7

Der Totensammler setzte sich Athelstan und Cranston gegenüber auf einen Schemel. Er schlug die Kapuze nicht zurück und zog auch die schwarze Seidenmaske nicht herunter, die die untere Hälfte seines Gesichts bedeckte. Athelstan sah sehr feine Brauen über schweren Lidern und seltsame Augen: dicht beieinander und so blau, daß es einen kalt überlief, und ihr Blick war fest und flackerte nicht.

»Mylord Coroner.« Die Stimme war wohltönend, kaum mehr als ein Flüstern durch den Schlitz in der Seidenmaske. »Was wollt Ihr vom Sammler der Toten?«

»Wir, äh …« Athelstan geriet ins Stammeln. »Ich brauche deine Hilfe.«

Der Sammler wandte den Blick nicht von Cranston. »Ich komme nur, wenn der Coroner ruft.« Erst jetzt schaute er Athelstan an, und der Ordensbruder war sicher, daß der Mann lächelte. »Gleichwohl, Bruder Athelstan, Pfarrer von St. Erconwald, brauchst du alle Hilfe, die du bekommen kannst, nicht wahr?« Athelstan spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Insgeheim verfluchte er seine Angst; es waren die Augen und der süßliche Parfümduft, den die wollenen Gewänder des Mannes verströmten, was ihm an die Nieren ging.

»Nimmst du niemals diese Maske ab?« fragte Athelstan in scharfem Ton; er hatte Mühe, das Zittern seiner Stimme zu unterdrücken.

»Ziehst du niemals deine Dominikanerkutte aus?« versetzte der Totensammler. Sein Blick kehrte zu Sir John zurück. »Sagt es ihm, Mylord Coroner.«

Cranston trank aus seinem Humpen, aber unter dem Tisch wanderte seine Hand zum Griff seines Dolches. 

»Der Totensammler«, begann er und schaute dem Gast in die Augen, »ist eine geheimnisumwobene Gestalt. Manche behaupten, er sei ein abtrünniger Priester, der eine schreckliche Blasphemie begangen hat und dafür von Gott mit einer bösartigen Krankheit gestraft wurde, die die untere Hälfte seines Gesichts zerfressen hat. Andere sagen, er ist ein Ritter, der in den Kriegen des Königs kämpfte und von einem Pfeil in den Kiefer getroffen wurde. Was auch immer dahinterstecken mag« - Cranston stellte seinen Humpen auf den Tisch -, »als die große Pest die Stadt heimsuchte, war niemand bereit, die verseuchten Leichen zu beseitigen - niemand außer dem Mann, der hier vor uns sitzt. Er erschien im Rathaus, und der Bürgermeister und die Ratsherren mieteten seine Dienste. Und während der Schwarze Tod wütete, schaffte der Sammler, wie man ihn nannte, die Toten zu den großen Gruben beim Charterhouse und verbrannte sie dort. Dafür schloß der Stadtrat einen Vertrag mit ihm: Für ein monatliches Entgelt streift der Sammler nachts durch die Straßen von London und holt alle Toten ab, die er dort findet: Opfer von Gewaltverbrechen, alte Bettler, unbekannte Ausländer und solche, die einfach an irgendeiner schrecklichen Krankheit sterben, ganz allein und ohne Hilfe. Der Totensammler wirft sie auf seinen rot bemalten Karren; mit seiner schwarzen Handglocke streift er durch die Straßen wie der Tod selbst. Für jede Leiche bekommt er zwei Pence. Für die, welche eines gewaltsamen Todes gestorben sind, zahlen die Stadtväter ihm sechs Pence.«

Cranston nahm einen Schluck Bier und schaute dem Totensammler in die hellblauen Augen. »Eigentlich weiß niemand, woher er kommt, und mir ist es auch gleich. Manchmal …« Cranston senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Manchmal behaupten die Leute: Wenn der Sammler dich an der Schwelle zwischen Leben und Tod findet, dann wird der Tod dich gewiß bekommen.«

»Aber wer das sagt, ist ein Lügner, Mylord Coroner.«

»Kann sein«, sagte Cranston müde. »Der Totensammler jedenfalls liest die Leichen von der Straße auf, während sein Kollege, der Menschenfischer, sie aus dem Wasser der Themse zieht.«

»Was wollt Ihr jetzt von mir, Cranston?«

»Bruder Athelstan hat einen jungen Soldaten namens Perline Brasenose in seiner Gemeinde, der der Garnison im Tower angehört. Er ist verschwunden.« Cranston wandte sich Athelstan zu. »Gib ihm eine Beschreibung.«

Athelstan gehorchte; der Totensammler stützte das Kinn in die behandschuhte Hand und hörte aufmerksam zu.

»Ich habe keinen Toten gefunden, auf den deine Beschreibung paßt, Bruder, aber…«

»Aber was?« fragte Cranston.

»Sir John, ich bin Euer Gast. Aber Ihr bietet mir weder Speise noch Trank an.«

Cranston bat um Entschuldigung und rief quer durch den Schankraum. Doch die Wirtin blieb bei den Weinfässern stehen und schüttelte nur den Kopf; mit angstvoll geweiteten Augen starrte sie den Totensammler an.

»Jetzt weißt du, warum ich dir weder Speise noch Trank anbiete«, knirschte Cranston. Er stemmte seine Leibesfülle von der Fensterbank hoch und ging zu der Wirtin hinüber; mit einem bis zum Rand mit Rotwein gefüllten Zinnbecher kam er zurück. »Sie wird den Becher auskochen, wenn du fort bist«, knurrte er. Der Totensammler nippte an dem Wein. Athelstan erkannte, daß mit seiner Unterlippe offenbar etwas nicht stimmte, denn der Mann machte seltsame Schlürfgeräusche, aber dann schloß er für einen Moment genußvoll die Augen und seufzte zufrieden. »Wann ist der junge Soldat verschwunden?« fragte er.

»Vor drei Nächten etwa.«

Der Sammler wiegte sich sanft vor und zurück, und dabei ließ er Cranston nicht aus den Augen. »Ich habe viel zu tun, Sir John. Ich vertändle meine Zeit hier mit Euch, während die Toten auf mich warten.«

Cranston schob eine Münze über den Tisch, und der Sammler ließ sie geschickt verschwinden.

»Am letzten Montag in der Nacht«, sagte er dann, »war ich draußen bei der großen Frachtwaage, wo die Liegeplätze der Hanseschiffe sind. In einer Schenke hatte es eine Prügelei gegeben. Ein Matrose aus Lübeck war totgeschlagen und seine Leiche ausgeplündert worden. Nun arbeite ich ja sonst nicht so nah am Fluß.« Er lächelte unter der Maske. »Der Menschenfischer ist sehr empfindlich, was sein Revier angeht, aber dieser Tote war mein. Doch ich war müde und zog meinen Karren in den Schatten.« Er klopfte gegen eine Flasche unter seinem Mantel. »Wie Ihr, Sir John, brauche ich bisweilen eine Erfrischung. Ein Ruderboot kam zur Flußtreppe. Ein Soldat - daß es einer war, sah ich an seiner Livree - kam die Stufen herauf, begleitet von einem kleinen, gutgekleideten Mann.« Der Sammler unterbrach sich und trank aus seinem Becher. »Eine Zeitlang standen die beiden so da, ohne mich im Dunkeln zu bemerken. Der kleine, gutgekleidete Mann nannte den Soldaten ›Brasenose‹, und dieser wiederum nannte seinen Begleiter ›Sir Francis‹.«    

»Sir Francis Hamett!« rief Athelstan. 

Der Sammler zuckte die Achseln. »Was weiß ich, Bruder. Aber die beiden hatten eine Auseinandersetzung. Sir Francis trommelte mit den Fingern auf seinem Schwertgriff herum und bezichtigte Brasenose, er habe ihn beraubt.«

»Und Brasenose?« fragte Athelstan.

»Er wirkte bedrückt, wachsam, auf dem Rückzug vor den Vorwürfen des anderen. Die Diskussion war zu Ende. Der, den Ihr Perline Brasenose nennt, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in Richtung London Bridge davon. Hamett schrie ihm nach, er solle zurückkommen und er sei ein Dieb, aber der junge Mann ging weiter. Nach einer Weile ging Hamett die Flußtreppe hinunter und stieg in das wartende Ruderboot.« Der Sammler nahm auf seine gespenstische Weise einen Schluck aus dem Becher. »Mehr weiß ich nicht, Sir John, aber wenn Ihr wollt, frage ich meinen Kameraden, den Menschenfischer. Vielleicht hat der Fluß die Leiche des Soldaten abgeliefert.«

»Dafür wäre ich dankbar«, sagte Cranston. »Und sonst weißt du gar nichts?«

Der Totensammler schüttelte den Kopf und leerte seinen Becher. Er wollte eben aufstehen, als Cranston sich vorbeugte und ihn beim Handgelenk festhielt.

»Du kommst auf den Straßen herum«, sagte er. »Ich habe auch ein kleines Rätsel. Du hast zweifellos von den Katzen gehört, die hier verschwinden.«

Der Sammler lachte leise. »Sir John, was wollt Ihr damit sagen? Bittet Ihr mich um Hilfe oder wollt Ihr eine Behauptung aufstellen?«

»Ich will eine Frage stellen«, erklärte Cranston.

»Ich weiß nichts über Eure Katzen, Sir John - nur, daß ihr Verschwinden mir meine Arbeit erschwert. Die Ratten und Mäuse haben sich vervierfacht. Aber ich kann Euch doch etwas erzählen.«

Cranston schob noch eine Münze über den Tisch. Diesmal wühlte der Sammler in einem kleinen Lederbeutel, den er unter dem Mantel trug, und legte zwei schwarzledeme Maulkörbe auf den Tisch.

»Unten bei der Thames Street«, berichtete er, »habe ich in einem Misthaufen den Kadaver einer Katze gefunden, verletzt und verstümmelt. Dieser Maulkorb war fest um das Maul geschnürt. Ich habe den Verdacht, daß jemand dem Tier diesen Maulkorb angelegt hat, damit es keinen Lärm machte; das Tier muß entflohen sein, aber da es den Maulkorb nicht herunterbekam, ist es entweder verhungert oder so schwach geworden, daß es sich nicht gegen die umherstreunenden Hunde zur Wehr setzen konnte.«

Cranston starrte die Maulkörbe voller Abscheu an. »Und der zweite?«

»Den habe ich beim Pranger in der Poultry gefunden; da lag er einfach herum.« Der Sammler stand auf. »Mehr weiß ich nicht, Sir John. Ihr habt bekommen, wofür Ihr bezahlt habt.« Der Totensammler wandte sich ab und verließ die Schenke so schnell, wie er gekommen war.

Athelstan seufzte vor Erleichterung. »Sir John, einige Eurer Bekannten gefallen mir ganz und gar nicht.«

»Wer den Frieden des Königs zu wahren hat, lieber Mönch, hat manchmal seltsame Bettgenossen. Der Totensammler ist aber nicht so furchterregend, wie er aussieht.« Cranston rief die Schankwirtin herüber, damit sie ihnen die Humpen noch einmal füllte. »Ich frage mich wirklich, was Sir Francis, Abgeordneter der Grafschaft Shropshire und Mitglied des Parlaments, mit dem jungen Perline Brasenose zu tun hat.«

Athelstan schaute zur Tür hinaus; das Licht draußen erstarb, und die Dämmerung senkte sich herab.

»Sir John, fühlt Ihr Euch erfrischt?«

»Wozu?« fragte Cranston.

»Für einen Gang zum Tower.«

Cranston streckte seine mächtigen Beine, daß die Sehnen knackten. »Wieso dorthin? Ja, ich weiß, Perline gehörte der Garnison dort an, aber was könnten wir erfahren?«

»Über Perline, Sir John, sehr wenig.« Athelstan richtete sich auf und rieb sich die Augen. »Erinnert Euch, Sir John, daß Coverdale die Abgeordneten aus Shropshire an dem Sonntag, bevor Sir Oliver Bouchon ermordet wurde, zum Tower führte, wo sie sich die Tiere des Königs anschauten. Hamett war dabei. Nach jenem Besuch ist Perline Brasenose verschwunden, und die Morde haben stattgefunden.« Er zupfte den Coroner am Ärmel. »Bitte, Sir John, ich habe genug getrunken, und wir sollten dort sein, bevor es dunkel ist.«

Cranston verbarg seinen Ärger und willigte ein; der Wirtin rief er zu, sie solle seine Bestellung fürs nächste Mal aufheben. Sie verließen das »Heilige Lamm Gottes« und eilten die Cheapside hinunter, durch die Lombard Street nach Eastcheap und auf Petty Wales zu. Es war ein warmer Abend. In den Ale-Schenken herrschte reges Treiben; Türen und Fenster standen offen, und Stimmengewirr und Gelächter schallten heraus. Büttel und Bezirksdiener durchstreiften die Gassen. Athelstan fühlte sich sicher, als sie sich zwischen ihnen hindurchschlängelten und an den sich in die Gasse lehnenden Häusern vorbeiwanderten, wo wenig mehr als ein bellender Hund oder ein paar im wilden Blindekuh-Spiel umhertollende Kinder den Frieden störten. Sie gelangten zur Tower Street. An einer Kirche knieten zwei Almosenempfänger auf den harten Steinstufen; die Rosenkranzperlen wanderten durch ihre Finger, während sie Bußgebete für jeden sprachen, der sie dafür bezahlte.

Weiter hinten saßen ein paar Männer vor der Tür einer Schenke und schauten müßig zwei spielenden Welpen zu. Sie riefen Athelstans Namen, als die beiden vorüberkamen, und der Ordensmann segnete sie. Durch eine schmale Gasse kamen sie nach Petty Wales. Eine klare, klangvolle Knabenstimme sang hoch über ihnen aus einem Fenster. Sie blieben eine Weile stehen, um zuzuhören. Athelstan schloß die Augen; das Lied war eines seiner Lieblingslieder. Er erinnerte sich, wie sein Bruder Stephen es gesungen hatte, als sie während der langen, sonnendurchfluteten Herbsttage ihrem Vater beim Einfahren der Ernte geholfen hatten, bevor sie beide in den Krieg gezogen waren. Stephen war gefallen, und Athelstan war allein zurückgekehrt. Das Herz des Ordensbruders zog sich traurig zusammen; die Stimme des Knaben dort oben klang rein und klar wie Stephens damals. Alle hatten den Gesang seines Bruders gelobt, vor allem am Weihnachtsfest, wenn er in der Dorfkirche vor der Krippe stand und ein fröhliches Weihnachtslied bis unter die Deckenbalken erschallen ließ.

»Bruder?«

Athelstan öffnete die Augen. Cranston schaute ihn verwundert an. Das Lied war zu Ende.

»Ist alles in Ordnung?« fragte Cranston fürsorglich.

Athelstan verschränkte fröstelnd die Arme. »Natürlich, Sir John. Es war nur ein Gespenst aus der Vergangenheit.«

Sie überquerten einen verlassenen Platz. Vor ihnen ragten die schroffen Zinnenmauem auf, die Türme, Bastionen und Bollwerke des Tower, gewaltige Massen von behauenem Stein, eine riesige Festung, nicht erbaut, um London zu verteidigen, sondern um es einzuschüchtem. Sie folgten dem Verlauf der Mauer und überquerten die Zugbrücke; der Festungsgraben unter ihnen war voll von schmutzigem, schleimigem Wasser. Sie gingen durch den schwarzen Torbogen des Middle Tower, der offen klaffte wie ein gewaltiges Maul, in dem das halb herabgesenkte Fallgitter die Zähne waren. Der Eingang wurde von Posten bewacht, die im Schatten standen, in braune Drillichmäntel gehüllt.

»Sir John Cranston, der Coroner«, erklärte Athelstan einem der Wachtposten. »Wir müssen zum Konstabler.«

Der Mann stöhnte, aber ein Blick in Cranstons wütende Augen genügte, und er huschte den gepflasterten Weg hinauf, während sein Kamerad die beiden Besucher ins Torhausführte. Cranston und Athelstan setzten sich auf eine Bank und warteten, bis der Wachtposten zurückkehrte, begleitet von einem aufgeregten kleinen Mann, der sich fortwährend mit dem Mantelsaum das Gesicht betupfte. 

»Was soll das? Was soll das?« fragte der Konstabler. »Sir John, Ihr seid hier nicht zuständig.«

»Ach, macht Euch nicht so verdammt wichtig!« bellte Cranston. »Ihr habt hier einen Gardesoldaten namens Perline Brasenose?« Der Konstabler war offenbar gerade beim Essen gewesen; er stand da und bohrte sich auf abscheuliche Weise mit der Zunge zwischen den Zähnen herum. Cranston schob sein Gesicht dicht an ihn heran. »Ich bin hier nicht zuständig«, flüsterte er honigsüß. »Aber ich komme im Auftrag Seiner Gnaden des Regenten.«

Der Konstabler hob den Kopf. »Sir John, Sir John, es tut mir leid«, blubberte er. »Aber Perline Brasenose ist in der Tat ein Angehöriger der Garnison - oder sollte ich sagen, er war es? Er ist seit Tagen abwesend.«

»Also ein Deserteur?« fragte Athelstan besorgt Der Konstabler klopfte ihm freundlich auf die Schulter. »Keine Sorge, Bruder. Die Franzosen sind nicht gelandet, und der Tower ist nicht in Gefahr. Es ist nicht ungewöhnlich, daß ein junger Mann mal verschwindet.« Dann wurde sein Gesicht ernst. »Das heißt, innerhalb vernünftiger Grenzen. Wenn er im Laufe der Woche nicht wieder da ist, lasse ich ihn zum Deserteur erklären, jawohl.«

»Hatte er am letzten Sonntag Dienst?« wollte Athelstan wissen. »Als die Abgeordneten der Commons den Tower besuchten?« Der Konstabler schürzte die Lippen und starrte an der Mauer hinauf. »Ja, ja, er hatte Dienst Er gehörte zu denen, die sie bei ihrem Rundgang durch den Tower eskortierten, während sie die Königlichen Archive, die Belagerungsmaschinen und natürlich die Königliche Menagerie besichtigten.«

»Gab es irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«

Der Konstabler schüttelte den Kopf. »Der Tower ist ein einsamer Ort, Bruder. Wir warten hier immer nur auf einen Feind, der niemals angreift. Wir bewachen ein paar Gefangene, die in den Kerkergewölben eingesperrt sind, und hin und wieder machen wir einen Ausflug in die Stadt oder aufs Land hinaus.«

»Ihr solltet wachsamer sein«, ermahnte Cranston ihn. »Wenn Ihr aufs Land hinausgeht, dann müßt Ihr doch von den Verschwörungen und Umsturzplänen gehört haben, die die Bauern dort schmieden.«

Der Konstabler machte ein unanständiges Geräusch mit den Lippen. »Sir John, der Tower steht seit dreihundert Jahren. Niemand hat ihn je erobert, schon gar nicht ein Haufen zerlumpter Schweinebauem. Wenn sie kommen, geht unsere Zugbrücke hoch, und dann können sie draußen hocken bis zum Jüngsten Gericht. Weiter kommen sie jedenfalls nicht.«

»Was hat es mit der Menagerie auf sich?« fragte Athelstan.    

»Die Königliche Menagerie …«, sagte der Konstabler spöttisch. Er schob die Daumen hinter den Gürtel und kam einen Schritt näher. »Das ist nichts weiter als eine Ansammlung von Gruben und Käfigen am anderen Ende des Tower. Ein Elefant, Bären, ein paar räudige Katzen, Affen und Paviane. Seit dem Tod des alten Königs hat man wenig für sie getan.« Er verzog den Mund. »Andererseits, unsere Besucher haben sie beeindruckt. Einer vor allem, Sir Francis Hamett, war ganz hingerissen von dem, was er hier sah.« 

»Und es gab keine besonderen Vorkommnisse?« wiederholte Athelstan.

»Bruder, sie sind gekommen und gegangen. Mehr habe ich nicht zu sagen. Und jetzt muß ich gehen.« Damit verschwand er wieder zu seiner Mahlzeit Athelstan und Cranston wanderten durch eine Gasse zurück nach Petty Wales.

»Nicht sehr hilfreich«, bemerkte Athelstan.

Cranston spähte mit schmalen Augen zurück zum Tower. Was er da gesehen hatte, hatte ihm nicht gefallen: schlafende Wachen, einen Konstabler, der sich hauptsächlich für seinen Magen interessierte - und auch die Art und Weise, wie man sie im Torhaus abgefertigt und nicht weiter hineingelassen hatte.

»Wenn ich Gaunt das nächste Mal sehe«, knurrte er, »werde ich mit ihm ein Schwätzchen über den Tower halten. Es ist nötig, die Königlichen Kommissare mal dorthin zu schicken, damit sie die Magazine überprüfen und sich die Musterrolle ansehen. Ich glaube, unser kleiner dicker Konstabler ist sich nicht zu fein dazu, Bestechungsgelder anzunehmen - nicht nur von Leuten, die sich die Königliche Menagerie anschauen möchten, sondern auch von Angehörigen seiner eigenen Garnison, damit sie ein Weilchen verschwinden dürfen.«

»Meint Ihr wirklich?« fragte Athelstan.

»Ich weiß es«, bekräftigte Cranston. »Nach dem Militärrecht und all seinen Auslegungen ist Perline Brasenose ein Deserteur, und sein Name müßte überall in der Stadt angeschlagen werden.« Er schlug Athelstan auf die Schulter. »Und das bedeutet, mein kleiner Bruder, daß Perline nicht tot ist Er hat sich verdrückt und dem Konstabler ein paar Münzen zugeschoben, damit dieser ihn nicht suchen läßt.«

Sie gingen weiter, die Thames Street hinunter nach Billingsgate. Die Luft roch scharf nach Fleisch und Salz. Hier herrschte Hochbetrieb auf der Straße, denn die Fischer bereiteten sich für die nächtliche Fangfahrt vor. Auch Kaufleute und Fischhändler bauten schon ihre Stände auf und stellten Fässer mit Pökellake und Salz für den morgendlichen Fang auf.

An der Ecke der Bridge Street trennten Cranston und Athelstan sich; der Coroner schimpfte noch immer über den Konstabler und versprach Athelstan, sich morgen beim Menschenfischer zu erkundigen, ob dieser etwas zur Klärung der verschiedenen Rätsel beitragen könne. Athelstan bedankte sich und ging zur Brückenauffahrt hinunter. An der Schranke vor der Brücke blieb er stehen. Soldaten lungerten hier herum oder würfelten, ohne die hohen Stangen zu beachten, die rechts und links neben der Brücke aufragten; auf jeder steckte der abgeschlagene Kopf eines Piraten, der beim Plündern von Booten in der Themsemündung gefaßt worden war. Athelstan wies den Paß vor, den Cranston ihm gegeben hatte. Die Schranke wurde geöffnet, und er betrat die Brücke und ging vorbei an den stillen Läden und Häusern, die auf beiden Seiten standen.

Auf halber Strecke, bei der Kapelle von St. Thomas à Becket, blieb Athelstan stehen und trat an die Brüstung. Er schaute über die Themse hinaus und zum Tower zurück. Der Himmel war noch immer von den verblassenden Strahlen der untergehenden Sonne erhellt. Er stand gern hier, wo das Wasser unten an den Pfeilerbefestigungen vorbeirauschte und der Himmel über ihm mit den ersten Sternen gesprenkelt war. Es war, als schwebe er zwischen Himmel und Erde. Athelstan atmete tief durch und betrachtete den Abendstem. Der Wind zerzauste sein Haar und kühlte ihm die schweißfeuchte Stirn, und für kurze Zeit schien er die Müdigkeit und die Probleme des Tages wegzublasen.

»Ich wünschte, ich könnte in die Hallen von Oxford reisen«, murmelte Athelstan. »Dann würde ich die Manuskripte von Roger Bacon studieren.«

Er starrte zu dem Stern hinauf. Bacon hatte auf der Folly Bridge ein Observatorium errichtet und ein faszinierendes Werk über die Sterne und die Planeten geschrieben. Woher waren sie gekommen? Warum bewegten sie sich? Und wenn sie es taten, was hielt sie dann am Himmel fest? Weshalb waren manche Sterne heller als andere? Und bewegte sich auch der Mond? Athelstan lehnte sich an die Brüstung und schloß die Augen. Ob der Pater Prior ihm erlauben würde, einen kurzen Urlaub von seinen Pflichten in London zu nehmen? Athelstan hatte das Raunen gehört: Neuentdeckte Manuskripte aus der Antike waren in Italien kopiert und übersetzt worden und riefen bereits erregte Debatten unter den Gelehrten hervor. Manche munkelten sogar, darin werde bewiesen, daß die Sterne keinerlei Einfluß auf das Verhalten des Menschen hätten, und andere beriefen sich auf den großen Ptolemäus und meinten, die Erde sei nicht flach, sondern eine regelrechte Kugel, und zwar eine unter vielen am Himmel.

Athelstan öffnete die Augen und lächelte. Da sieht man nur wieder, dachte er, daß jede Lebensweise ihre eigenen Probleme mit sich bringt.

Sein eigener Orden spielte eine herausragende Rolle in der Inquisition, in Italien wie auch anderswo. Aber die Inquisition betrachtete alles Neue mit finsterer Miene. Und dann gab es da auch noch Cranston, St. Erconwald und alle seine Pfarrkinder. Athelstan ging zielstrebig weiter. An der Pforte neben dem Torhaus auf der anderen Seite der Brücke blieb er stehen. Die Wache begann wie immer mit gutmütigem Geplänkel und machte ihre Späße über wandernde Ordensleute, und was so einer wohl mitten in der Nacht im Schilde führen mochte. Plötzlich wurde hoch oben im Torhaus ein Fenster aufgerissen. Burdon, der zwergwüchsige Torwächter, schob den Kopf heraus. Die Haare standen ihm zu Berge.

»Um des lieben Himmels willen!« schrie er. »Wollt ihr jetzt das Maul halten? Kann ein Mann mit seiner Frau nicht in Frieden schlafen? Von seinen Kindern ganz zu schweigen?«

Die Wachsoldaten schnitten Grimassen und kicherten hinter vorgehaltener Hand.

»Master Burdon!« rief Athelstan. »Es tut mir leid. Es war meine Schuld.«

Der kleine Kopf drehte sich um. »Ach, Ihr seid’s, Bruder. Entschuldigung! « rief er, und das Fenster wurde krachend zugeworfen.

Athelstan ließ die Wache stehen und ging an der Priorei von St. Mary Overy vorbei und durch eine Gasse auf St. Erconwald zu. Auch in der Nacht schlief Southwark nie. Die Straßen waren voller Huren, Händler und Höker, die versuchten, ihre schäbige Ware an den Mann zu bringen; das meiste, dessen war Athelstan sicher, war auf der anderen Seite des Flusses gestohlen worden. Schenkentüren standen offen, und Lärm, Licht und Gelächter fluteten auf die Straße heraus. Huren tänzelten in ihrem fadenscheinigen Staat vorbei; sie lächelten geziert und zwinkerten ihm zu. Zwei Männer waren über einem Würfelspiel in Streit geraten.

Athelstan sah sich um. Irgend etwas stimmte hier nicht. Normalerweise sah er hier mindestens eines seiner Pfarrkinder: Ursula, die Schweinebäuerin, und ihre dämonische Sau, die ihr überall hin folgte und wie eine Fürstin in Athelstans Kohlgarten schwelgte. Aber sie war nicht da, und auch sonst war niemand zu sehen. Tab, der Kesselflicker, Manyer, der Henker, und der Glöckner Mugwort saßen nicht auf der Bank vor der Schenke »Zum Gescheckten«, und auch Pemel war nicht zu sehen, die alte Flämin, die sich die Haare rot-gelb färbte und den Abend singend vor einem Krug Ale verbrachte.

Schweren Herzens bog Athelstan um die Ecke. Er sah flackernden Fackelschein und hörte die Rufe, und seine bange Sorge wuchs. Irgend etwas stimmte wirklich nicht. Er eilte weiter und bemühte sich, sein pochendes Herz zu besänftigen, aber das Schauspiel vor der Kirche von St Erconwald ließ ihn wie angewurzelt stehenbleiben. Die Kirchentüren waren verschlossen, aber eine große Schar von Gemeindemitgliedem war mit Fackeln in den Fäusten vor der Treppe versammelt und lauschte einer Rede von Watkin, dem Mistsammler.

»0 nein!« stöhnte Athelstan. »Er hat sich bewaffnet!«

Watkin marschierte oben auf der Kirchentreppe hin und her. Er hatte einen kleinen, eisernen Kochtopf auf dem Kopf und einen verschlissenen Lederkragen um die Schultern, und ein rostiges Schwert steckte in dem Gürtel, der sich um seinen vorquellenden Bauch spannte. Flankiert wurde er von zwei Leutnants: Pike, der Grabenbauer, trug ebenfalls einen Kochtopf auf dem Kopf und hielt einen Spieß in der Hand, und Ranulf, der Rattenfänger, hatte sich mit einem Langbogen und einem Köcher voller Pfeile bewaffnet.

»Wir müssen uns bewaffnen«, wiederholte Watkin, stieß mit stumpfen Fingern in die Luft und strahlte, als sich ein Chor von Beifallsrufen erhob, »wenn Pater Athelstan nicht zurückkommt.« Er senkte die Stimme. »Und wer weiß, ob er noch kommt, he? Wir wissen ja nicht, ob der Dämon ihn nicht schon geholt hat.«

Beifallsgebrüll begrüßte seine Worte.

»Wir müssen auf die Jagd nach dem Dämon gehen!«

Wieder schrien alle zustimmend. Entsetzt sah Athelstan, daß Tab, der Kesselflicker, die Statue des Heiligen Erconwald von ihrem Sockel in der Kirche genommen hatte, und der Maler Huddle umklammerte das Prozessionskreuz wie einen Speer. »Benedicta, Benedicta!« stöhnte Athelstan. »Wo bist du?«

Er suchte die Menge ab und entdeckte die Witwe ganz hinten. Sie schien seine Anwesenheit zu spüren, denn plötzlich drehte sie sich um und sah ihn an. Athelstan trat aus dem Schatten hervor. »Watkin!« rief er. 

Der Mistsammler fuhr erschrocken zusammen. »Es ist der Pfarrer!« schrie er. »Der Dämon hat ihn laufenlassen!« Athelstan überquerte den Platz und drängte sich durch die Menge, ohne auf das Schulterklopfen und die guten Wünsche, die ihm zugerufen wurden, zu achten. Dann schaute er in das fette, bimenförmige Gesicht des Mistsammlers hinauf. »Watkin, Watkin«, sagte er. »In Gottes Namen, was machst du denn hier?«

»Wir haben den Dämon gesehen, Pater.« Pike trat vor. »Kurz bevor es dunkel wurde, Pater, eine finstere Gestalt auf dem Friedhof.«    

»Habt ihr getrunken?« fragte Athelstan vorwurfsvoll.

Pike machte ein gekränktes Gesicht. »Pater, ich schwöre beim Kreuz…«

»Lästere nicht«, mahnte Athelstan mit rauher Stimme. »Ich komme von Newgate, wo sie eben deinen Freund, den Fuchs, aufgehängt haben.«

Pikes Unterkiefer klappte herunter.

»Eigentlich ist es meine Schuld, Pater.« Ranulf kam nervös nach vorn. »Ich war heute in dem Haus in der Stinking Alley. Ihr wißt schon, in dem, das der Kaufmann erwerben möchte. Und da habe ich den Dämon gesehen, oben an der Treppe.« 

»Und ihr seid noch einmal hingegangen und habt euch die Sache genauer angesehen?«

»O ja, Pater. Er war nicht mehr da, aber der Gestank war grauenhaft.«

»Und wer hat ihn heute abend gesehen?«

»Ich.« Cecily, die Kurtisane, kam hüftenschwenkend an die Treppe und machte ein unschuldsvolles Gesicht. »Pater, Ihr habt gesagt, ich soll zurückgehen und helfen. Das habe ich getan.«

»Und was habt ihr auf dem Friedhof gesucht?« Athelstan warf Pike, dem Grabenbauer, einen schnellen Blick zu.

»Pater, jetzt seid nicht so«, sagte Cecily. »Ich war allein dort; auf einem Grab lagen ein paar verschimmelnde Früchte, und die habe ich aufgesammelt Es war sehr still. Und dann hörte ich ein Geräusch, bei meiner Seel’.« Sie bekreuzigte sich. »Ich sah die Gestalt unten bei der Mauer; sie stöberte zwischen den Bäumen herum.«

»Und was habt ihr alle jetzt vor?«

Watkin deutete auf die Statue des Heiligen Erconwald und auf das Kreuz, das Huddle noch immer in der Hand hielt »Wir wollen auf den Friedhof gehen, Pater, um den Dämon zu jagen.« Athelstan streckte die Arme in die Höhe und wandte sich seiner Pfarrgemeinde zu. »Brüder und Schwestern«, rief er, »was ist das für eine Dummheit?«

»Wir wollen den Dämon jagen!« schrie Hig, der Schweinebauer.

»Es ist nur eine Frage der Zeit, Pater, bevor er jemand anderen angreift. Und wer weiß, vielleicht nimmt er ihn dann diesmal mit in die Hölle?« Hig senkte die Stimme und schaute in die Runde. »Vielleicht ist er hinter Pike her?«

»Sage ja nichts über meinen Mann«, schrie die Frau des Grabenbauers sofort. »Ausgerechnet du mußt reden, Hig! Ich habe dich heute morgen vor dem ›Gescheckten‹ stehen sehen!«

»Was willst du damit sagen?« rief der Schweinehirt.

»Na, deine Tochter war das nicht!«

Ein böser Streit wäre jetzt ausgebrochen, aber Athelstan klatschte in die Hände und brachte alle zum Schweigen. »Morgen früh«, rief er, »werde ich die Messe lesen und Gott um Hilfe bitten.«

Mißmutiges Stöhnen war die Antwort auf diese Ankündigung. »Aber damit sichergestellt ist, daß wir alle ruhig in unseren Betten schlafen, will ich jetzt den Friedhof besichtigen.« Athelstan hatte allein gehen wollen, aber Watkin hatte die Menge zu sehr in der Hand. Huddle mit dem Kreuz ging - ziemlich besorgt - voraus, gefolgt von Tab, dem Kesselflicker, mit der Statue des Heiligen Erconwald, flankiert von Crim, dem Altardiener, und Amisias, dem Walker, die beide lodernde Fackeln in den Händen hielten. Athelstan schloß die Augen und seufzte, als Watkin neben ihm Position bezog wie ein Earl, der in die Schlacht marschierte. Ursulas Sau stürmte plötzlich voran, drängte sich an Tab vorbei und nahm geradewegs Kurs auf Athelstans Garten, verfolgt von Ursula, die aus voller Lunge kreischte.

Endlich kamen sie auf den Friedhof. Watkin verließ anscheinend der Mut; er hielt sich zurück und bedeutete Pike, seine Position zu übernehmen. Huddle und Tab drückten sich an die Seite, und Athelstan ging den ausgetretenen Pfad entlang, der sich zwischen den Gräbern dahinschlängelte.

Crim, der Altarjunge, kam mit seiner Fackel hinterher. »Hier ist nichts, Pater«, flüsterte er. »Jeder Dämon, der nur halbwegs bei Sinnen ist, wäre schon vor einer Ewigkeit geflohen.«

Athelstan lächelte und spähte in die Dunkelheit. »Ist da jemand?« rief er.

Aber nur der Abendwind raschelte in den Zweigen der Eiben und bog die langen Grashalme zwischen den Grabsteinen. Eine Eule schrie. Athelstan war froh, daß er nicht zusammenzuckte oder aufschrak, auch wenn seine Pfarrkinder hinter ihm hastig zurückwichen.

»Ist jemand da?« rief Athelstan noch einmal. »Im Namen Gottes, zeige dich!«

Er kam sich ein bißchen lächerlich vor, wie er so in die Dunkelheit hineinschrie. Im stillen dankte er Gott dafür, daß seine Brüder aus Blackfriars oder, schlimmer noch, Sir John Cranston ihn jetzt nicht sehen konnten.

»Der Coroner wäre entzückt«, flüsterte eine Stimme neben ihm.

Athelstan fuhr herum und sah Benedictas lächelndes Gesicht. »Er würde sein Schwert ziehen«, fuhr die Witwe fort, »und wie ein Paladin über den Friedhof stürmen.«

»Aye«, antwortete Athelstan. »Und dann brächten wir sie überhaupt nicht ins Bett.« Er runzelte die Stirn. »Benedicta, hättest du sie nicht aufhalten können?«

»Pater, Ihr wißt doch, wie sie sind. Wenn Watkin sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat…« Sie lächelte. »Ihr wart so lange fort, daß sie wirklich dachten, der Dämon hätte Euch geholt.«

»Hatte er auch«, antwortete Athelstan. »Er ist dick und fett, er säuft, und er heißt Sir John Cranston.« Er berührte Benedictas Gesicht mit der Fingerspitze. »Ich erzähle dir morgen, was passiert ist.«

»Macht einen von Euren Segen!« schrie Watkin. »Ihr wißt schon, Pater - drei Kreuze in die Luft!«

»Aye!« brüllte Pike, der keine Lust hatte, Watkin das letzte Wort zu überlassen. »Und schüttet einen großen Eimer Weihwasser aus!«

»Ich werde meinen feierlichen Segen geben«, rief Athelstan zurück. »Gott möge mir meine Lüge verzeihen«, flüsterte er und zwinkerte Benedicta zu. »Es ist der feierlichste Segen, den ein Dominikaner vergeben kann«, brüllte er nun ebenfalls. »Er darf ihn in seinem ganzen Priesterleben nur fünfmal geben, und dies ist für mich das erste Mal!«

Beifälliges Gemurmel kam von seiner Pfarrgemeinde, die neben der Kirche Schutz gesucht hatte. Athelstan drehte sich wieder um und spähte in die Dunkelheit. Um seine Pfarrkinder zu beeindrucken, intonierte er die ersten fünf Verse von Psalm einundfünfzig, und dann hob er die Hand und schlug vier Kreuzzeichen, eins nach Norden, eins nach Süden, eins nach Westen und eins nach Osten. Watkin war zufrieden, und die Leute zerstreuten sich. Benedicta wäre gern noch geblieben, um ihn auszufragen, aber Athelstan schüttelte den Kopf.

»Ich habe jetzt genug vom Reden und vom Laufen«, sagte er entschuldigend. »Ach, wo ist Bonaventura?«

»Der ist vernünftiger«, antwortete Benedicta. »Als Watkin erschien, ging er gleich auf die Jagd.«

»Ein kluger Kater«, knurrte Athelstan, daß es klang wie von Cranston.

Zusammen mit Benedicta ging er hinüber zum Stall, um einen Blick auf Philomel, sein altes Schlachtroß, zu werfen. Und hinter ihnen auf dem Friedhof lauerte der »Dämon« von St. Erconwald zwischen den Bäumen und starrte durch die Dunkelheit zu ihnen herüber.