Während Atheisten und Cranston den Gasthof »Zum Ungeheuer« verließen, war Ranulf, der Rattenfänger, unterwegs zu einem großen, verlassenen Haus an der Ecke der Reeking Alley in Southwark. Dort angekommen, schloß er die Tür auf und versperrte sie hinter sich sorgfältig mit dem Schlüssel, den der Kaufmann ihm gegeben hatte. Er stellte seine beiden Käfige auf den Boden und setzte sich mit dem Rücken zur Tür auf den Boden. Dann wischte er sich das Gesicht mit einem Lappen ab, der an seinem Gürtel befestigt war. An diesem breiten Ledergürtel hingen all die Werkzeuge seines Gewerbes: kleine Käfige, Meißel, Hämmer und ein großer Ledersack für die Nager, die er gefangen und getötet hatte.
»Ah, so ist es besser«, murmelte Ranulf. Er schob sich die schwarz geteerte Haube aus dem blaßrosa Gesicht. »Ich bin ein glücklicher Mann«, erklärte er, und seine Stimme hallte gespenstisch durch das leere Haus. Er spähte die lange, staubige Treppe hinauf und lauschte mit halb geschlossenen Augen entzückt dem Geraschel und Gequieke hinter der Wandtäfelung und unter den Dielen. Solche Laute waren stets Musik in seinen Ohren.
»Ratten!« hatte der Kaufmann, der das Haus kürzlich gekauft hatte, gebrüllt. »Das Haus ist verseucht von ihnen - schwarze, braune und dazu Sorten, wie ich sie noch nie gesehen habe.« Er hatte den Finger in Ranulfs Teerjacke gebohrt. »Zehn Pfund Sterling! Ich bezahle dir zehn Pfund Sterling, wenn du das Haus von den Ratten befreist. Drei jetzt, drei, wenn du es getan hast, und den Rest, wenn mein Verwalter alles inspiziert hat.«
Zehn Pfund!« Ranulf schnappte nach Luft.
Ranulf öffnete die Augen. Ranulf war Witwer, aber er hatte eine umfangreiche Kinderschar; alle waren gekleidet wie ihr Vater und sahen aus wie er, und ihr Appetit und ihr stetiges Wachsen bereiteten ihm ständig Sorgen. Aber das warme Wetter war gut für Ranulf gewesen. Es gab wieder Ratten in London, und das Verschwinden der Katzen von der Cheapside bedeutete, daß ihre Zahl sich vervielfacht hatte. Der Rattenfänger war ein gesuchter Mann, und der Haufen Silber und Gold, den er bei einem Goldschmied in Lothbury sorgsam verstaut hatte, wuchs stetig. Aus dem Augenwinkel sah er eine kleine, schwarze, pelzige Gestalt, die über die Bodendielen huschte, und lächelte selig. »Andere mögen euch verfluchen«, flüsterte er in die Dunkelheit, »aber Ranulf dankt Gott jeden Morgen in der Kirche für die Ratten.«
Er legte einen Finger an die Lippen. Würde es im Himmel wohl Ratten geben? Und wenn ja, würde er sie fangen dürfen? Aber wie konnte es im Himmel Ratten geben? Bruder Athelstan hatte ihm erzählt, der Himmel sei ein wunderschöner Ort, und Ratten gab es nur, wo Dreck und Abfall waren. Ranulf hatte gründlich darüber nachgedacht. Er hatte die Frage sogar bei der letzten Zusammenkunft der Gilde der Rattenfänger zur Sprache gebracht, als sie in der Schenke »Zum Gescheckten« gesessen hatten. Keiner seiner Kollegen hatte eine Antwort gewußt.
»Da mußt du Bruder Athelstan fragen« , hatte Bardolph gemeint; er verstand sich besonders darauf, in Glockentürmen die Fledermäuse zu fangen.
Ranulf hatte die Lippen geschürzt und genickt. Die Gilde würde demnächst ihre eigene Messe in St. Erconwald feiern, und dann könnten sie Bruder Athelstan fragen; er wußte immer eine Antwort, auch wenn Ranulf sich manchmal fragte, ob der kleine Ordensbruder sich mit seinen sanften, spöttischen Antworten nicht über ihn lustig machte.
Wieder rannte weiter unten im düsteren Korridor eine dunkle Gestalt über die Dielen. Ranulf betrachtete die beiden Frettchen, die er mitgebracht hatte: Ferrox, seinen Liebling, und dessen jüngeren Bruder Audax. Er hob Ferrox’ Käfig hoch und schaute in die kleinen, schwarzen Knopfaugen über der zuckenden Schnauze.
»Keine Sorge«, murmelte er, »die Jagd geht gleich los. Laß Daddy nur erst zu Atem kommen.«
Wenn ein Frettchen lächeln konnte, dann tat Ferrox es - dessen war Ranulf sicher. Der Rattenfänger stellte den Käfig hin und betrachtete die Stäubchen, die in dem Sonnenstrahl tanzten, der durch ein kleines Fenster an der Treppe über ihm hereinfiel. »Wenn ich nur Bonaventura kaufen könnte«, murmelte er. Ranulf hatte eine Vision von der vereinigten Macht dieser drei: Bonaventura, Ferrox und Audax. Eine unheilige Dreifaltigkeit, die da über die Rattenbevölkerung von Southwark kommen würde. Athelstan aber war widerspenstig.
»Bonaventura könnte dein Frettchen totbeißen«, hatte der Ordensbruder gewarnt.
Ranulf hatte heftig widersprochen. »Nein, Bruder, gegen Ratten tun sie sich immer zusammen. Ratten sind ihr gemeinsamer Feind. Außerdem gibt’s keine Katze auf der ganzen Welt, die es mit dem alten Ferrox aufnehmen konnte.«
»Wenn das so ist, Ranulf«, hatte Athelstan geantwortet, »dann denke an das Zehnte Gebot. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut, nicht sein Vieh und in diesem Falle auch nicht seine Katze.«
Ranulf lächelte. Daran würde er sich erinnern, wenn Bardolph das nächste Mal fragte, ob er Ferrox borgen dürfe. Sein Gesicht wurde ernst. Er war von der anderen Seite des Flusses zurückgekommen; er hatte gehört, daß noch mehr Katzen von der Straße weg gestohlen worden waren und daß der große »Roßzermalmer« Sir John Cranston die Übeltäter jetzt verfolgte.
»Der alte Fettarsch wird sie schon fangen«, flüsterte Ranulf. »Aber Bruder Athelstan sollte wegen Bonaventura auf der Hut sein. Unser kleiner Bruder liebt seinen Kater ja wirklich.«
Hatte Athelstan nicht sogar einmal gesagt, Bonaventura sei das einzige unter all seinen Pfarrkindem, das ganz bestimmt in den Himmel kommen würde? Und dann hatte er noch gescherzt, sein Haustier sei wirklich und wahrhaftig »katholisch«.
Ranulf beobachtete Ferrox, der inzwischen großes Interesse an dem Quieken und Rascheln hinter der Täfelung zeigte.
»Es sind viele seltsame Dinge im Gange, Ferrox, mein Sohn«, flüsterte Ranulf. »Perline Brasenose, unser junger Soldat, ist ebenfalls verschwunden, und bei St. Erconwald hat man einen Dämon gesehen.«
Ranulf öffnete die Schließe am Kragen seiner Jacke und wischte sich mit den Fingern den Schweiß ab. Ob diese beiden Dinge zusammenhingen? Oder sogar alle drei Geheimnisse? Perline war ein Flegel, ein großmäuliger Bengel. War er aus der Garnison im Tower desertiert, um sich als Katzendieb zu betätigen? Aber an wen wollte er die Tiere verkaufen? An die Gerber wegen der Felle? Oder an die Metzger wegen des Fleisches? Ranulf schüttelte den Kopf: Das wäre gefährlich. Die Kaufleute würden solche Geschäfte nur machen, um den armen Perline dann an Cranston auszuliefem und die Belohnung einzustreichen. Oder machte Perline den Dämon? Eine ganz ähnliche Rolle hatte er am letzten Erntefest im Mysterienspiel in der Pfarrgemeinde gespielt. Ranulf beglückwünschte sich zu seinem Scharfsinn und rappelte sich auf. Ferrox und Audax fingen an zu quieken; sie drehten sich in ihren Käfigen und drückten die Schnauzen an die Gitter. Ja, ihre Zeit war gekommen!
Ranulf war aufgestanden und wollte eben die Käfige aufheben, als er im oberen Stockwerk ein Geräusch hörte. Er mußte an den Dämon denken, und das Blut gefror ihm in den Adern. Rasch drückte er sich in eine kleine Kammer zur Rechten und merkte gleich, wie dunkel und feucht es hier war. Die Spinnweben in den Ecken sahen aus wie Netze, ausgespannt, um ihn zu fangen. Es roch furchtbar, und das alte Haus knarrte und stöhnte. Das Licht war schlecht, überall tanzten Schatten, und Ranulf fragte sich, ob er wirklich allein war.
»Unsinn!« flüsterte er.
In einer Ecke sah er ein kleines Loch. Er öffnete den Käfig und packte den dünnen, muskulösen Körper des Frettchens - und im Handumdrehen war Ferrox im Loch verschwunden. Ranulf kehrte in den Korridor zurück und ließ auch Audax frei.
»Jetzt beginnt der Tanz«, murmelte Ranulf, das war sein Lieblingssatz.
Er setzte sich wieder, schnürte das kleine Bündel auf, das er bei sich hatte, und aß seinen Imbiß aus Brot und Käse, den seine älteste Tochter ihm in ein Leintuch gewickelt hatte. Der Rattenfänger bemühte sich, seine Ohren vor allen Geräuschen zu verschließen und nur die beiden Frettchen zu hören, wie sie unter den Bodendielen ihr blutiges Massaker anrichteten. Immer wieder tauchten Ferrox und Audax auf und schleppten den Kadaver einer unglücklichen Ratte zwischen den spitzen Zähnen. Sie legten ihn ihrem Herrn vor die Füße und verschwanden wieder.
Ranulf fühlte sich von warmer Zufriedenheit durchströmt und biß tief in Brot und Käse. Plötzlich aber hörte er ein anderes Geräusch. Weder Ratte noch Frettchen konnten die Schritte machen, die er über sich im Korridor hörte. Jemand bewegte sich dort und schlich über die Bodendielen. Mit einem Stück Käse in der Hand stand Ranulf auf und ging zum Fuße der Treppe. Er spähte hinauf ins Halbdunkel und wäre fast an seinem Käse erstickt: Oben an der Treppe war der Dämon von St. Erconwald! Groß, dunkel und pelzig, mit gebleckten Zähnen und einem so schrecklichen Gesicht, daß Ranulf seine Frettchen vergaß und um sein Leben rannte.
*
Cranston und Athelstan folgten Sir Miles Coverdale durch den Jericho Parlour von Westminster Abbey, über den Dean’s Yard und am südlichen Kreuzgang vorbei zum Kapitelhaus. Immer wieder kamen sie an Bogenschützen aus Cheshire vorbei, prächtig anzusehen in ihrer grünen Livree mit den weißen Hirschen. Es waren Berufssoldaten aus den Garnisonen im Tower oder in Banyard’s Castle: kurzgeschnittenes Haar, dunkle, hagere Gesichter. Alle trugen Langbogen und einen Köcher mit zwanzig Pfeilen aus Eibenholz, dazu Schwert und Dolch. Schwerbewaffnete Fußsoldaten in der rot-blau-goldenen Livree des Königs bewachten außerdem jede Tür und jede Ecke.
»Warum so viele Soldaten«, fragte Cranston, als sie in den Kreuzgang einbogen.
»Seine Gnaden der Regent ist entschlossen, das Parlament unbehelligt tagen zu lassen«, erklärte Coverdale. »Niemand betritt Kreuzgang oder Kapitelhaus, der nicht entweder Abgeordneter ist oder einer der königlichen Schreiber, die den Auftrag haben, ihnen bei ihren Debatten zur Hand zu gehen.«
»Haben die Commons denn noch nie Einwände erhoben?« wollte Cranston wissen. »Mancher könnte doch behaupten, die Soldaten schüchterten ihn ein.«
»Aye, das könnte ein Wirrkopf behaupten, aber im Kapitelhaus selbst gibt es keine Soldaten, Sir John, und die braven Ritter und Bürger dürfen ungehindert kommen und gehen, wie es ihnen gefällt.«
Sie betraten den östlichen Kreuzgang, wo ein paar Mönche die Frühlingssonne nutzten und an ihren Pulten saßen, um Manuskripte zu kopieren oder zu illuminieren. Im Garten in der Mitte waren Soldaten beim Brettspiel, und ein paar plauderten mit den Mönchen.
»Den Brüdern ist unsere Anwesenheit jedenfalls willkommen«, stellte Coverdale fest.
»Das ist in jeder geschlossenen Gemeinschaft so«, bemerkte Atheisten. »Da ist man immer erpicht auf neue Gesichter und möchte über die Großen des Landes klatschen.«
Sie kamen ins Vestibül des Kapitelhauses. Bogenschützen standen vor der geschlossenen Doppeltür. Während einer von ihnen aufschloß, trat Atheisten zurück und bestaunte das prachtvoll gemeißelte steinerne Triptychon über der Tür, das Christus beim Jüngsten Gericht darstellte.
»Ich dachte, die Sitzung sei zu Ende«, sagte Cranston.
»Das ist sie auch, aber die Tür ist immer verschlossen«, antwortete Coverdale. »Die Abgeordneten brauchen nur zu klopfen, und man läßt sie ein oder aus. Jeder von ihnen besitzt ein besonderes Siegel oder einen Paß.« Er lächelte grimmig. »Unser Regent ist gründlich.«
Cranston widersprach nicht Durch das Vestibül gelangten sie in einen marmornen Korridor, der von Säulen aus Purbeck-Marmor gesäumt war. Kurz vor der zweiten Doppeltür blieb Atheisten stehen; er sah eine Treppe zur Linken, und rechts führte eine zweite Treppe in die Dunkelheit hinunter.
»Wo führen die hin?« fragte er.
»Nach oben geht es in die St. Faith-Kapelle«, sagte Coverdale. »Und über die Treppe nach unten kommt Ihr in die Monstranzkammer.«
Atheisten wollte nachfragen, aber Coverdale schnippte bereits mit den Fingern und bedeutete der Wache, sie solle die nächste Doppeltür aufschließen. Als die Flügel aufschwangen, konnten sie das eigentliche Kapitelhaus betreten. Es war leer; nur ein schütterhaariger, aufgeregter kleiner Mann mit gerötetem Gesicht stand am Rednerpult. Er kam hastig auf sie zu und fuchtelte mit den Armen.
»Ihr kommt zu spät! Ihr kommt zu spät!« rief er Coverdale zu. »Die ehrenwerten Abgeordneten aus Shropshire konnten nicht länger warten. Sie sind zu einer der Garküchen im Hof der Abtei gegangen.« Er ruckte mit dem Kopf zurück und erinnerte Cranston an einen lärmenden, geschäftigen Spatzen. »Ihr dürft solche Männer nicht warten lassen«, blökte er.
»Ihr den Coroner des Königs aber auch nicht«, versetzte Cranston. »Wer seid Ihr überhaupt?«
»Sir Peter de la Mare, Sprecher der Commons. Sir Miles, was ist denn hier los?«
Coverdale machte ihn mit Cranston und Athelstan bekannt, und de la Mare zeigte sich gleich unterwürfiger. »Nun, wartet hier«, plapperte er weiter. »Ich will sehen, was ich tun kann, ich will sehen, was ich tun kann.« Und damit watschelte er davon. Athelstan sah sich im Kapitelhaus um. »Gütiger Himmel!« rief er aus. »Seht doch, Sir John, was für ein schönes Gebäude.«
Der Saal war achteckig und von hohen Fenstern umgeben, die den Eindruck großer Helligkeit schufen und die Pracht des mächtigen Deckengewölbes beleuchteten. Das Gewölbe wurde von einer einzigen gedrungenen Säule getragen, und davor stand das große hölzerne Rednerpult.
»Wo sitzen die Abgeordneten?« fragte Athelstan.
Cranston deutete auf die drei Stufen, die sich um den ganzen Saal herumzogen.
»Da drüben«, sagte er. »Das Kapitelhaus bietet Platz für Hunderte.«
Athelstan nickte und betrachtete das wunderschöne Tympanum über der Tür, das Christus in all seiner Glorie darstellte. Der Heiland trug einen herrlichen karmesinroten Mantel, und um seinen Kopf leuchtete ein goldener Heiligenschein vor einem hellblauen Himmel. Zu beiden Seiten neigten weißgewandete Engel, ein jeder mit drei Flügelpaaren, anbetend die Köpfe. In den Fenstern und an den Wänden darunter waren weitere Bibelszenen zu sehen: die Vier Reiter der Apokalypse, das Große Tier im Kampf mit dem Erzengel Michael, der Heilige Johannes, wunderbar errettet aus einem Kessel voll kochendem Öl. Andere Bilder zeigten die Geretteten, wie sie selbstgerecht lächelten, während die Verdammten sich in Qualen schreiend wanden. »All das muß von den Engeln gebaut worden sein«, flüsterte Athelstan. »Seht doch nur, Sir John! Ich muß mit Huddle herkommen. Wenn er doch nur solche Szenen studieren könnte! Die Abgeordneten haben wirklich Glück, daß sie sich an einem solchen Ort versammeln können.«
»Es hilft ihnen wenig«, warf Coverdale schroff ein. »Sie hocken an der Wand entlang und brüllen und schreien durcheinander.«
»Aber sie tun doch sicher mehr als nur das?« meinte Athelstan. »Nun, der Sprecher hält Ordnung«, sagte Coverdale. »Er sitzt in der Mitte, unter dem Fenster. Er entscheidet, wer ans Rednerpult darf, und gibt seine Anweisungen. Und da drüben« - er deutete auf einen kleinen Tisch, auf dem Pergamentrollen lagen - »sitzen die Schreiber und Advokaten.«
Athelstan nickte. Er ging langsam herum, bewunderte die verschiedenen Szenen, die an die Wände gemalt waren, und trat hin und wieder ein paar Schritte zurück, um die Geschicklichkeit des Künstlers zu bestaunen. Als er Schritte im Vestibül hörte, hielt er inne. Die Tür wurde aufgestoßen, und eine Gruppe von Männern kam ins Kapitelhaus marschiert.
»Cranston.« Der Anführer war ein untersetzter, schmalgesichtiger Mann. Sein eisengraues Haar war bis hoch über die Ohren rasiert. Er blieb gleich in der Tür breitbeinig stehen und stemmte die Hände in die Hüften.
»Hier drüben«, gurrte Cranston. »Und wer, Sir, seid Ihr?«
»Sir Edmund Malmesbury, Abgeordneter der Commons von Shropshire. Wir haben auf Euch gewartet.« Malmesbury warf Coverdale einen verachtungsvollen Blick zu. »Aber wir sind vielbeschäftigte Leute. Wir müssen auch essen und trinken.«
»Aye, das müßt Ihr.« Cranston erhob sich ächzend, schob die Daumen hinter den Gürtel und watschelte hinüber. Eine Handbreit vor Malmesbury blieb er stehen.
»Wir haben uns verspätet, Sir Edmund.« Er lächelte. »Aber erlaubt, daß ich mich vorstelle: Sir John Cranston, Beamter des Königs und Coroner der Stadt London. Das ist Bruder Athelstan, mein Schreiber, und Coverdale kennt Ihr ja.« Cranston spähte um Malmesbury herum. »Und das sind Eure Kollegen?«
Die anderen traten vor: der rothaarige, stachelbärtige Sir Thomas Elontius mit seinen wilden, vorquellenden Augen, Sir Humphrey Aylebore, kahl wie ein Ei, fett und teigig, das glattrasierte Gesicht kraftlos und ziemlich wabbelig, Sir Maurice Goldingham, klein und adrett von Gestalt, das ölig schwarze Haar frisiert wie bei einem Pagen, und schließlich Sir Francis Hamett, schmächtig und blond, mit eng zusammenstehenden Augen. Sir Francis mit seinem braunen, glattrasierten Gesicht erinnerte Athelstan an einen Falken; er mußte daran denken, wie Moleskin erzählt hatte, daß Perline Brasenose sich an der Flußtreppe in Southwark mit diesem Ritter getroffen hatte, und der Ordensbruder fragte sich, was ein solcher Mann mit einem Heißsporn wie seinem jungen Pfarrkind zu tun haben mochte.
Cranston trat einen Schritt zurück, verbeugte sich und deutete auf die Stufen. »Meine edlen Herren, macht es Euch bequem -wir haben nur ein paar Fragen.«
Die fünf Ritter stolzierten hinüber und setzten sich auf eine Stufe. Sie taten es langsam und arrogant, und sie tuschelten dabei untereinander.
Pfauen, dachte Athelstan, mit aller Arroganz eines Luzifer. Man sah den Rittern an, was sie waren: erfolgreiche, abgehärtete Soldaten, Kaufleute und Männer von großer Bedeutung zu Hause in ihrer Grafschaft wie auch hier in London. Sie waren alle in teure Gewänder gekleidet, rot und golden, Scharlach oder grün, und an Saum und Ärmel allesamt mit Hermelin verbrämt und besetzt. Kostbare Gürtel umschlossen ihre dicken Bäuche über bunten Hosen und zierlich geschmückten Schuhen. Männer im mittleren Alter, aber mit allem Firlefanz von Hofgecken ausgestattet. Ihre Ärmel waren mit silbernen Glöckchen bestickt. Die Hemden unter den Gewändern waren aus kostbarem Batist, und juwelenbesetzte Spangen und Silberringe zierten ihre fleischigen Finger und Handgelenke. Keiner von ihnen war bewaffnet, von ihren Kostümdolchen abgesehen, die sie in bestickten Scheiden trugen.
Malmesbury war der Anführer, streitbar und aggressiv. Eine Zeitlang flüsterte er leise mit Sir Humphrey Aylebore, auf dessen fettem Gesicht ein boshaftes Lächeln erstrahlte, während er einen kurzen Blick zu Sir Miles Coverdale hinüberwarf. Athelstan spürte, daß zwischen diesen mächtigen Männern und John von Gaunts Offizier keinerlei Zuneigung bestand. Elontius pfiff leise vor sich hin. Goldingham, der offenbar zuviel getrunken hatte, saß mit halbgeschlossenen Augen zurückgelehnt da, während Hamett sich sehr für die Wandgemälde zu interessieren schien.
Athelstan stand bei dem Rednerpult und fragte sich, wie Sir John wohl mit diesen Männern umgehen würde, die so anders waren als die Gauner, Betrüger und Spitzbuben von der Cheapside. Der Ordensbruder betete bei sich, der Coroner möge nicht gleich aus der Haut fahren; und hoffentlich hatte er seinem wunderbaren Weinschlauch noch nicht allzusehr zugesprochen. Über ihnen begannen die Glocken der Abtei zu läuten; sie riefen die Mönche zum Gebet, und ihr Klang hallte durch die weitläufigen Kreuzgänge. Cranston legte den Kopf schräg, als sei das Geläute interessanter als die Bosheit Malmesburys und seiner Gefährten. Das Läuten hörte auf, aber die Ritter flüsterten weiter miteinander, während Cranston anfing, den Amtsring an seinem Finger zu bewundern. Endlich hörte das Geflüster auf, aber Cranston hob noch immer nicht den Kopf. Athelstan umklammerte die Kante des Rednerpults, und das Schweigen wurde immer bedrückender.
»Nun gut, Mylord Coroner.« Malmesbury erhob sich. »Ihr habt uns hergerufen.« Er schlug sich die Handschuhe klatschend an den Schenkel. »Wenn Ihr keine Fragen habt, dann gehen wir jetzt. Ich darf Euch daran erinnern, Coroner, daß wir nicht Eurer Jurisdiktion unterstehen: Abgeordnete der Commons können nicht auf Grund irgendwelcher dummen Verwaltungsvorschriften verhaftet werden.« Er schaute auf seine Kollegen hinunter, die zustimmendes Gemurmel erhoben.
»Sehr hübsch gesagt.« Cranston stand auf und trat neben Athelstan. Er deutete zur Tür. »Ihr könnt alle gehen, wenn Ihr wollt. Sir Edmund hat völlig recht. Ich habe hier keinerlei Gewaltbefugnis. Aber ich möchte Euch an ein paar juristische Kleinigkeiten erinnern. Erstens: Zwei von Euch, Abgeordnete der Commons, sind niederträchtig ermordet worden. Das ist ein Angriff gegen die Autorität der Krone. Und damit meine ich nicht den Regenten, sondern Richard, den König von England, dessen Beamter ich bin. Die Anwälte des Kanzleigerichts möchten wohl außerdem zu bedenken geben, daß ein Angriff gegen meine Autorität einem Angriff gegen die Krone gleichzusetzen ist Das jedoch« - Cranston lächelte - »müßten die Richter des Königs entscheiden; es könnte lange dauern und Eure Rückkehr von Shropshire nach London erforderlich machen. Und zweitens: Ihr seid geschützt, solange das Parlament tagt. Wenn es aufgelöst wird - und es wird aufgelöst werden, ganz gleich, was passiert -, dann werde ich auf der Stelle Haftbefehle wegen Mordverdachts gegen Euch erlassen.«
»Das ist doch lächerlich!« prustete Goldingham und sprang auf. »Wollt Ihr uns des Mordes an unseren beiden Kollegen bezichtigen?«
»Ich sprach von einem Verdacht, welcher auf der äußerst triftigen juristischen Tatsache beruht, daß Ihr Euch weigert, die Fragen eines königlichen Beamten zu beantworten.«
»Aber wir haben mit diesen Todesfällen nichts zu tun«, rief Thomas Elontius. Er war puterrot im Gesicht, und seine Augen quollen so weit aus den Höhlen, daß Athelstan befürchtete, sie könnten ganz herausfallen.
Cranston lächelte. »Sehr gut«, schnurrte er. »In diesem Fall werdet Ihr ja nichts dagegen haben, ein paar einfache Fragen zu beantworten.«
Goldingham ließ sich wieder auf die Stufe zurücksinken. »Macht schon«, knurrte er.
»Gut. Am vergangenen Montag …«
»Wartet noch.« Hamett deutete auf Coverdale. »Muß er dabei sein?«
»Ja, das muß er. Wenn er geht, gehe ich auch«, antwortete Cranston. »Sir Miles, entspannt Euch. Setzt Euch. Es wird nicht lange dauern.«
Cranston hielt inne, um sich mit dem Saum seines Mantels das Gesicht zu betupfen; dabei warf er Athelstan einen Blick zu und zwinkerte. Der Ordensbruder trat vor. Er schob die Hände in die Armei seiner Kutte und ging auf die Ritter zu. Sie beobachteten ihn neugierig.
»Mylords«, begann er, »am Montag abend verließ Sir Oliver Bouchon ein Bankett im Gasthof ›Zum Ungeheuer‹, an dem Ihr alle teilnahmt. Zeugenaussagen zufolge machte Bouchon einen bedrängten, bedrückten Eindruck. Er kehrte nicht mehr zurück. Später fand man seinen Leichnam im Schilf am Flußufer bei Tothill Fields.«
»Und?« fragte Malmesbury. Er beobachtete Athelstan, wie wenn Bonaventura eine Maus im Auge behielt.
»Warum war Sir Oliver so bestürzt?«
Die Ritter starrten ihn stumm an.
»Hat er Euch gesagt, wohin er wollte?«
Wieder schwiegen alle.
»Hat er Euch erzählt, daß er eine Pfeilspitze, eine Kerze und ein Stück Pergament mit dem Wort ›Memento‹ erhalten hatte?«
»Er hat uns überhaupt nichts erzählt«, antwortete Malmesbury.
»Ist es nicht so, Mylords?« Er äffte Athelstans Rede nach und grinste seine Kollegen an.
»Wir haben uns darüber unterhalten.« Elontius kratzte sich den roten, struppigen Bart. Aus der Nähe sah er nicht mehr so wild aus, und Athelstan entdeckte eine gewisse Sanftmut in den vorquellenden Augen des Mannes. »Bruder, es war nicht unsere Absicht, Euch oder Sir John zu beleidigen«, fuhr er fort. »Aber wir wissen nichts über Sir Olivers Tod - Gott schenke ihm die ewige Ruhe. Ja, er war still. Ja, er verließ den Gasthof. Und das war das letzte, was wir von ihm gesehen haben.«
»Ihr wißt also keinerlei mögliche Erklärung für seinen Tod? Weshalb hätte ihm jemand diese Pfeilspitze und die anderen Gegenstände schicken sollen? Und warum hätte ihm jemand nach dem Leben trachten können?«
Diesmal bestritten alle im Chor, irgend etwas zu wissen. Athelstan schaute auf den gefliesten Boden und fuhr mit der Spitze seiner Sandale über die gemalten Lilien dort.
»Und später an jenem Abend, Mylords?« Er hob den Kopf wieder. »Ihr habt noch anderswo Unterhaltung gesucht?«
»Das stimmt«, antwortete Goldingham patzig. »Wir suchten noch ein wenig, äh - Unterhaltung in Dame Mathildas Konvent in der Cottemore Lane.«
Hamett fing an zu kichern. Elontius sah ein bißchen verlegen aus. Aylebore grinste spöttisch, aber Malmesbury behielt Athelstan aufmerksam im Auge, und allmählich fragte der Ordensbruder sich, wo er Sir Edmund schon einmal gesehen hatte. »Ihr seid also in ein Bordell gegangen.« Cranston kam herüber. »Das ist es, was Dame Mathilda führt: ein Dirnenhaus für Männer, die fern von ihren Frauen sind.« Cranston stand breitbeinig vor den Rittern, und seine blauen Augen funkelten sie eisig an. Er schüttelte den Kopf und drohte ihnen mit dem Finger. »Die Sache ist nicht zum Lachen. Was wird wohl geschehen, wenn die Morde nicht aufgeklärt werden und ich nach Shrewsbury kommen muß, um Euch diese Fragen vor Euren Gemahlinnen zu stellen?«
»Das dürfte ziemlich schwierig werden«, prustete Goldingham. »Meine ist nämlich tot.«
»Wenn dem so ist, Sir, muß man sie glücklich preisen.« Goldinghams Hand flog zu seinem Dolch.
»Wieso zieht Ihr ihn nicht?« spottete Cranston. »Oder, besser noch, Sir Maurice, schlagt mir doch Euren Handschuh ins Gesicht. Ich kann immer noch ein Schlachtroß besteigen und eine Lanze führen. Ich ziele gut, und meine Hand ist noch genauso ruhig wie damals, als ich für den Schwarzen Prinzen kämpfte.«
Malmesbury drehte sich um und packte Goldingham bei der Schulter. »Sir John, wir bitten Euch um Entschuldigung. Euch ebenfalls, Bruder Athelstan. Ich will für die anderen Rechenschaft ablegen, und sie können mir dann widersprechen, wenn sie wollen. Sir Oliver verließ an jenem Abend die Schenke und kam nicht mehr zurück. Keiner von uns wußte, was ihm solche Sorgen bereitete. Freilich versuchten wir ihn aufzumuntem, aber er war in tiefe Melancholie versunken. Nach dem Essen brachte unser braver Wirt uns zum Haus der Dame Mathilda in der Cottemore Lane. Dort blieben wir alle bis in die frühen Morgenstunden; dann kamen wir zurück« - er lächelte gezwungen - »und waren ziemlich betrunken. Natürlich waren wir alle entsetzt über Sir Olivers Tod, aber London ist ja voll von Strauchdieben.« Seine Worte bekamen einen sarkastischen Unterton. »Wie wir hören, sind Überfälle an der Tagesordnung.« Athelstan musterte nacheinander die Gesichter. Du lügst, dachte er. Ihr habt zusammengesessen und euch diese Geschichte ausgedacht. Wenn Sir John und ich euch einzeln befragen wollten, würde jeder von euch das gleiche Lied zwitschern.
»Das gleiche gilt für Swynfords Tod.« Es war Hamett, der sich zu Wort meldete.
Atheisten entging das Beben in seiner Stimme nicht, und auch nicht das rasche Flackern in seinem Blick. Er beschloß, Sir Francis bei nächster Gelegenheit zu fragen, was er an der Flußtreppe zu suchen gehabt hatte.
»Ja, ja.« Cranston trat an das Rednerpult und sah sich nach Coverdale um. Der junge Hauptmann hatte es sich auf der Stufe bequem gemacht. In seinen Augen loderte solcher Haß, daß Cranston sich fragte, ob es klug gewesen war, Gaunts Gefolgsmann dabeisein zu lassen.
»Ich nehme an«, fuhr Atheisten jetzt müde fort, »daß Swynfords Tod ebenfalls eine Überraschung und ein furchtbarer Schreck für Euch alle war, daß Ihr nicht wißt, weshalb ihm jemand eine Pfeilspitze, eine Kerze und ein Stück Pergament geschickt haben könnte, und daß Ihr letzte Nacht, als er ermordet wurde, alle mit Euren eigenen Angelegenheiten beschäftigt wart?«
»Ja, genauso ist es«, antwortete Malmesbury. »Nach der Nacht davor waren wir müde, und außerdem waren wir betrübt über Sir Olivers Tod. Also sind wir im Gasthaus ›Zum Ungeheuer‹ geblieben.«
»Und dafür habt Ihr Zeugen?«
»Ich war bei Sir Edmund«, erklärte Elontius. »Wir haben in seiner Kammer gewürfelt und über die Ereignisse gesprochen.«
»Und Ihr, Sir Humphrey?«
Aylebore zog eine Grimasse. »Ich habe mich früh zurückgezogen. Ich habe dem toten Sir Oliver die letzte Ehre erwiesen. Eine Zeitlang habe ich dann noch mit dem Wirt und mit Goldingham hier zusammengesessen. Dann habe ich die Schankstube verlassen und bin in meine Kammer gegangen. Daß etwas nicht stimmte, erfuhr ich erst, als der Wirt Alarm schlug. Ist es nicht so, Goldingham?«
Sir Maurice fuhr sich mit der Hand durch das adrett frisierte Haar.
»Es ist so, und der Wirt wird für mich bürgen. Wir haben über das Weingeschäft und die Überfälle der Franzosen auf unsere Koggen aus Bordeaux gesprochen. Dann ist er gegangen, und ich habe mit der reizenden Christina geschäkert.«
»Und hat einer von Euch den Priester kommen sehen?«
»Ich.« Das war wiederum Goldingham. »Es war ziemlich viel Betrieb im Gasthaus, und der Schankraum war voll. Ich wollte gerade nach Christinas Hand greifen, als die Tür aufging. Ich sah eine Gestalt im Kapuzenmantel.« Goldingham zuckte die Achseln. »Er kam herein, Christina sagte etwas zu ihm, und er ging die Treppe hinauf. Danach kann ich mich eigentlich an nichts weiter erinnern.« Er gähnte. »Ich ging hinauf, um mich zu Bett zu legen, und dann hörte ich den Wirt brüllen.«
»Hat jemand gesehen, wie der Priester fortging?« fragte Athelstan.
»Wie denn?« gab Malmesbury zurück. »Ich war bei Sir Thomas. Aylebore lag im Bett, Goldingham war in seiner Kammer. Daß Swynford tot war, erfuhren wir erst, als der Wirt schrie wie eine Magd.«
»Damit bleibt Ihr übrig, Sir Francis.« Athelstan lächelte Hamett an. »Wo wart Ihr letzte Nacht?«
»Ich war …« Die engstehenden Augen blinzelten. »Ich war die ganze Zeit in meiner Kammer.«
»Und am Abend zuvor?« fragte Athelstan.
Hamett öffnete den Mund, um zu lügen, aber das Schweigen seiner Kollegen verriet ihn. »Ich habe Dame Mathilda frühzeitig verlassen«, gestand er. »Ich bin dann hinunter zu den King’s Steps gegangen und habe mir einen Kahn gemietet.«
»Wohin wolltet Ihr? Sir Francis, bitte sagt die Wahrheit.«
»Nach Southwark ins Dirnenviertel, um dort ins Badehaus zu gehen.« Er schaute mit rotem Gesicht in die Runde, und seine Kollegen lachten hinter vorgehaltenen Händen.
»Ihr wart also noch nicht müde von den Anstrengungen des Abends?« fragte Athelstan trocken. »Sir Francis, ich bin Pfarrer in St. Erconwald; die Badehäuser am Fluß sind berüchtigte Bordelle.«
»Ach?« Hamett hob den Kopf und schürzte die Lippen. »Ich bin dort hingegangen, um mich zu erfrischen, Bruder, wie es wahrscheinlich viele Eurer Pfarrkinder tun.«
»Und dann seid Ihr zurückgekommen.« Athelstan ignorierte die Beleidigung.
»Ja, dann bin ich zurückgekommen.« Hamett zuckte die Achseln. »Was kann ich noch sagen?«
Ja, was? dachte Athelstan. Er lächelte, um sich die Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. Diese Leute logen, ja, sie machten sich über ihn lustig. Aber er oder Sir John konnten wenig tun, um sie zur Räson zu bringen. Cranston hatte sich inzwischen neben Coverdale gesetzt. Athelstan hustete laut, denn der Coroner war leicht vornüber gesunken, und seine Lider wurden ihm schwer. Oh, jetzt nicht einschlafen! betete Athelstan. Bitte, Sir John. Er hatte das Gefühl, daß sie auf schmalem, tückischem Pfad wandelten; der kleinste Ausrutscher, und diese mächtigen Herren würden in Hohngelächter ausbrechen. Sie würden erklären, daß sie nichts weiter zu sagen hätten, und hinausmarschieren, um weiter ihrem Vergnügen und anderem Zeitvertreib nachzugehen.
»Und Sir Henry Swynford?« Athelstan brüllte fast, als er sich umdrehte und auf die Abgeordneten zuging. Hoffentlich würde Sir John sich wieder aufrappeln. »Und Sir Henry«, wiederholte er ebenso laut, »hat nicht angedeutet, daß er die gleichen Gegenstände erhalten hatte wie Sir Oliver Bouchon?«
»Nein«, knurrte Aylebore, »und ich habe diese Sache allmählich satt, Bruder.«
»Keiner von Euch weiß also irgendeinen Grund, weshalb er ermordet worden sein könnte?«
»Wenn wir einen wüßten, würden wir es Euch sagen«, gab Malmesbury zurück.
»Woran sollten Sir Henry und Sir Oliver sich erinnern?« fragte Athelstan.
»Wenn wir es wüßten«, erwiderte Sir Edmund sarkastisch, »wüßtet Ihr es auch.«
»Ihr wart alle miteinander befreundet?«
»Eher Kollegen und Nachbarn«, antwortete Aylebore.
»Aber Ihr wart alle Ritter vom Schwan«, stellte Athelstan fest.
Zum ersten Mal sah er, daß die Maske verrutschte. Malmesbury zuckte zusammen, und seine Kollegen wurden ebenfalls unruhig.
»Das ist viele Jahre her«, murmelte Malmesbury. »Die Torheit der Jugend, Bruder Athelstan. Aber die Zeit geht weiter. Die Menschen verändern sich, und wir tun es auch.«
»Die edle Bruderschaft der Ritter vom Schwan gibt es also nicht mehr?« fragte Athelstan.
»Sie ist einfach gestorben.«
»Als die Freundschaft zwischen Euch starb?«
»Bruder«, sagte Sir Humphrey Aylebore warnend, »Ihr werdet allmählich unverschämt.«
»Bruder Athelstan«, warf Sir Thomas Elontius freundlich ein, »wir wohnen alle in derselben Grafschaft. Wir haben in denselben Schlachten gekämpft. Wir sind durch Heirat miteinander verwandt. Wir treffen uns zum Turnier oder zur Jagd. Wir lachen zusammen auf Hochzeiten und trauern gemeinsam bei Beerdigungen. Wir haben unsere Auseinandersetzungen, aber nichts, was einen von uns zum Mord treiben könnte.«
Du bist wie Sir John, dachte Athelstan und sah Elontius an; deinen roten Haaren und deinem gesträubten Bart zum Trotz bist du ein gutherziger Mann.
Sir Thomas hielt seinem Blick stand. »Wir wissen nicht, Bruder«, flüsterte er heiser, »weshalb diese beiden braven Ritter so ruchlos ermordet worden sind.«
»Und die roten Kreuze, die man den Toten in die Gesichter geritzt hat?«
»Auch darüber wissen wir nichts«, schnarrte Malmesbury. Cranston erhob sich ächzend von der Treppenstufe und bewegte sich schwerfällig durch den Saal. »Wenn das so ist, wird mein Sekretär alles aufschreiben, was Ihr uns erzählt habt. Ihr seid unschuldig in dieser Sache. Ihr wißt nichts, was uns weiterhelfen könnte. Seid Ihr bereit, das auf Euren Eid zu nehmen?«
»Zeigt uns die Heilige Schrift«, sagte Goldingham höhnisch, »und ich nehme es auf meinen Eid.«
»Wenn das so ist…« Cranston sah sich nach Coverdale um. »Festina lente«, mahnte Sir Maurice Goldingham. »Eile mit Weile, Mylord Coroner.« Er spreizte die fetten Hände. »Wir haben hier gesessen und Eure Fragen beantwortet, aber die Tatsache bleibt bestehen, daß zwei unserer Kampfgenossen ruchlos ermordet wurden. Ihr und Euer Schreiber kommt her und deutet durch Eure Fragen an, daß einer von uns oder wir alle diese Morde begangen haben könnten. Aber« - Goldingham erhob sich und winkte ab, als Malmesbury warnend die Hand erhob -»diese Männer wurden in London ermordet, in Eurem Zuständigkeitsbereich, Mylord Coroner. Und beide haben sich, genau wie wir alle, entschieden gegen den Regenten und seine neuen Steuerforderungen ausgesprochen.« Goldingham stieß Cranston seinen Wurstfinger gegen die Brust. »Inzwischen tuschelt man schon, daß sie vielleicht von Leuten ermordet wurden, denen unsere offene Sprache nicht gefällt.« Sein Finger drückte noch kräftiger zu, aber Cranston wich keinen Zollbreit.
»Diese Männer waren unsere Freunde«, fuhr Goldingham heiser fort. »Ihr Blut schreit zum Himmel um Rache. Euch schickt der Regent; also sage ich Euch Folgendes: Wenn diese Morde nicht aufgeklärt werden und der Mörder nicht gefaßt wird, dann werde ich selbst an dieses Rednerpult treten und vor dem Parlament verkünden, daß Mörder frei herumlaufen, weil gewisse Beamte des Königs unfähig sind, sie zu fangen, und daß man solche Beamte deshalb entlassen sollte.«
Cranston packte den Finger des Edelmanns und quetschte ihn, bis Goldingham das Gesicht verzog. »Ich habe Euch gehört, Sir Maurice«, sagte der Coroner, »und ich sage, Ihr seid ein Narr. Ich will ebenfalls zweierlei schwören. Erstens, ich werde diesen Mörder fangen und ihn hängen sehen, und man wird ihn aufschneiden, vierteilen und ausweiden.« Er hob seine Stimme. »Und zweitens, der Tod dieser beiden Männer mag geheimnisumwoben sein, aber Ihr seid allesamt Narren, wenn Ihr glaubt, daß sie die letzten Toten sein werden.«