Dame Mathilda Kirtles’ Haus in der Cottemore Lane war so majestätisch wie elegant. Es war auf einem Backsteinfundament erbaut, und die dicken Balken, die sich bis zum rot gedeckten Dach hinaufstreckten, waren glänzend schwarz angestrichen, während der Putz dazwischen in zartem Rosarot erstrahlte. Die Gitterfenster in allen drei Stockwerken waren mit Bleiglas ausgefüllt. Der Garten zu beiden Seiten des Kieswegs war geschmackvoll angelegt; kleine Rosensträucher wechselten sich mit erhöhten, duftenden Kräuterbeeten ab.
»Und das ist ein Bordell?« rief Athelstan.
Banyard grinste von einem Ohr zum ändern, als er auf die Türklinke aus gelbem Messing deutete: Sie hatte die Form eines sinnlichen jungen Mädchens, das einen Krug Wasser hielt. Athelstan starrte sprachlos auf die Klinke und dann auf das Ende des Glockenseils, dessen Griff wie ein Penis geformt war. Cranston hustete und pustete und wußte nicht, ob er verlegen sein oder lachen sollte; er zog am Seil und ließ es gleich wieder los. Gottlob kann Lady Maude mich hier nicht sehen, dachte er. Mögen Gott und alle Seine Heiligen verhüten, daß sie es je tut! Auf das liebliche Läuten der Glocke im Haus folgte Fußgetrappel, und dann schwang die Tür auf. Unter anderen Umständen hätte Athelstan das junge Mädchen für eine Novizin gehalten. Ein weißer, goldgesäumter Schleier bedeckte das glänzende Haar, und sie trug einen züchtigen grauen Rock, aber er hatte Rüschen am Saum, und ihre Fingernägel waren rot angemalt. Was Athelstan zunächst für ein weißes Brusttuch gehalten hatte, war ein hauchzarter Schleier über reifen, üppigen Brüsten.
Guten Morgen, Ihr Herren!« Das Mädchen lächelte sie an, raffte ihren Rock zusammen und hob ihn ein wenig, so daß man die dicken weißen Unterröcke sah. Sie winkte Athelstan munter weiter. »Kommt nur herein, Pater. Ihr seid nicht der erste Ordensmann, der uns besucht.« Sie mußte ein Lachen unterdrücken. »Und Ihr werdet sicher nicht der letzte sein. Master Banyards Freunde sind auch unsere Freunde.«
»Master Banyard geht jetzt wieder«, knurrte Cranston. Er hatte sich gefaßt und drängte sich an Athelstan vorbei. »Und du, meine kleine Dime, solltest wissen, daß ich Sir John Cranston bin, der Coroner der Stadt London.«
»Coroner sind uns ebenfalls willkommen«, antwortete das Mädchen keß. »Schwerter allerdings« - sie deutete auf Cranstons Waffengürtel - »gestattet die Dame des Hauses nicht«
Banyard kicherte, aber als Sir John herumfuhr, machte er sofort ein unbewegtes Gesicht. »Sir John, ich muß jetzt zurück.«
»Dame Mathilda Kirtles.« Cranston reckte dem Mädchen das Gesicht entgegen. »Ich will sie sofort sehen, sonst kommen die Büttel. Und sag mir nicht, die sind hier auch willkommen.«
Das Mädchen schlug die Hand vor den Mund, trat zurück und führte die beiden dann durch einen luftigen Korridor in eine süßduftende Stube. Sie bat sie zu warten und schloß die Tür hinter sich. Athelstan setzte sich auf eine kissengepolsterte Fensterbank und sah sich mit halboffenem Mund um.
»Ach, komm, komm, Bruder«, rief Cranston. »Erzähl mir nicht, du wärest noch nie in einem Freudenhaus gewesen.«
Athelstan hob ruhig die Hände. »Sir John, ich schwöre Euch, einen solchen Ort habe ich noch nicht gesehen.«
Der Bruder betrachtete den Fußboden, dessen Dielen so blitzblank gebohnert waren, daß das Sonnenlicht sich in ihnen spiegelte. Die Wände waren zur Hälfte holzgetäfelt; der Putz darüber war in einem satten Sahneweiß gestrichen. Farbenprächtige Wandbehänge hingen davor. Athelstan reckte den Hals und betrachtete einen davon. Zunächst glaubte er, eine Jungfrau zu sehen, die dem Lied eines Troubadours lauschte, aber dann erkannte er errötend, daß der Troubadour nackt war und das Kleid der jungen Frau in der Mitte offen klaffte.
»Ja, ja, durchaus«, murmelte er.
»Warst du schon mal mit einem Mädchen zusammen?« fragte Cranston.
»Sir John, Ihr könnt zwar fragen, aber die Antwort werde ich für mich behalten …« Athelstan schüttelte den Kopf. »Auf den ersten Blick könnte diese Stube einer Abtissin gehören.«
»Wenn ich an ein paar Äbtissinnen denke, die ich so kenne«, knurrte Cranston, »hast du wahrscheinlich recht.«
»Versucht die Stadt nicht, diese Häuser zu schließen?« Noch während er sprach, hörte Athelstan ein Geräusch von der Wand neben dem von einem Baldachin überspannten Kamin. Als er rasch hinschaute, meinte er zu sehen, wie ein hölzerner Schieber geschlossen wurde.
»Wer würde ein solches Haus schließen?« fragte Cranston. »Dame Mathilda und ihre jolies filles könnten ein Liedchen singen, das so manchen Ratsherrn in Verlegenheit bringen dürfte.«
»Aye, und nicht nur Ratsherren.«
Cranston fuhr herum. Eine hochgewachsene, strenge Dame in weißem Schleier und grauem Kleid stand in der Tür. Ihr Haar war grau, ihr Gesicht hager und hochmütig, und ihre Augen blickten scharf und wachsam. Sie kam herein und befingerte den goldenen Gürtel um ihre Taille. Athelstan hätte sich am liebsten gezwickt; wie sie ging und sprach, wirkte sie wie eine ehrwürdige Mutter Oberin.
»Ich bin Dame Mathilda Kirtles.« Sie starrte auf Athelstan herab. »Ihr seid der Dominikaner aus St. Erconwald, nicht wahr? Eine aus Eurer Pfarrgemeinde, die Cecily, redet oft von Euch.«
Atheisten hatte die Sprache verloren.
»Und Ihr seid natürlich Sir John Cranston, der fetteste, lauteste und trinkfesteste aller Coroner.« Sie streckte die Hand aus, und Cranston ergriff und küßte sie.
»Madam, ich bin Euer Diener.«
»Nein, das seid Ihr nicht«, schnappte Dame Mathilda. »Ihr habt mit Huren nichts zu schaffen, Sir John, was ich sehr bedaure.« Ihr Blick wurde ein wenig sanfter. »Aber es heißt, man kann Euch nicht bestechen, und das macht Euch einzigartig.« Dame Mathilda rauschte zu einem kleinen Polstersessel vor dem Kamin und setzte sich.
»Sir John, Ihr seid nicht zum Vergnügen hier. Was also habt Ihr auf dem Herzen?«
Cranston setzte sich neben Atheisten auf die Fensterbank. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich wieder wie ein kleiner Junge, der Steine in den Fischteich warf und dafür von einer seiner alten Tanten gescholten wurde.
»Ich würde Euch eine Erfrischung anbieten«, erklärte Dame Mathilda, »aber ich will ehrlich sein, Sir John: Je eher Ihr wieder verschwindet, desto besser.« Sie lächelte schmal. »Banyard schwatzt wie ein Waschweib«, fügte sie hinzu. »Niemand wird es wagen, in die Nähe des Hauses zu kommen, solange Ihr hier seid.«
»Auch nicht die ehrenwerten Abgeordneten aus Shrowsbury?« fragte Cranston. »Sie waren am vergangenen Montag abend hier, Dame Mathilda. Sie hatten gut gegessen und recht tief ins Glas geschaut.«
»Aye, und ihre Börsen waren voller Silber. Sie kamen etwa zwei Stunden vor Mitternacht. Meine Mädchen haben sie unterhalten …« Sie deutete mit dem Kopf zur Decke. »Jeder ging dann mit dem Mädchen seiner Wahl nach oben.«
»Alle?«
»Einer hat sich wieder verabschiedet.«
»Welcher?« fragte Athelstan.
»So ein kleiner, komischer. Er saß eine Zeitlang bei einem meiner Mädchen und langweilte sie zu Tode mit seinem Geplapper über Tiere, Bestiarien, und was er im Tower gesehen hatte. Dann schaute er auf die Stundenkerze, stammelte eine Entschuldigung und ging.«
»Und er kam nicht zurück?«
»Das habe ich nicht gesagt. Doch, er kam zurück, kurz bevor die anderen gingen. Und bevor Ihr fragt, Cranston: Ich weiß nicht, wo er war oder was er getan hat. Sein Mantel war so feucht, daß ich glaube, er war am Fluß. Wohlgemerkt«, fuhr sie knapp fort, »wäre er geblieben, wäre er wohl genauso brauchbar gewesen wie der Rest.«
»Wie meint Ihr das?« fragte Cranston.
»Sir John, es sind Männer im mittleren Alter, reif an Weisheit, mit vollem Bauch. Mag sein, daß sie ihre Lanzen immer noch aufrecht halten können - aber nicht im Bett.«
»Ja.« Cranston warf einen raschen Blick zu Athelstan, aber der Bruder war anscheinend ganz vertieft in das, was Dame Mathilda erzählte.
»Und wenn Eure Gäste bleiben, gute Lady, habt Ihr doch wohl ein Auge auf sie?« Der Coroner sah sich um. »Selbst in diesem Raum muß es verborgene Gucklöcher geben.«
»Sir John, Ihr seid klüger, als Ihr ausseht.«
»Und sie haben sich mit den Mädchen unterhalten?«
»Aber Sir John!« Dame Mathilda faltete bescheiden die Hände. »Erwartet Ihr wirklich, daß ich Euch das erzähle?«
»Tja …« Sir John streckte die Beine aus und verschränkte die Arme. »Ihr könnt es mir hier erzählen oder ich könnte die Büttel bitten, Euch morgen ins Rathaus zu begleiten.«
»Sie haben geprahlt, Sir John, wie es alle Männer tun: wie viele Scheunen sie hätten, was für Bauerngüter, wie fett ihre Schafe seien, wie hoch ihr Ansehen …«
»Und was noch?«
»Daß sie Parlamentsabgeordnete der Commons seien und daß sie keinen Finger rühren würden, um dem Regenten zu helfen, solange er ihre Forderungen nicht erfüllte.« Dame Mathilda erhob sich. »Aber das ist alles, was ich Euch berichten kann, Sir John, hier oder in Eurem Rathaus.« Sie ging zur Tür und drehte sich dann noch einmal um. »Bruder Athelstan, habt Ihr herausgefunden, wo Perline Brasenose ist?«
»Nein.« Der Ordensbruder stand auf. »Ihr kennt ihn?«
»Ja, allerdings.« Dame Mathilda kam zurück. »Vor Jahren hat seine Mutter hier gearbeitet. Perline war … wie soll ich sagen? Er war das unerwartete Ergebnis einer Arbeitsnacht hier im Hause.«
»Jetzt gehört er zu meiner Pfarrgemeinde. Er ist mit Simplicitas verheiratet.«
»Ach, so nennt sie sich jetzt?«
»Daran hatte ich nicht gedacht.« Athelstan lächelte und schaute auf seine Hände.
Perline und seine Mutter waren ein paar Jahre zuvor nach Southwark gekommen, und dann war Simplicitas plötzlich in ihrem Hause erschienen. Perline hatte immer behauptet, sie sei eine entfernte Verwandte. Als er sie dann in der Pfarrkirche St. Erconwald geheiratet hatte, war Athelstans einzige Sorge gewesen, daß keine Blutsverwandtschaft zwischen ihnen bestand, die nach dem kanonischen Recht verboten war. Er schloß die Augen und sah Simplicitas’ blasses Elfengesicht vor sich, ihr blondes Haar und die grünen, lächelnden Augen.
»Na, da soll doch …«, murmelte er und hob den Kopf. »Ihr wißt also, daß Perline immer noch vermißt wird?«
»Ja, ja, das weiß ich.« Dame Mathilda öffnete die Tür. »Die Welt ist klein, Bruder Athelstan, vor allem für eine Hure. Simplicitas hat uns um Hilfe gebeten.« Sie warf Sir John einen schalkhaften Blick zu. »In London passiert wenig, ohne daß wir Huren es erfahren. Aber jetzt, Sir John, muß ich wirklich darauf bestehen …«
Draußen vor dem Haus legte Cranston seinen Arm um Athelstans Schultern und brüllte vor Lachen. Dann hielt er den kleinen Ordensmann mit gestreckten Armen von sich. »Bruder, Bruder!« Er schluckte heftig und blinzelte mit den vorquellenden blauen Augen, die vor Lachen tränten. »Weiß du denn gar nichts über deine Pfarrkinder?«
»Anscheinend nicht, Sir John.« Athelstan ließ die Schultern hängen. »Simplicitas wirkte so schüchtern.«
»Das ist sie auch.« Cranston hakte sich bei Athelstan unter und führte ihn hinaus auf die Cottemore Lane. »Für eine arme, einsame Frau in London ist es immer noch besser, eine Hure zu sein, als zu verhungern. Simplicitas ist ja keine Prostituierte. Sie hat sich wahrscheinlich ihre Mitgift verdient und ist dann fortgegangen, sobald sie konnte. Und jetzt ist ihr der Ehemann weggelaufen?«
»Ja, das paßt nicht zu ihm«, sagte Athelstan. »Perline ist ein Verrückter, aber er liebt Simplicitas. Niemand scheint zu wissen, wo er ist. Er war gern Soldat im Tower. Er wurde bezahlt und bekam gut zu essen.«
»Und wenn er nicht bald zurückkommt«, knurrte Cranston, »werden sie ihn als Deserteur aufhängen.«
Am Ende der Cottemore Lane zog Athelstan seinen Arm aus Cranstons Umklammerung und starrte auf den Fluß.
»Du siehst müde aus, Bruder«, stellte Cranston fest; er sah die dunklen Ringe unter Athelstans Augen.
»Ich mache mir Sorgen, Sir John. Um Perline und Simplicitas. Dann der Teufel, der sich da in Southwark herumtreibt. Und nicht zuletzt Pike, der Grabenbauer, der sich in den dunklen Ecken der Schenken herumdrückt und vom großen Aufstand flüstert. Er hält sich für so schlau, und dabei könnte der Schankbursche, der ihm sein Bier bringt, ein Spitzel des Regenten sein.« Atheisten deutete zu den hochragenden Türmen von Westminster hinüber. »Und jetzt noch diese Morde.«
Er ließ sich von Cranston durch eine enge Gasse zur Fleet Street hinaufschieben. »Und was hältst du von der Sache?« fragte der Coroner.
»Na ja …« Atheisten schwieg und sammelte seine Gedanken. »Wir wissen, daß unsere edlen Abgeordneten lügen, Sir John. Diese Ritter haben eine Menge zu verbergen, aber ich vermute, daß sie Angst haben und Zusammenhalten, von Sir Francis Hamett abgesehen. In der Nacht, als Bouchon starb, verließ er Dame Mathildas Haus und begab sich flußaufwärts. Ob er Bouchon treffen wollte oder in anderen Angelegenheiten unterwegs war, das weiß ich nicht. Und was ich mich auch immer wieder frage«, fuhr er fort, »ist, weshalb der Mörder das Dies Irae sang, während er Swynford erdrosselte.«
»Glaubst du, er könnte ein Priester gewesen sein? Ein Mönch gar?«
»Wie Pater Benedict?« Atheisten dachte an den hochgewachsenen, strengen Benediktinermönch. »Aber warum sollte er Swynford oder Bouchon hassen? Die einzige Verbindung zwischen ihm und diesen Rittern besteht darin, daß ein früherer Freund von ihm, Pater Antony, einmal in derselben Abtei diente, in der diese Leute ihre Tafelrunde abhielten.«
Atheisten blies die Wangen auf. »Bis jetzt, Sir John, haben wir noch nicht genug erfahren. Wenn wir jetzt ins ›Ungeheuer‹ gingen und Sir Francis fragten, weshalb er das Bordell verlassen hat, würde er uns eine Geschichte auftischen, die wir weder beweisen noch widerlegen könnten. Und ich bin sicher, einer seiner Kollegen würde einen heiligen Eid schwören, daß Sir Francis die Wahrheit sagt.« Er gab dem Coroner einen Rippenstoß. »Uns bleibt nichts anderes übrig, Sir John, als abzuwarten. Es wird noch einen Mord geben.« Er seufzte. »Und wir können kaum etwas tun, um das zu verhindern.«
»Was ist mit Coverdale?« fragte Cranston. »Er ist jung, kräftig und aus Shropshire. Er könnte Bouchon getroffen, ihn auf den Kopf geschlagen und in den Fluß geworfen haben. Er könnte außerdem, als Priester verkleidet, ins ›Ungeheuer‹ gekommen sein, um Swynford zu erdrosseln. Wir könnten noch einmal zurückkehren und ihn fragen.«
»Und dann würde er uns fragen, warum er es getan haben sollte«, wandte Athelstan ein. »Welchen Beweggrund könnte er haben, zwei Ritter zu ermorden?«
»Rache?« erwog Cranston. »Sein Vater war ein kleiner Grundbesitzer in Shropshire. Coverdale hegt einen Groll wegen erlittenen Unrechts, und vielleicht nutzt er die Gelegenheit, um eine Rechnung zu begleichen. Und natürlich ist er einer von Gaunts Schergen.«
»Hier liegt der schwache Punkt in Eurer Theorie«, sagte Athelstan. »Wieso sollte Bouchon sich nachts mit einem von Gaunts Leuten treffen? Und eine volle Schankstube zu betreten, selbst in der Verkleidung eines Priesters, wäre sehr gefährlich für Coverdale.« Athelstan blieb stehen und schaute zum rotgestreiften Himmel hinauf. »Außerdem ist Coverdale gerissen. Wir untersuchen diese Mordfälle ja genau deshalb, weil Gaunt nicht will, daß man ihm die Schuld dafür zuschreibt. Es sei denn, Coverdale wäre gar nicht wirklich Gaunts Freund«, fügte er hinzu. »In dem Falle wären wir wie Hunde, die ihrem eigenen Schwanz nachjagen.«
»Deshalb will ich jetzt zur Cheapside zurück«, rief Cranston über die Schulter zurück, denn er war weitergegangen. »Vielleicht kann ich dem Regenten nicht helfen …«Er tippte sich an die fleischige Nase. »Aber möglicherweise kann ich dir bei der Suche nach deinem Perline Brasenose behilflich sein.«
Sie gingen zur Holbom Street hinauf. Die Sonne würde bald untergehen, und die breite Hauptstraße, die zum Newgate hinausführte, war voll von Händlern, Fuhrleuten, Hökern und Bauem, die sich nach den Geschäften des Tages müde auf den Heimweg machten. Ein Wanderpriester mit einer klapprigen Schubkarre voll kläglicher Habseligkeiten blieb stehen und bat Athelstan um einen Penny.
»Sei gesegnet, Bruder.« Er machte das Kreuzzeichen. »Und an deiner Stelle würde ich mich beeilen. Das Gedränge um Newgate ist dichter als ein Fliegenschwarm über einem Kuhfladen. Sie wollen dort einen Mann hängen.« Er packte seinen Schubkarren und hastete weiter.
Cranston und Athelstan traten auf die Straße, und der Coroner nutzte seine Leibesfülle und seine dröhnende Stimme, um ein mit Fässern und Tonnen beladenes Weinfuhrwerk anzuhalten. Wenig später saßen der Lord Coroner der Stadt London und sein Secretarius wie zwei Knaben mit baumelnden Beinen hinten auf dem Fuhrwerk, während der Weinhändler, der darauf bedacht war, vor der Sperrstunde in London zu sein, mit der Peitsche knallte und seine mächtigen Karrengäule vorwärts trieb. So rumpelten sie vorbei an der Pontypool Street, der Leveroune Lane und der Herberge des Bischofs von Ely und bogen bei Smithfield rechts ab, vorbei an der Cock Lane, wo sich die Huren herumtrieben. Eine von ihnen erkannte Cranston. Sie hielt die rotgelbe Perücke auf ihrem Kahlkopf fest und wandte sich an ihre Schwestern. »Da fährt der Lord Fettarsch!«
Die übrigen nahmen den Ruf auf. Cranston lächelte selig und machte ein Kreuzzeichen in ihre Richtung. Athelstan verhüllte sein Gesicht und betete, daß sie ohne weitere Mißgeschicke nach Newgate kommen möchten.
Am großen Stadtgraben mußten sie schließlich halten; hier türmte sich der stinkende Abfall zu mannshohen Bergen. Der Gestank war unbeschreiblich. Sträflinge, von Bütteln beaufsichtigt, Münder und Augen mit dreckigen Lumpen umwickelt, streuten Salpeter über die schleimigen Berge. Andere standen, mit Blasebälgen bewaffnet, um große, tosende Kohlenbecken herum und fachten die brennende Holzkohle an. Athelstan hielt sich die Nase zu und versuchte, die Kadaver von Ratten und anderen Tieren, die aus den Haufen hervorschauten, nicht zu sehen. Cranston hingegen brüllte den Bütteln ermunternde Worte zu.
»Brave Burschen! Entzückende Kerle! Wird alles fertig sein, bevor es dunkel wird?«
»0 ja, Sir John«, rief einer zurück und stützte sich auf seine Schaufel. »Wenn die Sperrstunde schlägt, zünden wir das Feuer an.«
»Gott sei Dank«, stöhnte Cranston. »Der Graben ist auch wirklich voll genug. Wenn der Wind von Nordwesten kommt, wird Lady Maude immer schlecht davon.«
Einer der Gefangenen zog sich die Binden vom Gesicht und schrie: »Es ist gut zu sehen, daß der Lord Coroner jetzt seinen eigenen, passend eingerichteten Wagen hat!«
Cranston spähte durch die wehenden Rauchsäulen. »Ist das Tolpuddle? Hat man dich also wieder geschnappt, du kleiner Halunke?«
»Eigentlich nicht, Sir John«, krähte der Gauner fröhlich zurück. »Gab bloß ein kleines Mißverständnis um ein Ferkel, das ich gefunden hatte.« Tolpuddle kam näher. Athelstan sah, daß ein Auge zugenäht war, während das andere vor Bosheit funkelte.
»Ein Mißverständnis?« fragte Cranston.
»Aye. Vor zwei Nächten haben die Büttel mich mit dem Tier gefaßt.«
»Du hattest es gestohlen?«
»Aber nein, Sir John.« Der Sträfling stützte sich auf eine Harke. »Die Heiligen sind meine Zeugen: Ich habe das Schweinchen gefunden, wie es allein durch die Straßen irrte. Es sah so einsam aus. Da habe ich es aufgehoben und unter meinen Mantel gesteckt. Ich wollte es zu seiner Mutter zurückbringen.«
Cranston öffnete lachend seine Börse und warf dem Mann einen Penny zu. Endlich sah der Weinhändler eine Lücke im Gedränge. Er schnalzte mit der Peitsche, und der Wagen rollte schwerfällig weiter. Tolpuddle blieb stehen und winkte ihnen fröhlich nach, bis einer der Büttel ihm eine Backpfeife gab und ihn an die Arbeit zurückschickte.
Der Wagen rumpelte durch die alte Stadtmauer, und Cranston und Athelstan stiegen vor dem Newgate ab. Die große Glocke des Gefängnisses läutete. Auf dem hochragenden Schafott vor dem Doppeltor stand ein Mann, der hingerichtet werden sollte. Am Fuße des Schafotts drängten sich Soldaten und Bogenschützen in der Livree des Regenten; sie hielten die Menge zurück, während ein Herold im königlichen Wappenrock verkündete, daß Robert atte Thurlstain, bekannt als »der Fuchs« und als Anführer der sogenannten »Großen Gemeinschaft des Reiches«, der schrecklichen Verbrechen der Verschwörung, des Hochverrats und so weiter für schuldig befunden worden sei. Auf einer Plattform neben dem Galgen war ein rotgekleideter Henker bereits dabei, seine Fleischermesser zu schärfen und auf einem großen Tisch zurechtzulegen. Dort würde man den unglücklichen Gefangenen hinwerfen, wenn er halbtot vom Galgen käme; dann würde man ihm den Leib aufschneiden, ausweiden, ihn vierteilen und einsalzen, und schließlich würde man ihn in Pökelfässer verpackt an den wichtigsten Toren Londons und anderer Städte zur Schau stellen.
Athelstan sah zu, wie der Priester am Fuße der Leiter hastig die Totengebete herunterschnatterte, während der Gehilfe des Henkers, der rittlings auf dem vorspringenden Balken des Galgens saß, dem Gefangenen die Schlinge um den Hals legte. Der Henker brüllte dem Priester zu, er solle sich beeilen. Das gefiel der Menge nicht, und sie wurde unruhig. Abfall und faules Obst flogen dem Henker entgegen. Der Herold beendete seine Proklamation, und ein Trommelwirbel setzte ein. Athelstan überlief es kalt, als er sich an die Warnungen erinnerte, die Joscelyn, der einarmige Wirt der Schenke »Zum Gescheckten«, ihm hatte zukommen lassen. Hatte er nicht berichtet, ein Mann, der sich »der Fuchs« nannte, gehöre zu den Leuten, mit denen Pike sich heimlich getroffen habe? Er zupfte den Coroner am Ärmel. »Kommt, Sir John«, flüsterte er. »Laßt uns verschwinden.« Cranston war einverstanden, aber vorher packte er die Hand eines Beutelschneiders, der sich geschäftig durch das Gedränge schlängelte. Er hielt ihn beim Handgelenk fest, zog einen sehr dünnen Dolch hervor, den der Gauner im Ärmel versteckt hatte, und warf ihn im hohen Bogen auf einen Haufen Müll.
»Und jetzt sei ein braver Junge und verschwinde«, knurrte er und stieß den Taschendieb zu seinem Messer in den Abfallhaufen.
»Wußtet Ihr etwas von dieser Hinrichtung?« fragte Athelstan, als sie durch die Shambles zur Cheapside eilten.
»Nichts«, antwortete Cranston. »Der arme Hund wurde wahrscheinlich vor dem Königlichen Kammergericht abgeurteilt; da verlangt der Regent dann immer die unverzügliche Vollstreckung des Urteils.«
Sie bogen um die Ecke in die breite Hauptstraße ein. Hier leerte es sich allmählich; die Straßenhändler bauten ihre Stände ab, und Lehrjungen mit müden Augen verstauten die Habe ihrer Herren in Kisten und Körben. Sogar der Pranger war leer, und der städtische Ausrufer ging auf und ab, läutete seine Glocke und rief: »Ihr treuen Untertanen des Königs alle, Eure Geschäfte sind getan. Danket dem Herrn für einen guten Handelstag und eilt sodann nach Hause!«
Straßenkehrer harkten Müll und Abfall zusammen. Cranston blieb stehen, überschattete die Augen vor der Sonne und spähte die Cheapside hinunter.
»Wollt Ihr nicht nach Hause gehen?« fragte Athelstan hoffnungsvoll.
»Da würde ich über Perline Brasenose nichts herausfinden.« Cranston lächelte. »Aber es wäre schön, die Kerlchen zu küssen.«
Sie gingen auf Cranstons Haus zu. »Ich brauche Leif, den Bettler, diesen faulen Hund«, knurrte Cranston. »Er soll eine Nachricht für mich überbringen.«
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als der große, ausgemergelte, rothaarige Bettler wie ein Frosch aus einer Gasse gehüpft kam.
»Sir John, Sir John, Gott segne Euch! Und Bruder Athelstan, möget Ihr alle Dämonen in die Hölle zurückschicken.«
»Du hast also schon davon gehört?«
»Aye, das habe ich«, antwortete Leif; er stützte sich auf seine Krücke und legte den Kopf auf die Seite. »Es heißt, ein Metzger in Southwark habe den Dämon in einem Keller gefangen. Er hatte die Gestalt einer Ziege. Der Metzger hat ihm die Kehle durchgeschnitten, die Ziege in Stücke gehackt und jedermann eingeladen …«
»Das reicht«, unterbrach Cranston ihn. »Wie geht es der Lady Maude?«
Leif lächelte verschlagen. »Sie ist ziemlich wütend, Sir John. Die beiden Hunde haben Eure Pastete gefressen; sie stand auf dem Tisch, um bis zum Abendessen abzukühlen, dick und golden, mit leckerer Kruste. Sie glaubt, die Kerlchen haben sie heruntergenommen und den Hunden gegeben. Außerdem beschwert Lady Maude sich über den Gestank vom Stadtgraben. Sie sagt, wenn sie dort heute abend den Müll verbrennen, wird man morgen unmöglich die Wäsche trocknen können.«
»Ja, ja, ganz recht«, brummte Cranston und warf einen schnellen Blick die Straße hinunter zur Wirtschaft »Zum Heiligen Lamm Gottes«. Er räusperte sich. »Vielleicht ist es am besten, Bruder, wenn wir Lady Maudes Zorn ein wenig abkühlen lassen.«
»Ich bin ganz ausgehungert, Sir John«, heulte Leif und fügte mit einem Seitenblick auf Athelstan hinzu. »Ihr doch auch, nicht wahr, Pater?«
Athelstan nickte. Er war hungrig, die Beine taten ihm weh, und er konnte Sir Johns großzügiges Hilfsangebot nicht zurückweisen.
»Vielleicht ein Schluck Ale und ein Happen zu essen im ›Lamm Gottes‹, Sir John?«
»Müßt Ihr denn nicht nach Hause?« fragte Leif unschuldig. »Staatsangelegenheiten, Staatsangelegenheiten«, seufzte Cranston.
»Ich habe auch Hunger, Sir John«, erklärte Leif schlau. »Lady Maude erwartet mich.«
»Du kannst mitkommen«, sagte Cranston. »Aber vorher läufst du durch die Straßen und suchst den Totensammler. Sag ihm, Sir John erwartet ihn im »Heiligen Lamm Gottes‹. Ja, ja, ich verstehe schon …«Er drückte dem Bettler einen Penny in die ausgestreckte Hand. »Du brauchst Wegzehrung.«
Der Bettler wollte davonhinken, aber Cranston hielt ihn am Arm fest. »Was gibt es Neues in der Cheapside, Leif?«
Der Bettler kratzte sich an der Nase. »Es sind noch mehr Katzen verschwunden, Sir John.« Er deutete auf einen großen, hochwandigen Müllwagen. »Die Leute haben das Vertrauen verloren. Sie bezahlen jetzt schon Hengist und Horsa dafür, daß sie ihre Katzen suchen.«
»Ist das wahr?« knurrte Cranston. »Jetzt aber los, Leif, und tu, was ich dir aufgetragen habe.«
Der Bettler hüpfte davon, flink wie ein Windhund, denn er brannte darauf, so schnell wie möglich ins »Heilige Lamm Gottes« zu kommen, um das Abendessen zu verzehren, das Sir John ihm versprochen hatte. Cranston marschierte unterdessen auf die beiden Mistsammler zu. Sie säuberten die Kloake in der Mitte der Cheapside, schaufelten Kot und Abfälle heraus und warfen den ganzen Müll fröhlich auf ihren mächtigen, stinkenden Karren.
»Gott segne Euch, Ihr Herren«, begrüßte Cranston sie.
Die beiden hielten in ihrer Arbeit inne und schoben ihre Kapuzen zurück.
»Reizende Burschen!« rief Cranston. »Bruder Athelstan, das sind Hengist und Horsa. Die Mistsammler von der Cheapside.« Die beiden Männer grinsten verlegen. Sie waren Zwillingsbrüder, und ihre schmutzigen, warzenbedeckten Gesichter glichen einander wie ein Ei dem andern - nur, daß Hengist einen Zahn hatte und Horsa keinen.
»Guten Tag, Sir John«, riefen sie im Chor.
»Ihr sucht also nach den gestohlenen Katzen?« fragte Cranston. »Aye, Sir John; es ist doch schlimm, wie die armen Tiere verschwinden.«
Hengist lehnte seine Schaufel an den Wagen und wischte sich die Finger an der roten Lederschürze ab. Athelstan sah, daß Horsas Lederschürze viel kürzer geschnitten war. Der Mann bemerkte Athelstans Blick.
»Sie ist kürzer, Pater, damit die Leute uns unterscheiden können.«
»Und habt ihr Katzen wiedergefunden?« wollte Cranston wissen. »Nein, Sir John.« Hengist faltete die Hände wie zum Gebet. »Anscheinend haben die armen Tiere sich in Luft aufgelöst.«
»Und ihr habt auch keinen Hinweis darauf gefunden, wer sie vielleicht stehlen könnte?«
»Nicht den geringsten, Sir John.« Der Bursche machte große Augen. »Aber wir haben alle von dem Dämon in Southwark gehört.«
»Ihr laßt euch bezahlen für eure Suche?« Cranston ließ nicht locker.
»O ja, Sir John. Aber es ist kein Härchen zu entdecken.«
Cranston trat einen Schritt näher und starrte dem Mistsammler in die wäßrigen Augen.
»Sag mir, mein Böckchen«, knurrte er leise, »wenn ihr kein Härchen entdecken könnt, wieso nehmt ihr dann kleinen Hökern und armen alten Weibern ihre Pennies ab?«
»Sir John, wir nehmen ja nicht viel. Die Leute haben uns um Hilfe gebeten.«
»Aye, und wenn das so ist, müssen sie wirklich verzweifelt sein«, knirschte Cranston. Er schob den Mann beiseite und ging weiter.
»Sir John, Ihr wart über Gebühr schroff«, erklärte Athelstan und beeilte sich, ihn einzuholen.
Cranston schüttelte nur den Kopf und beschleunigte seinen Schritt; zielstrebig wie ein Pfeil marschierte er dem »Lamm Gottes« entgegen. Drinnen angekommen, legte er seinen Mantel ab und warf der Wirtsfrau den leeren Weinschlauch zu; sie kam geschäftig aus der Küche, um Sir John wie einen lange vermißten Bruder zu begrüßen.
»Bring uns Ale.« Cranston kniff sie in die runde Wange. »Und eine von deinen Pasteten - aber eine frisch gebackene, wohlgemerkt, nicht eine von gestern.«
»Aber Sir John, als ob wir jemals…« Die Wirtin lächelte geziert. Cranston schob seinen Wanst auf eine Bank am Fenster, nachdem zwei Händler, die den Coroner und seine Gewohnheiten kannten, hastig Platz gemacht hatten. Er setzte sich und schaute durch das Fenster in den Garten.
»Du meinst also, ich sei schroff, Bruder. Aber ich würde diesem kostbaren Pärchen nicht weiter trauen, als ich spucken kann.« Cranston schwieg, als die Schankkellnerin ihnen zwei überschäumende Humpen Ale brachte. Er nahm einen Schluck und lehnte sich dann an die Wand. »Aber vielleicht, mein lieber Bruder, vielleicht bin ich wirklich schroff. Was diese beiden angeht, so gibt es da manchen Verdacht, aber wenig Beweise.
Indessen - ›es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe‹. Komm, Bruder, entspanne dich.« Er umfaßte seinen Humpen mit beiden Händen und beobachtete Athelstan mit halbgeschlossenen Augen. »Ich frage mich, was unser geliebter Regent da für Pläne schmiedet«, murmelte er. »All dieser Trubel, die Todesfälle in Westminster, und dann diese öffentliche Hinrichtung … Ich vermute, daß mit all dem ein Zweck verfolgt wird, aber ich will verdammt sein, wenn ich ihn erkenne!«
»Und der junge Perline?« fragte Athelstan hoffnungsvoll.
»Ich habe nach dem Totensammler geschickt«, sagte Cranston. »Perline hat im Tower gewohnt und gearbeitet, und in den Gassen der Stadt geschieht nichts, ohne daß der Sammler davon weiß.« Er richtete sich auf, als die Kellnerin mit zwei Schüsseln wiederkam; jede enthielt eine Pastete, heiß und würzig, säuberlich in vier Teile geschnitten und mit einer Zwiebelsauce bedeckt. Cranston zog seinen Homlöffel hervor, putzte ihn säuberlich an einem Mundtuch ab und begann zu essen.
»Und die Sache mit den Katzen?« fragte Athelstan.
»Aye, Bruder, auch darüber weiß der Sammler vielleicht etwas.« Sie setzten ihr Mahl schweigend fort und waren fast fertig, als Leif hereingehinkt kam. »Sir John, er kommt, er kommt!«
»Der Coroner deutete in die hintere Ecke der Schenke. »Dann verpiß dich, Leif, und setz dich da drüben hin. Iß und trink, was du willst, aber geh ja nicht zu Lady Maude und erzähle ihr, wo ich bin! Hast du verstanden?«
Leif hob die rechte Hand und schwor einen feierlichen Eid. Kaum hatte sich der Bettler in seinem Lieblingswinkel niedergelassen, als eine verhüllte Gestalt wie ein Schatten hereinglitt.