denselben Geschichten unterhalten. Und hier, seht.« Athelstan durchwühlte den Schmuck auf dem Bett. »Hier sind zwei Ketten mit identischen Abzeichen.« Er entwirrte die beiden Ketten. »Beide tragen das Bild eines Schwans mit aufgestellten Schwingen.«
Cranston nahm die Ketten in die Hand. Die beiden Medaillons waren identisch, die Schwäne vorzüglich gearbeitet mit ihren luftig aufgerichteten Schwingen und gebogenen Hälsen.
»Das ist kein Firlefanz von irgendeinem Marktstand«, stellte der Coroner fest. »Das ist eine besondere Anfertigung von einem Silberschmied.«
»Und schaut«, fuhr Athelstan fort und nahm zwei Ringe. »Jeder dieser beiden Silberringe trägt ebenfalls das Abbild eines Schwans.« Er hielt sie dicht nebeneinander. »Sie sind verschieden groß. Ich habe die Male gesehen, die sie an den Fingern der Leichen nebenan hinterlassen haben. Ich will damit sagen, Sir John: Swynford und Bouchon haben beide einer Gesellschaft oder einem Bund von Leuten angehört, die sich für die Sagen um König Artus interessieren, und das Abzeichen dieses Bundes ist ein silberner Schwan.«
»Die Ritter vom Schwan.« Cranston setzte sich auf die Bettkante und kaute auf der Unterlippe. »Während des Kriegs in Frankreich …« Er lächelte Athelstan an. »Na, über die Kriege dort weißt du Bescheid, Bruder; du warst ja dabei. Aber erinnerst du dich an die Kompanien? Jede war von irgendeinem Lord auf die Beine gestellt worden, und dazu gehörten Ritter, Fußsoldaten, Bogenschützen - und alle trugen die gleiche Livree und das gleiche Abzeichen: einen grünen Drachen oder einen roten, aufgerichteten Löwen.«
»Aye, daran erinnere ich mich.« Athelstan warf die Ringe wieder aufs Bett. »Bunte Banner und militärisch aussehende Wimpel. In Wirklichkeit aber nur ein Vorwand für eine Gruppe von Männern, soviel zu plündern, wie sie in die Finger bekommen konnten.«
Cranston fuhr mit seiner Durchsuchung fort. »Und nicht zuletzt, Bruder«, sagte er und ging zu einem kleinen Tisch unter einem großen schwarzen Kruzifix, »habe ich Banyard gefragt, wo das hier wäre.«
Er kam mit Pfeilspitzen, Kerzen und kleinen Pergamentstücken zurück. Athelstan untersuchte alles und studierte dann die schmutzigen Pergamentfetzen, auf die das Wort »Memento!« gekritzelt war.
»Jedes der Opfer hatte diese Gegenstände bei sich«, berichtete Cranston. »Aber was haben sie zu bedeuten?« Er schüttelte den Kopf. »Und wieso hat man den Toten diese roten Kreuze in die Gesichter geschnitten?«
Athelstan trat ans offene Fenster und schaute hinaus. Er sah Christina. Eine Herde schnatternder Enten versammelte sich um sie; sie kamen vom Fischteich herbeigewatschelt.
»Es bedeutet, Mylord Coroner«, sagte er, »daß keine Sünde und keine böse Tat jemals verschwindet, wie eine Rauchwolke sich auflöst: Sie kommt immer zurück und sucht Euch heim.«
»Ach, um Himmels willen, Mönch!«
»Ordensbruder, Sir John.«
»Du redest wie ein Unheilsprophet, Ordensbruder«, sagte Cranston erbost.
»Dann bin ich vielleicht einer. Hier haben wir zwei Ritter aus der königlichen Grafschaft Shrewsbury, die ihren rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Geschäften nachgehen, je nachdem, wie Ihr es beschreiben wollt. Sie kommen nach London, um ihre Grafschaft im Parlament zu vertreten. Wie alle Männer, die fern von Kind und Kegel sind, wollen sie in den Fleischtöpfen der Stadt schwelgen: gutes Essen, schwerer Wein, willige Weiber. Aber dann werden sie ermordet. Der erste verläßt im Zustand höchster Erregung ein Bankett, und seine Leiche wird später aus der Themse gefischt. Als man ihn aufgebahrt hat und sein Gefährte kommt, um für ihn zu beten, garottiert ihn ein Meuchelmörder, als Priester verkleidet, und singt dabei einen Gesang aus der Totenmesse. Nun vermute ich, daß der arme Bouchon erregt war, weil er diese Zeichen empfangen hatte: eine Pfeilspitze, eine Kerze und ein Stück Pergament, auf dem er aufgefordert wird, sich zu erinnern. Swynford hat das gleiche bekommen.« Athelstan schaute zum Coroner hinüber. »Könnt Ihr meinem Gedankengang folgen, Sir John?«
Cranston lehnte seine Körpermassen an die Tischkante und starrte seinen Secretarius nachdenklich an.
»Es bedeutet erstens«, fuhr Athelstan fort, »daß sie wahrscheinlich von ein und demselben Attentäter ermordet wurden, der einen Groll gegen sie beide hegte. Was immer diese Gegenstände bedeuten mögen, die Pfeilspitze, die Kerze und das Stück Pergament warnten sie vor dem bevorstehenden Tod. Und die roten Kreuze, die ihnen dieser als Priester verkleidete Mörder ins Gesicht geritzt hat, sind ebenfalls Ausdruck seines Grolls.« Sir John wiegte seinen Weinschlauch im Arm wie eine Mutter ihren Säugling. »Es bedeutet außerdem, mein guter Bruder«, ergänzte er, »daß unser Meuchelmörder ein gründlicher Pläneschmied ist. Er hat auf diese Gelegenheit gewartet und die beiden Männer unter raffiniertesten Täuschungen hingerichtet …« Er zögerte. »Aber was nun, Bruder?«
»Nun, unser edler Regent befürchtet, man werde ihm die Schuld in die Schuhe schieben; allerdings muß es ihm stille Genugtuung verschaffen, daß zwei seiner Kritiker ein für allemal zum Schweigen gebracht worden sind. Zweitens nun, als Sir Oliver die Schenke verließ, ist ihm keiner seiner Gefährten gefolgt. Allerdings…« Athelstan wandte sich vom Fenster ab und lehnte sich an die Wand. »Jeder beliebige kann Sir Oliver zu einer heimlichen Verabredung gelockt haben, wo er ihn dann ermordete. Sir Henrys Tod ist rätselhafter. Seine Gefährten waren in der Schenke, und dennoch taucht dieser Mörder auf, als Priester verkleidet, und das fordert zwei Fragen heraus. Wer wußte, daß ein Priester gerufen worden war? Und was wäre geschehen, wenn der falsche Priester gleichzeitig mit Pater Gregory erschienen wäre?«
»Das ist kein großes Geheimnis«, antwortete Cranston. »Bedenke, was Christina gesagt hat: In der Schenke herrschte Hochbetrieb. Die Ankunft eines Priesters würde keine Verwunderung hervorrufen. Wenn Pater Gregory schon oben war, hätte der Mörder gewartet oder sich sogar zu ihm gesellt. Sei ehrlich, Bruder: Wenn in St. Erconwald ein Priester in deiner Kirche erschiene und am Sarg eines deiner unglücklichen Pfarrkinder beten wollte, würdest du da als Gemeindepriester …?«
»Concedo«, gab Athelstan zurück. »Ein Priester, zwei, drei oder vier, das ist eigentlich nicht so wichtig. Der Mörder wird auf seine Gelegenheit gewartet oder sich selbst eine geschaffen haben.« Er klopfte mit den Pergamentfetzen gegen seine Finger. »Dies ist die entscheidende Frage, die wir zu klären haben. Woran sollten Sir Henry und Sir Oliver sich erinnern? Welche Bedeutung hatten die Pfeilspitze und die Kerze? Die Zeichen im Gesicht? Und warum hier?«
»Was meinst du damit?« fragte Cranston.
»Warum die beiden Ritter in London ermorden? Warum nicht in Shrewsbury oder auf dem Weg nach Westminster oder von dort zurück?«
Cranston schnaubte und sein weißer Schnurrbart sträubte sich.
Er wollte eben mit einer Rede beginnen, als von der Treppe her Gepolter zu hören war; dann klopfte es, und Sir Miles Coverdale kam geschäftig herein. Er trug einen Brusthamisch und einen Schwertgurt.
»Sir John, Bruder Athelstan.« Er deutete eine ziemlich spöttische Verbeugung vor dem Coroner und seinem Begleiter an. »Was gibt’s, Mann?« Cranston schob den Weinschlauch unter seinen Mantel und stand auf. »Ihr kommt ja hier hereingestürmt wie ein Schlachtroß.«
Sir Miles grinste, zog sich die Handschuhe aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sir John, ich führe nur aus, was Ihr befohlen habt, als Ihr nach Westminster kamt.«
»Ich weiß, was ich gesagt habe«, blaffte Cranston.
Athelstan lächelte über Coverdales tolerante, gelassene Art. Der Hauptmann schien sich über Sir Johns Streitsucht vor allem zu amüsieren. Jetzt streckte er die Hand aus, um Athelstan zu begrüßen. »Pater, ich habe schon viel von Euch gehört. Seine Gnaden der Regent spricht oft von Sir John und seinem Gehilfen.«
»Secretarius!« fauchte Cranston. »Athelstan ist mein Secretarius und der Pfarrer von St. Erconwald. Er ist Dominikaner und …«
»… und ein sehr guter Prediger«, vollendete Sir Miles. »So geht wenigstens das Gerücht.« Er zwinkerte Athelstan zu und wandte sich dann wieder an Sir John. »Mylord Coroner, die Morgensitzung im Unterhaus ist früh zu Ende gegangen. Ich habe Sir Olivers und Sir Henrys Kollegen gebeten, im Kapitelhaus zu bleiben. Sie erwarten Euch dort.«
Der Hauptmann drehte sich um, denn hinter ihm ging die Tür auf, und ein Mönch mit schwarzer Kutte kam lautlos wie ein Schatten herein.
»Was zum …?« rief Cranston.
»Sir John, darf ich Euch Pater Benedict vorstellen, Mönch von Westminster, Bibliothekar und Kaplan bei den Commons.«
Cranston scharrte verlegen mit den Füßen und streckte seine fette Hand aus. Pater Benedict ergriff sie; er schlug die Kapuze zurück und enthüllte ein schmales, asketisches Gesicht und einen kahlrasierten Schädel. Tiefe Furchen zogen sich zu beiden Mundwinkeln herunter; seine Augen lagen dicht beieinander, und sein Blick war scharf.
»Sir John Cranston.« Er sah Athelstan an, und ein Lächeln verwandelte sein Gesicht. »Und du, Bruder.«
Athelstan trat vor und tauschte einen Friedenskuß mit ihm. Dabei drückte Pater Benedict seine Schultern. »Willkommen in unserer Gemeinde, Bruder«, flüsterte der Benediktiner.
»Fax Tecum«, flüsterte Athelstan zurück.
»Warum seid Ihr hier, Pater?« fragte Cranston.
»Ich bin gekommen, um Sir Henry und Sir Oliver die letzte Ehre zu erweisen«, antwortete der Benediktiner. »Ich bin der Kaplan der Commons. Sir Miles hat mir heute morgen von den Todesfällen berichtet.«
»Kanntest du die Toten?« fragte Athelstan.
Die Frage schien den Mönch zu überraschen. Er öffnete den Mund, blinzelte und machte eine schroffe Bewegung mit den Händen.
»Ja und nein«, antwortete er. »Ich weiß, wer die Vertreter von Shropshire sind. Vor vielen, vielen Jahren war ein guter Freund von mir, Antony, als junger Mönch in Iilleshall.« Pater Benedict lächelte leise. »Er ist letzten Winter gestorben.«
»Und?« fragte Cranston.
»Sir Henry, Sir Oliver und die anderen pflegten sich in unserem Kapitelhaus zu Lilleshall zu treffen.«
»Zu welchem Zweck?«
»Sie waren junge Ritter«, antwortete der Mönch. »Antony sagte, sie hatten die Köpfe voll von Träumen über König Artus und die Ritter der Tafelrunde. Sir Henry, Sir Oliver und die anderen pflegten diese Geschichten nachzuspielen. Jeden Monat trafen sie sich mit Erlaubnis unseres Abtes in unserem Haus in Lilleshall, wo sie Bankette abhielten, die Sagen um Artus vortrugen und draußen auf der großen Wiese ein Turnier austrugen. Ihre Treffen wurden ganz berühmt.« Pater Benedict hustete und wandte den Blick ab.
»Und sie nannten sich ›Ritter vom Schwan‹?« fragte Athelstan. »Ja.« Pater Benedict bückte sich und rieb sich das Knie. »Sir John, Athelstan - bitte, ich muß mich hinsetzen. Ich habe Rheumatismus. Die Abtei ist nicht eben der wärmste Ort im Winter.« Cranston zog einen Stuhl heran, und der alte Mönch ließ sich dankbar darauf niedersinken.
»Möchtet Ihr etwas trinken?« fragte der Coroner hoffnungsvoll.
»Wir sprachen eben über die ›Ritter vom Schwan‹«, unterbrach Athelstan und warf Cranston einen warnenden Blick zu.
»Oh, wenn man Pater Antony glauben konnte, waren sie ein prächtiger Haufen«, antwortete der Benediktiner. »Einige von ihnen sind inzwischen tot, Gott schenke ihnen die ewige Ruhe. Aber es müssen zwanzig, vierundzwanzig Mann gewesen sein. Ich habe Antony einmal in Lilleshall besucht, als die Ritter vom Schwan eine ihrer großen Tafelrunden abhielten. Wenn sie zur Abtei geritten kamen, ging ihnen ein Knappe voraus, der ein breites, scharlachrotes Banner mit einem wunderschön gestickten weißen Schwan trug. Sie stellten Pavillons auf die Wiese, und die Leute strömten von überall herbei, aus Shrewsbury, ja, sogar aus Oswestry an der walisischen Grenze. Alle kamen, um die Farbenpracht zu sehen, die bunten Schabracken der Schlachtrösser, die Turnierspiele. Gott möge mir verzeihen«, sagte er leise, »aber selbst ich, ein Mönch, ein Mann des Friedens, liebte diesen Anblick. Erregende Zeiten! Der große Edward stellte seine Truppen für den Krieg in Frankreich auf, und als die Nachricht vom großen Sieg bei Crecy durch das Land brandete, da wurden die Ritter vom Schwan zu Helden der ganzen Gegend.« Er sah Sir John an. »Gewiß, Mylord Coroner, gab es so etwas doch auch in London?«
»Aye, das gab es.« Cranston setzte sich auf die Bettkante, und ein verträumter Ausdruck lag in seinen Augen. »Ich war genauso«, murmelte er. Dann sah er, wie Coverdale grinste. »Der Schein trügt oft, merkt Euch das, junger Mann.« Er klopfte auf seinen mächtigen Wanst. »Ich war einmal rank und schlank wie ein Windhund, gewandt und schnell wie ein Jagdfalke.« Athelstan schob die Hände in die Ärmel und senkte den Kopf, um sein Lächeln zu verbergen.
»Es gab große Turniere auf der London Bridge und in Smithfield«, fuhr Cranston fort und drohte Coverdale mit erhobenem Zeigefinger. »Und wir waren nicht wie die jungen Grünspechte, die heutzutage in London herumstolzieren mit ihren Geckenhosen und den lächerlichen Schuhen. Das einzige, was an denen noch gewaltig ist, ist der Hosenlatz, und der ist meistens noch mit Stroh ausgestopft.«
»Aber Sir Miles«, sagte Athelstan, »Ihr erinnert Euch doch sicher auch an Lilleshall?«
Der Hauptmann hob jäh den Kopf. »Ich war noch ein Kind«, stotterte er.
»Aber Euer Vater hatte Land in Shropshire, in der Nähe von Market Drayton, auf dem Weg nach Woodcote Hall.«
Sir Miles errötete ein wenig, und seine Hände ließen den Schwertgriff fahren. Athelstan konnte nicht erkennen, ob er nur verlegen war oder ob er etwas zu verbergen hatte.
»War Euer Vater denn ein Ritter vom Schwan?« fragte Cranston. »Nein.« Coverdales Gesicht verfinsterte sich und wirkte nicht mehr jugendlich; sein grimmig verkniffener Mund gab ihm das Aussehen eines übellaunigen alten Mannes.
»Es war nicht als Kränkung gemeint«, sagte Cranston leise.
»Ich habe es auch nicht so aufgefaßt, Sir John. Das Landhaus meines Vaters war kaum mehr als eine Scheune; er starb, als ich jung war. Meine Mutter war kränklich. Wir hatten keine Zeit für Spiele und Turniere. Ich habe Shropshire als Knappe verlassen und im Seekrieg gegen die Spanier in Lord Montagues Gefolge gedient.« Coverdale rückte seinen Schwertgurt zurecht und setzte sich auf einen Schemel. »Die Ritter vom Schwan sagen mir nichts.«
»Kanntet Ihr Sir Oliver oder Sir Henry?« wollte Athelstan wissen. »Nur dem Namen nach. Aber das könnte ich auch über Ritter aus Norfolk oder Suffolk sagen.« Er hielt Athelstans Blick stand. »Ich bin John von Gaunts Gefolgsmann, im Frieden wie im Krieg. Ich trage seine Livree. Ich esse in seinem Haus.«
»Ihr hattet nichts übrig für diese Ritter?« fragte Cranston hartnäckig.
»Ich hörte sie im Kapitelhaus schnattern wie eine Gänseherde«, erwiderte Coverdale erbost. »Sie kritisieren den Regenten wegen des Kriegs gegen Frankreich, aber sie wollen keinen Penny bewilligen, um ihm zu helfen. Sie reden von schlechten Ernten, verdorbenen Früchten und sinkenden Profiten, aber sie binden ihre Pächter mit Gewalt und mit Hilfe der Gerichte ans Land. Nein, ich habe nichts übrig für sie, Sir John.«
»Und wenn Ihr Regent wäret?«
»Dann würde ich nicht die Bauern mit Steuern belasten, sondern die reichen Ritter und fetten Kaufleute, und wer sich weigert, zu zahlen, den würde ich Verräter nennen.«
Athelstan sah zu Pater Benedict hinüber, aber der Mönch saß da wie eine Statue; nur seine Augen blickten beunruhigt und erschrocken über Sir Miles’ Drohungen.
»Seid Ihr da, um die Commons zu bewachen?« fragte Cranston, dem die Sache allmählich Spaß machte. »Oder seid Ihr der Spitzel des Regenten?«
Coverdales Hand legte sich auf den Knauf seines Schwertes. Cranston war trotz seiner Leibesfülle mit unverhoffter Behendigkeit bei ihm.
»Macht keine Dummheiten«, sagte er leise und ragte vor dem jungen Ritter auf. »Ich wollte Euch nicht beleidigen; ich habe die Dinge nur beschrieben, wie sie sind.«
»Und ich habe Euch bereits wahrheitsgemäß geantwortet, Sir John«, antwortete Coverdale. »Ich habe mit meinen Soldaten und Bogenschützen dafür zu sorgen, daß die Commons in Frieden und Sicherheit tagen können. Es muß mir nicht gefallen, was ich da höre, aber ich hege keinen Groll gegen sie.«
»Und Ihr seid von Anfang an dabei gewesen?« warf Athelstan rasch ein.
»Ja. Das Kapitelhaus und die Zugänge wurden abgesperrt und von mir und meinen Männern bewacht. Bevor das Parlament eröffnet wurde, war ich überdies dafür zuständig, die Barken zu mieten, mit denen die Abgeordneten flußaufwärts gefahren wurden, damit sie sich die Menagerie des Königs im Tower anschauen konnten.« Coverdale entspannte sich wieder. »Sie waren wie Kinder«, fügte er hinzu. »Viele von ihnen hatten noch nie einen Löwen oder einen Panther gesehen, oder den großen braunen Bären, den der Regent dort untergebracht hat.« Er sah Cranston an. »Und jawohl, Sir John, ich bewache ihre zarte Haut und höre mir ihr Geschwätz an. Einige von denen sollten ihre Zunge lieber im Zaum halten, denn was sie sagen, berichte ich dem Regenten. Genau wie Ihr es tun werdet, wenn diese Angelegenheit erledigt ist.«
»Hattet Ihr irgendwann einmal ein Gespräch mit Sir Oliver Bouchon oder mit Sir Henry Swynford? Oder mit einem aus ihrer Gruppe?« fragte Athelstan.
»Nein«, sagte Coverdale.
»Und Ihr seid zum ersten Mal hier im Wirtshaus ›Zum Ungeheuer?«
»Natürlich. Meine Aufgabe ist es, in den Kreuzgängen für Sicherheit zu sorgen, während das Parlament tagt. Mit Sir Oliver und seinesgleichen habe ich so wenig wie möglich zu schaffen.«
»Und Ihr, Pater Benedict?« fragte Cranston.
Der Mönch zog die Brauen hoch. »Ich lese zu Beginn jedes Tages die Messe in der Abtei. Außerdem stehe ich denen zur Verfügung, die beichten wollen.« Er lächelte säuerlich. »Und bevor Ihr fragt, Sir John: Das ist keine anstrengende Arbeit. Viele der Abgeordneten trinken abends große Mengen, von ihren anderen Vergnügungen ganz zu schweigen.«
»Ich finde es merkwürdig«, sagte Athelstan, »daß ausgerechnet zwei Ritter aus Shropshire brutal ermordet werden, während das Parlament im Kapitelhaus zu Westminster tagt.«
»Was ist daran merkwürdig« fragte Coverdale ungehalten. »Der Hauptmann der Garde kommt auch aus Shropshire, und der Kaplan hatte einen guten Freund, der in Lilleshall Abbey gedient hat, nicht weit von Shrewsbury in derselben Grafschaft.«
»Daran ist nichts Merkwürdiges«, sagte Pater Benedict sofort. »Wenn du zum Kapitelhaus gehst, Bruder, dann wirst du sehen, daß es von einer Kompanie Bogenschützen aus Cheshire bewacht wird. Sir Miles ist in Shropshire geboren, aber das sind viele im Gefolge von Lord Gaunt. Wie du weißt, hat der Regent dort Ländereien, und die Männer aus der Gegend stehen hoch in seiner Gunst. Was mich betrifft - wenn du den Vater Abt befragst, wird er dir erzählen, daß ich nicht der einzige Mönch bin, der Beziehungen zu unserer Gemeinschaft in Lilleshall unterhält. Ich bin Bibliothekar und Archivar, und ich habe ähnliche Verbindungen zu unseren Häusern in Norfolk, Yorkshire und Somerset. Was wichtiger ist: Als der Vater Abt einen Freiwilligen suchte, der als Kaplan bei den Commons dienen wollte, da war ich der einzige, der seine Dienste anbot, weil das Kapitelhaus in der Nähe der Bibliothek ist und zu meinem Zuständigkeitsbereich gehört.«
Athelstan musterte ihn kühl. »Hast du je mit einem der Toten gesprochen?«
»Nein.« Der Mönch wandte seinen Blick allzu schnell ab. Er leckte sich die Lippen und schluckte heftig.
Du lügst, dachte Athelstan; du hast etwas zu verbergen. Wieso sollte ein alter Mönch, krank an Rheumatismus und Arthritis, in ein Gasthaus kommen, um bei den Leichen zweier Männer zu beten, die er kaum kannte? Solche Gebete wären an irgendeinem Seitenaltar oder in einer Kapelle der Abteikirche nicht minder wirkungsvoll gewesen.
Pater Benedict warf Sir Miles einen Blick zu. »Die Zeit vergeht«, murmelte er. »Ich habe noch Pflichten hier.«
Cranston erhob sich und trank laut schlürfend aus seinem Weinschlauch; dann schaute er strahlend in die Runde. »Ah, das ist schon besser. Pater Benedict, es war mir eine Freude, Euch kennenzulemen, wenngleich ich die Umstände bedauern muß.« Gern hätte der Coroner noch hinzugefügt, daß er noch nie von zwei Mordopfem gehört habe, denen die Aufmerksamkeit so vieler Pfaffen zuteil geworden sei. Aber wie Athelstan, hatte auch er bemerkt, daß hier gelogen worden war. Es würden sich andere Gelegenheiten bieten, der Sache weiter auf den Grund zu gehen.
Sir Miles erhob sich ebenfalls und warf sich schwungvoll den großen Militärmantel über die Schultern.
»Wir sollten uns beeilen«, knurrte Cranston. »Komm schon, Bruder.«
Sie verabschiedeten sich von dem Mönch und gingen mit dem Hauptmann hinunter in den Schankraum.
»Richte Master Banyard unseren Dank aus«, flüsterte Athelstan Christina zu, als Cranston und Coverdale vor ihm hinausrauschten.
Das Mädchen lächelte, aber Athelstan sah die Angst in ihrem Blick. Er nahm ihre Hand. »Was ist denn, Kind?«
»Nichts, Pater. Es ist bloß diese schreckliche Stimme. Wird er wiederkommen?«
Athelstan schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Aber wenn dir noch etwas einfällt, schickst du eine Nachricht an Sir John im Rathaus.«
Das Mädchen versprach es, und Athelstan eilte seinen beiden Gefährten nach. Sie wanderten durch schmale Gassen zum Gelände der Westminster Abbey. Ein Mann, der gleich hinter dem Tor im Schatten einer großen Eiche wartete, sah ihnen nach: dem Ordensbruder, dem Soldaten und dem beleibten Coroner.
»Tag der Rache Tag der Sünden«, flüsterte der Beobachter, »wird das Weltall sich entzünden …«