Gott sei Dank, daß wir endlich draußen sind!«
Cranston und Athelstan standen im Hof vor dem großen Portal der Abtei. Sie hatten die Abgeordneten im Kapitelhaus zurückgelassen; Cranston hatte nicht abgewartet, was sie zu seiner Warnung zu sagen hatten. Er hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und war hinausmarschiert, und Athelstan und Coverdale waren ihm gefolgt. Gaunts Gardehauptmann hatte breit gegrinst, als er gesehen hatte, wie Cranston mit diesen mächtigen Männern umgesprungen war. Er hatte die beiden durch die Postenreihe gebracht, aber dann war er so erpicht darauf gewesen, sich am Unbehagen der Abgeordneten zu weiden, daß er sich in aller Hast von Athelstan verabschiedet hatte.
»Hab ich’s richtig gemacht?« Cranston atmete geräuschvoll ein. Er zog seinen Weinschlauch hervor, hob ihn der Statue der Jungfrau Maria entgegen, die auf einem Sockel neben dem Abteiportal stand, und nahm ein paar großzügige Schlucke. »Sie haben Euch gedroht, Sir John, und das wäre nicht nötig gewesen. Aber Goldingham hat vielleicht recht. Wir können nicht beweisen, daß der Mörder Bouchons und Swynfords unter diesen Abgeordneten ist.«
»Am Arsch!« fluchte Cranston. »Sie haben einen Haufen Lügen erzählt. Sie haben dagehockt wie Chorknaben oder wie Schauspieler bei einem Mummenschanz, die ihren Text aufsagen.«
»Aber das muß ja nicht bedeuten, daß sie im Zusammenhang mit den Morden etwas verbergen wollen«, beharrte Athelstan. Er hakte sich bei Sir John unter und führte ihn davon. »Ihr seid solchen Leuten schon öfter begegnet, Sir John. Ihr kennt Euch mit ihnen aus«, fügte er schmeichelnd hinzu. »Sie sind zusammen aufgewachsen, haben als Pagen und Knappen im selben Haushalt gedient. Sie sind einander durch Blut und Heirat verbunden. Sie ziehen in den Krieg und teilen sich die Beute, und in Friedenszeiten stehen sie ebenfalls Seite an Seite.«
»Rede doch nicht in Rätseln, Bruder!«
»Kommt, Sir John, das ist kein Rätsel. Ihr habt nur einen Schluck zuviel aus Eurem Weinschlauch genommen. Nein, schaut mich nicht so wütend an. Ihr seid der Vater Eurer Kerlchen, und wenn Ihr mich unter Euren buschigen weißen Brauen hervor anfunkelt, so ist das nur Schauspielerei. Ich will damit sagen«, fuhr Athelstan fort, »daß diese Männer natürlich eine ganze Menge zu verbergen haben, aber das muß nicht unbedingt etwas mit den Mordfällen zu tun haben.«
»Und wie sollen wir das herausfinden?«
Athelstan stach mit dem Finger in den Weinschlauch unter Sir Johns Mantel. »In vino veritas, Sir John. Im Wein liegt Wahrheit.«
»Du meinst Banyard?«
»Natürlich. Zeigt mir einen Wirt, der behauptet, er höre nicht, was seine Gäste so reden, und ich zeige Euch einen Lügner.«
Sie verließen die Abtei. Um zum »Ungeheuer« zu gelangen, mußten sie einen Umweg durch enge, stinkende Gassen machen, weil der gerade Weg durch ein brennendes Haus versperrt wurde.
»Ist das nicht merkwürdig?« murmelte Cranston. »Gerade haben wir die Abtei verlassen, wo der König gekrönt und Parlamente abgehalten werden, einen heiligen und ehrwürdigen Ort. Aber wie es scheint, ist er umgeben von allen Schurken der Stadt.«
Athelstan mußte ihm zustimmen. Er sah zwei Gestalten, eine mit Augenklappe, die beide ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen hatten und einer hübschen Hure folgten, die an den Marktständen vorbeitrippelte. Die beiden Kerle beobachteten gierig die bestickte Geldbörse, die an ihrem bunten Gürtel baumelte. An der Ecke der Gasse standen drei Männer mit Schildern, auf denen zu lesen war, sie seien seit ihrer Kindheit taubstumm und bäten um eine kleine Gabe.
»Lügner!« schnaubte Cranston ungläubig.
»Aber sie sind echt!« rief Athelstan aus.
»Paß auf«, knurrte Cranston.
Er überquerte die Straße, sprang über die gurgelnde Gosse in der Mitte hinweg und wartete, bis eine kleine Schar von Leuten zusammengekommen war, die bereit waren, eine Münze zu geben. Cranston zog seinen Dolch, schob sich hinter den einen der drei Bettler und stach ihm im Vorbeigehen mit der Dolchspitze in den Hintern. Der Mann ließ seine Tafel fallen und kreischte wie ein Vogel.
»Wer war das? Wer war das?«
»Ein Wunder«, rief Cranston und hielt seinen Dolch in die Höhe. »Der Mann kann sprechen.« Bedrohlich näherte er sich den beiden anderen. »Vielleicht kann ich das gleiche auch bei euch bewirken.«
Die drei Bettler rafften ihre Münzschalen an sich und flüchteten sich wie Hasen in eine Gasse. Die Kunde verbreitete sich offenbar wie ein Lauffeuer: Wo Cranston vorüberging, verschwanden die um Almosen bettelnden Gestalten im Schatten. Ihre Plätze vor den Türen oder auf den freien Flächen zwischen den Häusern wurden im Handumdrehen von einer Legion anderer Vagabunden eingenommen: Bänkelsänger, Höker, Reliquienverkäufer und die allgegenwärtigen Ablaßhändler, die darauf brannten, ihre Buß- und Ablaßzettel an die Pilger zu verkaufen, die zum Grab Edwards des Bekenners strömten. Mitunter waren die Gassen verstopft, und der Lärm war groß; Cranston und Athelstan hatten Mühe, sich hindurchzuzwängen.
»Warum zieht die Religion immer so viele Gauner und Narren an?« rief Cranston. »Der liebe Gott hat doch sicher etwas dagegen?«
Athelstan hätte ihn gern daran erinnert, daß Christus zu Lebzeiten Sünder wie Heilige angezogen hatte. Aber es herrschte ein solches Getöse, daß er sich vomahm, diese Belehrung auf eine andere Gelegenheit zu verschieben. Endlich kamen sie um eine Ecke und standen unter dem Schild des Gasthofes »Zum Ungeheuer«. Athelstan schaute auf den Teufelskopf hinauf, der dort abgebildet war; er war wahrhaft erschreckend, grau-grün vor scharlachrotem Hintergrund. Das zerzauste Haar des Dämons, die grausigen Augen und das brüllende Maul, mit dem er einen Ritter in voller Rüstung angriff, erinnerten den Ordensbruder an seine eigenen Sorgen in St. Erconwald.
Sie traten in die Schankstube. Banyard stand bei den Weinfässern und hielt ein paar Flußschiffern einen Vortrag über die steigenden Bierpreise. Als er Athelstan und Cranston sah, brach er ab und lächelte.
»Nun, Mylord Coroner, was kann ich für Euch tun? Eine kleine Erfrischung?«
»Ja«, antwortete Athelstan hastig, »und wenn ich ein Schreibtablett mieten könnte …?«
»Erst muß der Leib genährt werden«, knurrte Cranston.
»Ein wenig Schweinsragout mit Ei?« bot Banyard an. »Und es gibt frisches Brot.«
Cranston und Athelstan waren einverstanden, und der Wirt führte sie zu einem Tisch, der etwas abseits stand. Er brachte zwei Humpen Ale und schickte dann einen Jungen mit einem Schreibtablett, das einen Federkiel, ein kleines Faß Tinte, ein Stück Pergament und ein wenig Siegellack enthielt.
»Was ist los?« fragte Cranston.
Athelstan nahm den Federkiel und fing hastig an zu schreiben. Seine Hand flog über das Blatt. Dann hielt er inne und erinnerte sich an die Pergamentstücke, die den toten Abgeordneten geschickt worden waren.
»Hier hat man sie nicht geschrieben.«
»Was hat man hier nicht geschrieben?«
»Pergament und Tinte sind anders«, erklärte Athelstan. »Ich hatte mich gefragt, ob die Warnungen hier geschrieben worden sein könnten.« Er machte schmale Augen. »Wenn wir nur herausfinden könnten, woran die beiden Ermordeten sich erinnern sollten. Nun, wie dem auch sei…« Er tauchte die Spitze seines Federkiels in das Tintenfaß und kritzelte weiter. »Ich schreibe einen Brief an den Pater Prior«, erklärte er. »Ich muß ihm von unserem Dämon in Southwark erzählen.«
»Wie kann er dir helfen?« fragte Cranston.
»Er ist verschlagen wie eine Schlange und unschuldig wie eine Taube.«
»Du meinst, er ist wie du?«
»Sir John, Ihr schmeichelt mir … Aber im Emst, in einem Brief von unserem Pater Superior wurden kürzlich alle Dominikaner dazu angehalten, Dämonenbesessenheit eingehender zu studieren und solchen Phänomenen auf den Grund zu gehen.« Athelstan schrieb zu Ende, legte die Feder hin und bat den Schankburschen um eine Kerze, damit er den Siegellack schmelzen könnte.
»Wißt Ihr, Sir John«, fuhr er fort, als er fertig war, »Pike, der Grabenbauer, kann alle möglichen Dämonen sehen, wenn er betrunken ist, doch Benedicta hat einen nüchternen Verstand. Ihr könnt Euch ruhig darüber lustig machen, aber irgend etwas Ruchloses hat in jener Nacht in unserem Leichenhaus gelauert. Ich muß Gewißheit haben.« Er blies die Kerze aus. »Oder glaubt Ihr etwa nicht an Satan und all seine Macht, Sir John?«
»Doch, das tu ich, verdammt.« Cranston trank einen Schluck Ale. »Und viele seiner Freunde wohnen in der Cheapside. Aber du glaubst doch sicher nicht, daß Dämonen aus der Hölle heraufkommen, um in den Gassen von Southwark herumzutollen? Da könnte ich mir eine bessere, knackigere Beute auf der anderen Seite des Flusses vorstellen.«
»Was immer es sein mag«, sagte Athelstan und nahm den Brief in die Hand, als Banyard mit dem Essen kam, »ich muß Pater Anselm darüber berichten und ihn um seinen Rat bitten.«
Als der Wirt ihnen die dampfenden Schüsseln hingestellt hatte, reichte Athelstan ihm den Brief.
»Würdest du dafür sorgen, daß er nach Blackfriars gebracht wird?« fragte er und nahm einen Penny aus seiner Börse. »Ich bezahle den Jungen.«
»Unsinn!« antwortete Banyard. »Ihr braucht nicht zu bezahlen, Pater.«
»Wenn das so ist« - Cranston legte seinen Hornlöffel aus der Hand und schmatzte mit den Lippen -, »so wäscht eine Hand die andere. Schick den Jungen nur los, Master Banyard, und dann komm wieder her. Sei unser Gast.«
Banyard war damit einverstanden. Er kam aus der Küche zurück und setzte sich an den Tisch. In der großen Faust hielt er einen Humpen mit schäumendem Ale. Cranston nahm eine Silbermünze aus der Börse und schob sie zu ihm hinüber.
»Wir hätten gern einen Rat von dir, Master Banyard.«
Der Wirt nahm einen Schluck Bier, ohne die Münze aus den Augen zu lassen.
»Wobei?« fragte er und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.
»Lassen wir die Kindereien.« Cranston senkte die Stimme und schob die Münze vollends zu Banyard hinüber. »Da oben, Wirt, hast du zwei Tote liegen, beides ehemalige Gäste von dir. Das kann nicht gut fürs Geschäft sein.«
»Der Tod ist ein unerwarteter Besucher, Sir John. Das ›Ungeheuer‹ hat schon manchen Leichnam beherbergt.« Der Wirt starrte unter die rauchgeschwärzte Balkendecke. »Das Gasthaus steht hier seit vielen Jahren. Gäste sterben im Schlaf, in einer Prügelei. Auch haben wir so manchen Toten aufgenommen, den man aus dem Fluß gefischt hat.«
»Aber das hier ist etwas anderes«, beharrte Athelstan.
Banyard stellte seinen Humpen hin. Er streckte die Hand aus, und die Silbermünze war verschwunden.
»Ich habe Euch erzählt, was ich weiß und was ich gesehen habe«, sagte er leise. »Aber unsere edlen Abgeordneten sind nicht der brüderliche Haufen, als der sie erscheinen möchten. In der Nacht, in der Bouchon ermordet wurde, gab es beträchtliche Zwistigkeiten in verschiedenen Fragen.« Er zog eine Grimasse. »Probleme aus ihrer Heimat: das Aufkaufen von Korn, die Festsetzung der Preise auf den Märkten von Shrewsbury.«
»Und?« fragte Cranston.
»Die Diskussion wurde hitzig«, fuhr Banyard fort. »Sie stritten sich wegen eines Schiffes, das sie gemietet hatten, um Getreide aus Hainault zu importieren. Anscheinend war es auf Malmesburys Rat hin geschehen, aber das Schiff hatte Pech gehabt und war im Kanal französischen Piraten in die Hände gefallen. Goldingham, der kleine Dunkle, der wie ein Weib geht und die Zunge einer Viper hat - dieser Goldingham meinte, Malmesbury müsse sie entschädigen. Sir Edmund war ganz rot im Gesicht und erklärte, das werde er nicht tun.«
»Und?«
»Nun, eins gab das andere. Sie sprachen von einem Kelch, der verschwunden war. Dann hörte ich, daß der Name ›Artus‹ erwähnt wurde.« Banyard nahm einen Schluck Bier. »Ich war zwischendurch mit anderem beschäftigt, aber als ich zu ihnen zurückkam, hatte das Gespräch eine andere Wendung genommen. Sir Henry Swynford meinte, sie sollten sich dem Regenten nicht so vehement widersetzen. Er sprach von Unruhe in den Grafschaften und von immer wiederkehrenden Überfällen auf einsame Bauernhöfe und Herrenhäuser in Kent, aber auch in der walisischen Grenzmark.« Banyard verstummte und nahm seinen Humpen in beide Hände. »Dann sagte Sir Francis Hamett etwas sehr Sonderbares …« Er schloß die Augen. »Ja, so war’s: Er sagte, die alte Methode sei die beste. Malmesbury beugte sich über den Tisch und packte ihn beim Handgelenk. ›Sei kein Dummkopf‹, zischte er. ›Bleib du bei deinem Viehzeug.‹«
»Was glaubst du, was er damit meinte?« fragte Athelstan.
»Oh, Sir Francis Hamett interessierte sich offensichtlich für alle möglichen exotischen Bestien. Als er aus dem Tower zurückkam, schwatzte er wie ein Kind von den Elefanten, den Affen und von einem weißen Bären, der in der Königlichen Menagerie gehalten wird.«
»Nein.« Athelstan lächelte. »Ich meine, als er sagte, die alte Methode sei die beste.«
Banyard zog die Brauen hoch. »Pater, ich bin Wirt, kein Jahrmarktzauberer. «
»Und Sir Oliver Bouchon? Der war still?«
»Er schwieg die ganze Zeit und hat sein Essen nicht angerührt.« Banyard stand auf. »Mehr weiß ich nicht, und jetzt warten meine anderen Gäste.«
»Das hättest du uns alles schon früher erzählen können.«
»Sir John, ich verkaufe Wein, gutes Essen und Klatsch. Alles muß bezahlt werden.«
»Wirst du uns auch zu Dame Mathilda in die Cottemore Lane bringen?« fragte Cranston.
Banyard zwinkerte. »Braucht Ihr Trost, Sir John?«
»Nein, nein!« wehrte Cranston hastig ab. »Lady Maude, Gott schütze sie, wäre entsetzt, wenn sie hörte, daß ich ein solches Haus besucht habe. Ich muß nur erfahren, ob die guten Herren alle zusammen den Montag abend dort verbracht haben.« Banyard zog ein Gesicht und spielte mit seinem leeren Humpen. »Sir John, sie kamen alle nach Mitternacht zurück, und zwar ziemlich abgekämpft.« Er zuckte die Achseln. »Sobald Ihr bereit seid, werde ich Euch hinbringen.« Er stand auf und verschwand in der Speisekammer.
»Tja …« Cranston schob den Teller von sich. »Wir haben nur bestätigt bekommen, was wir schon wußten. Die feinen Herren sind Lügner. Es herrscht Rivalität unter ihnen.« Er leckte sich die Lippen. »Was mag es wohl mit dem Kelch und mit Artus auf sich haben? Und mit Hametts Behauptung, die alte Methode sei die beste?«
»Diese Abgeordneten wissen, was die Pfeilspitze, die Kerze und das ›Memento‹ zu bedeuten haben«, sagte Athelstan. »Die beiden wurden wegen einer geheimen Sünde ermordet, die vor vielen Jahren begangen wurde. Aber das fordert eine weitere Frage heraus.«
Athelstan putzte seinen Hornlöffel ab und steckte ihn in die Tasche. »Wenn diese Ritter von Furien aus ihrer Vergangenheit gehetzt werden, warum geraten sie dann nicht in Panik? Warum fliehen sie nicht zurück nach Shropshire?« Er sah Cranston an und beugte sich über den Tisch. »Ich meine, Sir John -stellt Euch vor, Ihr und ich und ein paar andere wären nach Shrewsbury gereist, und wir hätten irgendeine geheime Sünde begangen, und nun würden Leute aus unserer Reisegesellschaft ermordet. Was würdet Ihr tun?«
Cranston stellte seinen Humpen hin. »Ich gebe es ungern zu, aber ich würde Shrewsbury pfeilschnell verlassen.«
»Und warum tun diese Ritter es nicht?« fragte Athelstan. »Zwei ihrer Gefährten sind tot, und trotzdem …«
Cranston starrte durch den Schankraum. »Gut gesagt, Brüderlein. Es wäre naheliegend für sie, aus London zu fliehen und möglichst viel Abstand zwischen sich und Westminster zu bringen.«
Er blies die Wangen auf und strich sich mit den Fingern über den gesträubten Schnurrbart. »Natürlich hätten sie immer noch Zeit dazu, aber die Männer, die wir im Kapitelhaus kennengelernt haben, sind anscheinend fest zum Bleiben entschlossen.« Er beugte sich vor und kniff Athelstan ins Handgelenk. »Du stellst Fragen, Bruder. Hast du auch Antworten?«
»Nun ja, zuerst einmal«, begann Athelstan langsam, »können sie ja nicht sofort fliehen. Das würde aussehen, als wären sie schuldig und hätten etwas zu verbergen. Zum zweiten sind sie die Abgeordneten ihrer Grafschaft. Es ist ihre Pflicht, in Westminster zu bleiben, bis das Parlament zu Ende ist. Sie könnten natürlich jederzeit Krankheit oder dringende Geschäfte in der Heimat vorschützen.« Athelstan überlegte. »Möglicherweise gibt es noch zwei andere Erklärungen. Erstens haben vielleicht nicht alle die Ritter, die wir heute morgen kennengelernt haben, eine geheime Sünde zu verbergen. Und zweitens gibt es vielleicht eine noch größere Angst, die sie zum Bleiben zwingt.« Er schob Teller und Schreibtablett von sich. »Und wir müssen noch Dame Mathilda und ihre Schönen der Nacht besuchen.«
*
In seiner kleinen, wunderschön ausgeschmückten Kapelle im Savoy-Palast kniete John von Gaunt, den Kopf zum Gebet gesenkt, auf seinem Betstuhl. Neben ihm auf einem rot-golden bestickten Kissen kniete sein »geliebter Neffe«, Richard von England. Ab und zu blinzelte der junge König mit seinen hellblauen Augen, hob das elfenbeinweiße, von goldenem Haar umrahmte Engelsgesicht und warf einen kurzen Blick zu seinem Onkel hinüber. Schon oft hatte er seinem Hauslehrer, Sir Simon Burley, anvertraut, daß er den »lieben Onkel« mit einer Leidenschaft haßte, die über alles Verständliche hinausging. Ob Gaunt wohl wirklich betete? fragte sich der junge König. Oder war diese Kapelle ein Ort der Stille und der Abgeschiedenheit, an dem er seine Ränke schmieden konnte? Richard hob den Blick zu dem silbernen Kruzifix.
»Lieber Gott«, betete er still. »Ich bin jetzt dreizehn Jahre alt.
Noch drei Jahre, nur noch drei, und ich bin König aus eigenem Recht.«
Richard lächelte. Und was würde dann aus dem »lieben Onkel« werden? Aber drei Jahre waren eine lange Zeit. Alles mögliche konnte passieren. Von seinem Lehrer wußte Richard, daß unter den Bauern die Unzufriedenheit gärte, weil sie an die Scholle gefesselt waren, ihre Arbeitskraft nicht auf dem Markt anbieten und ihren Lohn aushandeln durften. Jetzt war in Westminster ein Parlament zusammengekommen: Die weltlichen und geistlichen Lords tagten für sich, und die Abgeordneten der Commons, die sich im Kapitelhaus versammelten, wandten sich mit Entschiedenheit gegen die Erhebung neuer Steuern, mit denen der »geliebte Onkel« noch mehr Schiffe bauen und noch mehr Truppen aufstellen wollte. Aber was, wenn ein Sturm losbräche, der nicht nur den Onkel, sondern auch ihn selbst, den jungen König, hinwegfegte? Würden die Bauernrebellen wirklich die Hand gegen den Sohn des Schwarzen Prinzen, ihren gesalbten König, erheben?
Neben ihm hob Gaunt seufzend den Kopf und bekreuzigte sich schwungvoll. Dann drehte er sich zu Richard um.
»Geliebter Neffe«, schnurrte er, »es war sehr freundlich, Euch im Gebet zu mir zu gesellen.«
»Liebster Onkel«, antwortete Richard ebenso honigsüß, »Ihr braucht allen Beistand, den Gott Euch senden kann.«
Gaunts Lächeln blieb fest. »In drei Tagen, Sire, werdet Ihr nach Westminster gehen. Ihr müßt Euch unter Eure Commons begeben und ihnen sagen, wie sehr Ihr sie liebt. Und wie dringend Ihr ihre Hilfe braucht.«
»Und werdet Ihr mitkommen, liebster Onkel?«
»Wie immer, geliebter Neffe, werde ich Eure rechte Hand sein.«
»›Ärgert dich deine rechte Hand, so haue sie ab und wirf sie von dir‹«, zitierte Richard aus dem Evangelium.
»Liebster Neffe, was wollt Ihr denn damit sagen?« Gaunt erhob sich vom Betstuhl, aber Richard blieb knien.
»In drei Jahren, liebster Onkel, bin ich erwachsen und werde König aus eigenem Recht.« Richards Stimme wurde härter. »Ich möchte gern ein Königreich regieren, nicht ein von Zwietracht und Krieg zerrissenes Land.«
»Die Bauern werden zur rechten Zeit bekommen, was sie wollen.«
Gaunt setzte sich auf die Altarstufen und sah seinen Neffen an. »Ich bin nicht beliebt, Sire, aber das ist niemand, der Macht ausübt. Die Flotten der Franzosen und der Spanier verwüsten unsere Südküste. Die Grundherren haben den Bauern den Stiefel in den Nacken gesetzt und lassen nicht locker. Die Bauern wiederum planen Verrat und Aufstand.«
Richard betrachtete das arrogante Löwengesicht seines Onkels. Er sah die Falten an den Augen und die Furchen, die in dem silbernen Bart verschwanden. Irre ich mich? dachte der junge König. Schmiedet Gaunt Pläne, um die Krone an sich zu reißen, wie sein Lehrer Simon Burley ständig warnend behauptete? Oder bemühte er sich nur, das Reich in ruhigeres Fahrwasser zu steuern? Gaunt beugte sich vor und nahm die Hand seines Neffen.
»Geliebter Neffe, dieses Königreich ist Euer, aber wenn wir die Steuern nicht erhöhen, werden wir weder die Schiffe noch die Soldaten haben, die wir brauchen, um uns zu verteidigen. Erst wenn ich sie habe, kann ich die Lords zufriedenstellen und den Bauern Erleichterung verschaffen. Wenn Ihr ins Parlament geht, tut, was ich sage. Sprecht freundlich zu den Edelleuten und Bürgern. Sagt ihnen, daß meine Forderungen auch die Euren sind.« Ein schiefes Lächeln erhellte Gaunts Gesicht. »Schließlich seid Ihr der Sohn des berühmten Schwarzen Prinzen, der Urenkel des großen Edward III., der Frankreich bezwungen hat.«
Richard zog seine Hand zurück. »Ich bin außerdem König von England.«
Gaunt wollte antworten, aber es klopfte. Sir Miles Coverdale trat ein und verbeugte sich. »Euer Gnaden, Sir Simon Burley ist hier. Er besteht darauf, daß der junge König jetzt zum Unterricht zurückkehrt.«
Gaunt erhob sich und half seinem Neffen auf. »Aja, Euer Unterricht.« Er lächelte. »Übermittelt Sir Simon meine Empfehlungen, Euer Gnaden, aber erinnert ihn auch an die berühmte Redensart: ›Predigen ist leichter als Handeln‹«
Richard rückte die goldene Kordel um seine schlanke Taille zurecht und strich die Falten in seinem blau-goldenen Seidengewand glatt. Dann verneigte er sich. »Liebster Onkel«, sagte er, ebenfalls lächelnd. »Ihr hättet selbst ein Prediger werden sollen.«
Coverdale trat beiseite, und Richard von England rauschte zur Kapelle hinaus. Gaunt blieb stehen und lauschte seinen Schritten, bis sie in der Feme verhallt waren.
»Ihr kommt aus Westminster, Coverdale? Wie ich höre, ist dort jemand ermordet worden?«
»Ja, Euer Gnaden, aber Sir John und Bruder Athelstan haben die Sache in die Hand genommen.« Coverdale lächelte spöttisch. »Der Coroner hat die Abgeordneten aufgescheucht; sie summen durcheinander wie die Bienen.«
Gaunt kniete sich wieder auf seinen Betstuhl. »Aber sie konnten dem Mörder die Maske noch nicht vom Gesicht reißen?«
»Nein, Euer Gnaden.«
Gaunt starrte zu dem Engel hinauf, der in das Fenster hoch über dem Altar gemalt war. »Ich werde noch eine Weile hierbleiben«, sagte er leise. »Es werden zwei Besucher kommen. Haltet sie voneinander getrennt. Keiner der beiden darf vom anderen wissen.«
Coverdale nickte und ging hinaus. Gaunt wandte sich seinen Meditationen zu und überlegte, wie die Steuern, wenn das gegenwärtige Parlament sie erhöht hätte, ausgegeben werden könnten. Er hörte, wie es klopfte, und warf einen Blick zur Seite. Ein maskierter Besucher mit hochgeschlagener Kapuze kam in die Kapelle. An dem sauren Geruch, den Schlammspuren am Saum des zerschlissenen Mantels und den abgeschürften Stiefeln erkannte Gaunt, wer es war.
»Jeder gute Hund findet sein Heim«, bemerkte er.
»Euer Gnaden«, sagte der Hundemann und fiel auf die Knie, »bin ich nicht Euer gehorsamster Diener?«
Gaunts Hand glitt zum Dolch an seinem Gürtel, aber eigentlich hatte er nichts zu befürchten. Der Hundemann war ein erbärmlicher kleiner Verräter, der Angst davor hatte, gehängt zu werden. Und für alle Fälle standen auf der Empore hinter ihm zwei Meisterbogenschützen im Schatten verborgen, und ihr Pfeil lag bereits auf der Sehne.
»Bleib, wo du bist, Bursche«, zischte Gaunt, »und rühr dich nicht.«
Der Hundemann verschränkte die Arme und blieb auf den Knien. Mühsam beherrschte er sein Zittern. Wenn die Große Gemeinschaft wüßte, daß er hier war, würde man ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen, damit es anderen Verrätern zur Warnung diente. Aber der Hundemann hatte eine Heidenangst vor Gaunt, denn vor einiger Zeit hatte er erkannt, daß der Regent trotz all ihrer Tarnnamen, verborgenen Zirkel und heimlichen Verschwörungen genau wußte, was die Große Gemeinschaft plante. Der Hundemann fragte sich, wie viele Rebellenführer wohl noch im Sold des Regenten stehen mochten, aber eine Wahl hatte er nicht. Man hatte ihn ergriffen und vor die Entscheidung gestellt: Entweder wirst du zum Judas, oder du wirst in Tybum als Verräter gehängt, gevierteilt und ausgeweidet. Der Hundemann hatte diese Entscheidung sehr schnell getroffen. Er war mit dem Angebot der Agenten Gaunts einverstanden gewesen. Und jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als nach ihrer Pfeife zu tanzen.
Gaunt drehte sich um. »Ja, Hundemann, in drei Tagen, am Samstag morgen zwischen elf und zwölf Uhr werden mein Neffe und ich mit einer Kavalkade von Rittern, Knappen und Pagen nach Westminster reiten. Der König wird Almosen verteilen und den Kranken und Gebrechlichen die Hand auflegen. Du wirst dort sein …« Gaunt verzog höhnisch den Mundwinkel. »Der Hase ist grindig und skrofulös wie immer?«
Der Hundemann nickte eifrig.
»Und er haßt noch immer alles, was auf einem Zelter reitet und in Seide gekleidet ist?«
Wieder das heftige Kopfnicken.
»Sorg dafür, daß er bewaffnet ist.«
Gaunt hörte, wie der Hundemann nach Luft schnappte. Er stand auf und ging zu ihm. »Wovor hast du Angst, Hundemann?«
»Der Hase wird angreifen«, flüsterte der Judas. »Wird seine Hand gegen den Gesalbten des Herrn erheben.«
»Nun, ist es nicht das, was ihr in euren Zirkeln und geheimen Versammlungen in Southwark und anderswo ausheckt?« Gaunt bohrte dem Mann einen Finger in die schmutzige Wange und lachte. »Hasenfuß. Sieh nur zu, daß er da ist.« Dann strich er dem Mann über das fettige Haar. »Ach, dein Kamerad, der Fuchs, ist gefaßt worden.« Er warf eine Münze auf den Boden. »Was du mir berichtet hast, hat gestimmt.«
»Was wird mit ihm werden, Mylord?«
»Ich habe meinen Richtern gesagt, sie sollen ihm einen anständigen Prozeß machen und ihn dann aufhängen.« Gaunt wandte sich ab. »Ich muß für seine Seele beten.«
Der Hundemann raffte die Münze an sich und huschte hinaus. Gaunt ging zu einem Krug Wasser, hielt die Hand über eine Schüssel und ließ das rosenduftende Wasser über seine Finger fließen. Dann wischte er sich die Hände an einem Leintuch ab und kehrte zu seinem Betstuhl zurück. Jäh drehte er sich um und spähte mit funkelndem Blick zu der überschatteten Empore hinauf; seine Augen wurden schmal, aber dann sah er einen Panzer funkeln und wußte, daß die Bogenschützen noch warteten.
Gaunt kehrte zu seiner Meditation zurück. Er stützte das Kinn in die Hand und dachte an die Morde im Gasthof »Zum Ungeheuer«. Würde es Cranston gelingen, Licht in dieses Geheimnis zu bringen? Gaunt beobachtete, wie eine Fliege über das frische weiße Altartuch krabbelte. Manche Leute verachteten den Coroner als einen fetten, betrunkenen Hanswurst, aber hinter Cranstons Äußerem verbarg sich ein scharfer Verstand. Und dieser Bruder Athelstan mit seinem glatten, olivfarbenen Gesicht und den wachsamen dunklen Augen! Gaunt lächelte. Unter anderen Umständen hätte er darauf gewettet, daß die beiden Erfolg haben würden, aber wem könnte er davon erzählen? Wieder klopfte es. »Herein! Herein!«
Auch dieser Besucher trug einen Mantel mit hochgeschlagener Kapuze, aber der Stoff war reine Wolle, und die Stiefel, die darunter hervorschauten, waren aus teurem Burgunder Leder. »Ihr mögt zwar ein Abgeordneter der Grafschaft sein«, sagte Gaunt leise. Er deutete auf die Monstranz, die golden und mit Juwelen besetzt an einer Silberkette über dem Altar hing. »Aber in der Gegenwart Christi, unseres Königs - von seinem rechtmäßigen Stellvertreter auf Erden ganz abgesehen -, solltet Ihr knien.«
Der Ritter gehorchte. Gaunt drehte sich nicht um.
»Ihr sprecht laut im Kapitelhaus«, stellte der Regent fest.
»Euer Gnaden, das war doch Euer Wunsch.«
Gaunt verzog das Gesicht. »Nicht zu hitzig werden«, riet er. »Sonst könnte es Getuschel geben, wenn Ihr Euren Kurs ändert«
»Und wann soll ich das tun, Euer Gnaden?«
»Oh, das werdet Ihr schon merken«, antwortete Gaunt. »Man wird Euch ein Zeichen geben.«
»Euer Gnaden …« Der Abgeordnete kam scharrend auf die Füße, als wollte er näherkommen, aber Gaunt streckte die Hände aus und schnippte mit den Fingern.
»Nicht weiter!« sagte er warnend.
»Euer Gnaden, diese Morde …«
»Ach ja, diese beiden ehrenwerten Ritter vom Schwan, Sir Oliver Bouchon und Sir Henry Swynford. Ich habe hier gekniet und für ihre Seelenruhe gebetet.«
»Euer Gnaden, da geht ein Meuchelmörder um. Er will uns alle umbringen.«
»Nicht Euch alle«, sagte Gaunt sanft. »Ihr seid nicht alle schuldig.«
»Wir glaubten das Richtige zu tun.«
»Was Ihr glaubtet und was durch das Gesetz festgelegt ist, das ist zweierlei.«
»Euer Gnaden«, erwiderte der Ritter heiser, »wir müssen London verlassen!«
»Verlassen?« Gaunt drehte sich um und zog eine Braue hoch. »Ihr und Eure Kollegen, Sir, seid gewählte Abgeordnete.« Er wandte sich wieder ab. »Wenn Ihr London verlaßt, werde ich die Königlichen Richter von Eyre nach Shrewsbury entsenden lassen. Sie werden Nachforschungen anstellen, sich das Gemunkel anhören und in all dem Schmutz Eurer Vergangenheit wühlen. Und was werden die Leute sagen he, Sir Edmund Malmesbury? Wie Ihr großartig in London eingezogen seid, aber die Flucht ergriffen habt, weil zwei Eurer Kollegen ermordet wurden? Und warum wurden sie ermordet? Und wer war dafür verantwortlich? Vor dem Kirchenportal wird man tuscheln und tratschen.«
Malmesbury schob seine Kapuze zurück und streckte die Hände aus. »Euer Gnaden, wir waren jung. Wir haben einen schrecklichen Fehler begangen. Wir haben gelobt, auf eine Wallfahrt zu gehen und Schadenersatz zu leisten …«
»Auf eine Wallfahrt?« knurrte Gaunt und drehte halb den Kopf. »Auf eine Wallfahrt? Dies ist Eure Wallfahrt, Sir Edmund. Ihr bleibt. Cranston und Athelstan werden den Mörder entlarven.«
»Cranston ist ein betrunkener Hanswurst.«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Gaunt sanft. »Was Ihr tun müßt, Ihr und die übrigen, Sir Edmund…« Gaunt hob die Hände wie zum Gebet. »Ihr müßt beten. Ihr müßt wirklich beten, daß Cranston und Athelstan den Mörder entlarven, bevor er wieder zuschlägt.« Gaunt schnippte mit den Fingern. »Am Samstag morgen werdet Ihr ein Zeichen bekommen. Und Montag werdet Ihr wissen, was zu tun ist. Seht zu, daß Ihr es tut!« Gaunt seufzte. »Das heißt natürlich, falls Ihr dann noch lebt. Dann wiederum -wenn Ihr nicht mehr lebt, wird es jemand anderes an Eurer Stelle tun. Jetzt geht.«
Gaunt hörte, wie der Mann hinauseilte. Die Tür der Kapelle schloß sich hinter ihm. Der Regent schaute zum Kruzifix hoch und fragte sich müßig, wer wohl für den Tod dieser beiden Ritter verantwortlich sein mochte.