2. KAPITEL
Irgendwie gelang es Nell, angesichts dieser Neuigkeit keine Miene zu verziehen, obgleich ihre Gedanken sich überschlugen. Colin Cook, einer von Skinners einstigen Kollegen bei der Kriminalpolizei – wenn auch wegen seiner irischen Abstammmung von den anderen nie als solcher akzeptiert –, war jener einzige Beamte, der von den verhängten Sanktionen nach dem Korruptionsskandal verschont geblieben war. Zwar hatte auch er keine ganz reine Weste – Nell wusste, dass auch Cook sich hin und wieder ein paar Scheine zustecken ließ –, dennoch stand der behäbige, dunkelhaarige Ire in dem Ruf, einer der wenigen Vertreter seiner Zunft zu sein, die für Integrität und Kompetenz bürgten. Während die anderen Detectives entweder aus dem Dienst entfernt worden waren oder fortan wieder Streife laufen durften, war Cook eine Stelle angeboten worden, die einer Beförderung gleichkam: Er erhielt einen der begehrten Posten beim Massachusetts State Constabulary. Als Detective der Staatspolizei war Cook nun hauptsächlich dafür zuständig, der stetig wachsenden Kriminalität in Boston Einhalt zu gebieten, vor allem dem zunehmenden Verfall der Sitten. Und natürlich fielen damit auch weiterhin Mordermittlungen in sein Ressort.
„Ich bezweifle, dass Sie richtig unterrichtet sind“, sagte Nell ruhig. „Sonst wären Sie wohl kaum zu dem Schluss gelangt, dass Detective Cook der Schuldige ist.“
„Sie können sich nicht vorstellen, dass er jemanden umbringen könnte?“
„Für eine gerechte Sache? Doch, gewiss. Immerhin hat er im Bürgerkrieg auf Seiten der Unionisten gekämpft. Aber Mord?“ Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Ich erwarte keineswegs, dass Leute wie Ihresgleichen derlei verstehen, aber lassen Sie es sich gesagt sein – es gibt auf dieser Welt durchaus noch Menschen, die über Anstand und Moral verfügen, und Colin Cook ist einer von ihnen.“
„Schön gesagt, Miss Sweeney“, meinte Skinner und verneigte sich spöttisch, „und wenn Cook jetzt hier wäre, würde er bestimmt sehr gerührt sein über das Vertrauen, das Sie in ihn haben. Aber wie das Leben so spielt, ist Vertrauen hier bedauerlicherweise völlig unangebracht. Er hat den Mord begangen. Kaltblütig und brutal, und wie ich auch hinzufügen will, ziemlich schlampig und dilettantisch. Ich war der Erste, der am Tatort eintraf, und eins kann ich Ihnen gleich sagen – das ist ein ziemlich klarer Fall. Bei Nabby’s kennt ihn jeder, ein alter Stammgast ist er, und wir haben drei Zeugen, die alle aussagen, dass er es war.“
„Wir? Ich kann mir kaum vorstellen, dass man Sie mit dem Fall betraut hat. Fiele so etwas nicht in die Verantwortlichkeit der Staatspolizei?“
„Würde es wohl, aber Major Jones, der für das State Constabulary zuständig ist, meinte – wie hat er gleich noch mal gesagt? –, ach ja, dass es ein ‚Interessenkonflikt‘ für seine Jungs wäre, wenn sie gegen einen aus ihren eigenen Reihen ermitteln müssten. Und weil ich ja reichlich Erfahrung als Detective und wahrlich keinen Grund habe, nachsichtig gegenüber Cook zu sein, habe ich mich im Dienste der Gerechtigkeit erboten …“
„Im Dienste der Gerechtigkeit?“, höhnte Nell. „Sie meinen wohl im Dienste der Rache! Nichts wäre Ihnen doch lieber, als Cook eines solchen Verbrechens zu überführen und ihn dafür hängen zu sehen.“
Skinner zog das Laken von einem runden Marmortisch, der in der Mitte des Zimmers stand und auf dem sich einige der Lieblingsstücke aus August Hewitts Sammlung alter Musikinstrumente präsentiert fanden. Er nahm das kleine Jagdhorn zur Hand, ein vielfach verschlungenes Blechinstrument, kaum einen Fuß lang, zerbeult und vom Alter dunkel patiniert. Viola fand es unansehnlich und verstand nicht, weshalb man es nicht endlich diskret im Instrumentenschrank verschwinden lassen konnte. Aber da das Musikzimmer das geschätzte Refugium ihres Gatten war, genoss das unschöne Instrument weiterhin seinen Ehrenplatz auf dem Marmortisch.
Skinner wog das Horn in den Händen, als wolle er prüfen, wie schwer es war. „Ja, ich muss gestehen, dass es mich stets mit Genugtuung erfüllt, wenn ich einen Mörder am Strang baumeln sehe.“
„Und sähen Sie Cook hängen“, meinte Nell trocken, „wären Sie ganz außer sich vor Freude, und sei es nur, weil er Ire ist und ein besserer Mensch als Sie. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, ist er auch noch befördert worden, als die Wahrheit darüber herauskam, was bei der Kriminalpolizei so vor sich ging, wohingegen Sie und die anderen …“
„Er hat uns verraten“, stieß Skinner hervor und bleckte die Zähne. „Während der Anhörungen hat er sich heimlich mit den ganz hohen Tieren getroffen und uns verpfiffen. Dabei haben wir nur unsere Arbeit gemacht. Wenn die wüssten, was es heißt, andauernd mit dem fremden Gesindel zu tun zu haben, das unsere Stadt mittlerweile bevölkert! Und ehe wir es uns versehen, laufen wir allesamt Streife in Paddyland – und haben auch noch einen Paddy als Captain, der mich behandelt, als wäre ich ein streunender Kater, den er am liebsten ertränken würde, während dieser elende Verräter geradewegs in Jones’ Einheit befördert wird! Cook verdient jetzt fast doppelt so viel wie vorher, während ich immer noch zusehen kann, wie ich mit meinen mickrigen achthundert im Jahr auskomme.“
„Ach, Constable, Sie sorgen doch sicher dafür, dass sich Ihr Job besser auszahlt“, meinte Nell mit einem wissenden Lächeln.
„Sie halten sich wohl für eine ganz Schlaue, was?“, erwiderte ihr Skinner und versuchte, einen breiten irischen Akzent nachzuahmen.
„Nun, dumm bin ich zumindest nicht“, sagte sie. „Ich weiß ganz genau, wie Sie und Ihresgleichen bei der Arbeit auf Ihre Kosten kommen. Und wenn Sie behaupten, Cook hätte Sie verraten – wollen Sie mir etwa weismachen, er hätte gelogen?“
„Tja, er hat sich da so einige Sachen ausgedacht, um uns gehörig in Schwierigkeiten zu bringen. Aber ganz oben haben sie ihm alles geglaubt, wollten noch mehr davon hören, und er hat es ihnen erzählt – genau das, was sie hören wollten. Glatt gelogen, so ist das gelaufen.“
„Woher wollen Sie das eigentlich wissen, wenn besagte Gespräche heimlich stattgefunden haben?“, forderte sie ihn heraus.
„Gut aufgepasst, was? Tja, Sie sind wirklich ganz schön clever.“ Er kam näher, packte sie unsanft beim Arm. Sie roch den Rum in seinem Atem, den sauren Geruch seines Schweißes. „Sie beide sind zwei vom selben Schlag, Sie und Cook. Ein Paar durchtriebener, unverschämter Torftreter, die sich nehmen, was sie nur kriegen können, und wenn sie dafür über die Leichen von uns gewöhnlichen, hart arbeitenden Amerikanern gehen müssen. Jede Wette, dass Sie längst nicht so etepetete sind, wenn unser guter Detective Sie mal allein erwischt. Besorgen Sie es ihm gut, Miss Sweeney? Bäumen Sie sich auf und schreien und …“
„Raus.“ Nell versuchte, sich aus seinem unerbittlichen Griff zu befreien, kam aber nicht gegen ihn an.
Mit nur einer Hand stieß er sie gegen die Tür und schob ihr Kinn mit dem Mundstück des Jagdhorns hoch. Drohend flüsterte er: „Ich hätte auch nichts dagegen, Sie mal schreien zu hören.“
„Ganz meinerseits.“ Sie riss ihm das Horn aus der Hand und schlug es ihm ins Gesicht.
Jaulend vor Schmerz taumelte er zurück und prallte gegen den Flügel. „Elendes kleines Miststück!“, stieß er heiser hervor und hielt sich mit den Händen die Nase. „Gottverdammtes …“
„Verschwinden Sie.“ Nell öffnete die Tür, die zum Korridor hinausführte. Zwei Küchenmädchen, die gerade mit Töpfen und Kesseln beladen draußen vorbeiliefen, blieben kurz stehen und starrten den Constable mit großen Augen an.
„So schnell werden Sie mich nicht los“, zischte er und kam auf Nell zu.
„Oh doch, das denke ich wohl“, ließ sich nun eine scharfe Frauenstimme mit britischem Akzent aus dem Roten Salon vernehmen.
Mit einer Miene wütender Entschlossenheit kam Viola Hewitt durch die Verbindungstür zum Musikzimmer hereingefahren. In einem ungewöhnlich streng geschneiderten grauen Kostüm, das von silbergrauen Strähnen durchzogene schwarze Haar fast gänzlich unter einem schwarzen eckigen Reithut verborgen, hinter dem ein feiner dunkler Schleier einherwehte, war Viola sogar im Rollstuhl noch eine einschüchternd imposante, fast schon majestätische Erscheinung.
Mit starrem Blick betrachtete Skinner die in den allerbesten Kreisen Bostons geschätzte und verehrte Mrs. August Hewitt. Das Blut rann ihm zwischen den Fingern hinab, als er schließlich mit zitternder Hand auf Nell zeigte. „Sie hat eben einen Gesetzeshüter angegriffen. Dafür werde ich sie zur …“
„Und ich werde Sie von meinen Lakaien aus diesem Haus werfen lassen, die Ihnen mehr als nur die Nase blutig schlagen dürften, wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden.“
Mit finsterem Blick meinte Skinner zu Nell: „Ich weiß genau, dass Sie wissen, wo er steckt.“
Worauf Nell sagte: „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie …“
„Cook.“ Skinner fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und verschmierte das Blut. Auch seine Wange hatte einen tiefen Kratzer abbekommen. „Er ist gestern Abend verschwunden – nachdem er Cassidy erschossen hat. Und wenn irgendjemand weiß, wo er stecken könnte …“
„Ich habe von Detective Cook schon seit Wochen nichts mehr gehört“, erwiderte Nell.
„Sie verlogenes kleines …“
„Bridget“, sagte Viola zu einem der beiden Küchenmädchen. „Würdest du bitte Peter und Dennis holen? Ich glaube, die beiden sind draußen und laden …“
„Ich gehe ja schon“, murmelte Skinner und fügte an Nell gewandt hinzu: „Sagen Sie Cook, dass wir ihm früher oder später sowieso auf die Schliche kommen. Und damit wir uns nicht falsch verstehen – für diese Sache wird er hängen. Dafür sorge ich schon, da kann er sich drauf verlassen. Und was Sie angeht, Miss Sweeney, so sollten Sie nie vergessen, dass es dort draußen Leute gibt, denen kein einziger Ihrer Schritte verborgen bleibt. Eines Tages bekommen auch Sie noch Ihre Lektion erteilt.“
Nachdem er gegangen war, deutete Viola auf das Jagdhorn, welches Nell noch immer fest umklammert hielt. „Es wurde auch mal Zeit, dass dieses grässliche Ding zu etwas nutze ist.“
Nell atmete auf und lachte leise. Viola nickte kurz mit dem Kopf zur Tür hinüber, die Nell daraufhin schloss.
„Setzen Sie sich doch, meine Liebe“, sagte Viola und kam weiter ins Zimmer gerollt. „Sie sind bleich wie ein Gespenst.“
Erleichtert ließ Nell sich auf einem der verhüllten Stühle nieder und rieb sich den linken Arm, der noch immer schmerzte, wo Skinner sie gepackt hatte.
„Mir ist natürlich bewusst, dass ich mich früher hätte zu erkennen geben sollen“, meinte Viola, „doch als ich merkte, worum es in dem Gespräch ging, hat meine Neugier über den Anstand gesiegt, und so versteckte ich mich stillschweigend hinter dem Kuriositätenkabinett. Detective Cook ist dieser Polizist, den Sie so sehr mögen, nicht wahr?“
Nell lehnte sich zurück und nickte. „Er ist ein grundanständiger Mensch, Mrs. Hewitt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er jemanden umgebracht hat. Ich kann es einfach nicht glauben.“
„Sind Sie sich dessen ganz sicher? Wenn die Umstände danach sind, ist es oft überraschend, wie gewalttätig selbst der netteste Mensch werden kann.“
Hätte Viola gewusst, wie anders Nells Leben noch vor zehn Jahren gewesen war, würde sie ihr gewiss keine Lektion über das Wesen der Gewalttätigkeit erteilt haben. Und so wählte Nell ihre Worte mit Bedacht, um auf diesem Gebiet nicht gar zu bewandert zu erscheinen, als sie nun meinte: „Um jemanden zu töten – und zwar nicht für eine gute, gerechte Sache, sondern beispielsweise im Zorn –, muss man, glaube ich, eine Grenze überschreiten, die die meisten von uns nicht überschreiten können. Es ist fast so, als hätte Gott uns mit einer Art … moralischen Bremse ausgestattet, die uns davon abhält, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, es sei denn, wir haben einen wahrhaft guten Grund dafür.“
„Wäre es denn nicht möglich, dass Ihr Detective Cook einen wahrhaft guten Grund hatte, diesen – wie hieß er noch mal, Cassidy? – umzubringen?“
„Johnny Cassidy. Sie denken an etwas wie Notwehr? Das kann zumindest nicht offensichtlich so gewesen sein, denn sonst würde man ihn ja nicht als Mörder suchen.“
„Und“, fügte Viola bedächtig hinzu, „er wäre wahrscheinlich auch nicht geflüchtet.“
Nell schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Wenn Sie ihn so gut kennen würden wie ich …“
„Stimmt denn, was Sie Constable Skinner erzählt haben – dass Sie seit Wochen nichts von Detective Cook gehört haben?“
Nell nickte und meinte: „Das letzte Mal habe ich ihn vor zwei oder drei Wochen gesehen. Als ich mit Gracie nachmittags im Park war, bin ich ihm zufällig begegnet. Wir haben eine Weile geplaudert, über das neue Haus, das er sich gerade erst gekauft hat, und über seine Arbeit beim State Constabulary.“
„Und von irgendwelchen Problemen im North End hat er nichts erzählt oder …?“
„Er meinte nur, dass er ziemlich viel Zeit dort zubringe, beruflich, was aber auch seinen neuen Aufgaben entspricht und daher nicht ungewöhnlich ist. Im North End und auch in Fort Hill, da in den irischen Slums eben die meisten Spielhöllen und Schenken und … derlei Lokalitäten liegen.“
„Bordelle“, ergänzte Viola mit feinem Lächeln. „Sie können es ruhig sagen – wir sind ja unter uns.“
Nell erwiderte das Lächeln. Eine von Violas einnehmendsten Eigenschaften war ihre Offenheit in heiklen Belangen – wahrscheinlich ein Relikt ihrer jungen Jahre als Bohemienne in Paris.
„Er sprach von seiner Arbeit“, erzählte Nell weiter. „Aber nur ganz allgemein. Er meinte, dass es eine sehr wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe wäre, in einer Stadt wie Boston gegen den Verfall der Sitten anzugehen. Zuletzt hätte man über dreitausend Lokale gezählt, in denen Alkohol ausgeschenkt wurde, Dutzende Spielhallen und zwischen zwei- und dreihundert … ‚Logierhäuser‘, wie er sie nannte.“
Viola lachte leise über Cooks wohlanständige Umschreibung.
„Wenn es irgendjemandem gelingen kann, in diesen Vierteln aufzuräumen, dann Colin Cook“, sagte Nell. „Er ist ein sehr guter Polizist und durch und durch Ire. Er passt zu den Leuten, die dort leben, er weiß wie sie denken, er spricht ihre Sprache. Und er hat einen sehr ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit.“
„Und dennoch“, seufzte Viola, „scheint er nun selbst vor dem Gesetz auf der Flucht zu sein.“
Nell vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ihre Begegnung mit Skinner wühlte sie noch immer sehr auf. „Ich kann mir auch nicht erklären, wie es dazu kommen konnte. Und es ist ja nicht nur Skinner, der ihn für schuldig hält. Der Präsident des State Constabulary muss ihn gleichfalls verdächtigen, sonst hätte er Skinner kaum auf ihn angesetzt. Ich habe furchtbare Angst, dass man ihn findet und … Oh Gott. Bis ich vom Cape zurück bin, ist er vielleicht längst im Gefängnis – wenn nicht gar schon am Galgen! Skinner wäre es sogar zuzutrauen, dass er die Sache selbst in die Hand nimmt, Cook an Ort und Stelle beseitigt und dann behauptet, er hätte flüchten wollen. Skinner ist alles zuzutrauen.“ Sie schauderte.
Viola fuhr zu Nell heran und nahm ihre Hand. „Sie wollen Detective Cook helfen, nicht wahr?“
„Ja, aber wie?“, erwiderte Nell mit erstickter Stimme. Tränen stiegen in ihr auf und schnürten ihr die Kehle zu. „Ich … ich werde auf Cape Cod sein, während Skinner hier Jagd auf ihn macht und … und …“
„Und Sie werden sich die ganze Zeit furchtbare Sorgen um Ihren Freund machen und sich fragen, ob man ihn wohl schon gefunden hat“, setzte Viola hinzu.
„Oder ob man ihn schon getötet hat.“
„Ich könnte mir vorstellen, dass Sie in diesem Zustand für Gracie nur von wenig Nutzen sind.“
„Nein, ich … ich würde niemals zulassen, dass …“
„Sie können aber nicht anders, und es wäre nur zu verständlich, denn schließlich sind Sie auch nur ein Mensch.“ Nach kurzem Überlegen meinte Viola: „Und ich kenne Sie doch. Sie besitzen ein starkes Gerechtigkeitsempfinden, und ich weiß, wie loyal Sie gegenüber Ihren Freunden sind. Ihnen wäre nichts lieber, als in Boston zu bleiben, damit Sie Ihren Polizistenfreund ausfindig machen können, bevor dieser Skinner ihn aufspürt.“
„Natürlich, aber …“
„Wenn Sie möchten, können Sie das ruhig tun.“
Nell schaute auf. „Hierbleiben?“
„Zumindest eine Weile – bis Sie alles geklärt haben.“
„Aber was ist mit Gracie?“
„Eileen könnte sich solange um sie kümmern. Ich lasse Ihnen Geld da, damit Sie uns mit dem Zug hinterherreisen können. Kabeln Sie mir einfach nach Falconwood, wann Sie in Falmouth eintreffen, dann schicke ich Brady, damit er sie abholt. Sehen Sie, es macht wirklich keine großen Umstände – wenn es Ihnen wirklich so wichtig ist.“
„Das ist es. Aber ich hätte das Gefühl, Gracie im Stich zu lassen – und Sie auch.“
„Ach, Gracie ist anpassungsfähig, ebenso wie ich. Und Eileen scheint mir durchaus in der Lage, Ihre Pflichten zu übernehmen, bis Sie wieder bei uns sein können. Bleibt nur die Frage, wo Sie solange wohnen werden, denn mir ist etwas unwohl bei dem Gedanken, Sie ganz allein in diesem großen leeren Haus zurückzulassen. Haben Sie Freunde, die Sie aufnehmen könnten?“
Nell dachte kurz nach. „Da wäre Emily Pratt, aber … nun ja, Sie lebt bis zu ihrer Heirat mit Dr. Foster noch bei ihren Eltern und …“
„Und es versteht sich von selbst, dass Orville Pratt keine irische Gouvernante unter seinem Dach beherbergen kann. Gewiss. Aber wie wäre es denn mit den Thorpes? Wenn Sie sie fragen würden, wären Sie bestimmt einverstanden.“
„Mrs. Thorpe behandelt mich wie eine Spülmagd, und Mr. Thorpe … na ja, er ist der beste Freund Ihres Mannes, und in Anbetracht der Gefühle, die Mr. Hewitt mir entgegenbringt …“
„Hmm … Dann gäbe es noch Max Thurston. Er ist ganz hingerissen von Ihnen.“ Der exzentrische Dramatiker hatte während der letzten Monate eine sehr herzliche Freundschaft mit Viola geknüpft.
Kopfschüttelnd sagte Nell: „Nein, wie sähe das denn aus, wenn ich allein mit einem Gentleman …“
„Schon, aber es ist doch allgemein bekannt, dass Max … nun, sagen wir einfach, dass er gegen weibliche Verlockungen gefeit ist.“
„Es ist bekannt, und dennoch wäre es ein Skandal, wenn ich bei ihm wohnte. Außerdem kann ich sehr wohl hier im Haus bleiben. Es stört mich nicht, allein zu sein, und es wäre ja auch nicht für lange. Hoffe ich zumindest.“
„Sind Sie dessen auch ganz sicher, meine Liebe?“
Nell war sich dessen alles andere als sicher, doch so wie es aussah, blieb ihr kaum eine andere Wahl, und so meinte sie mit aller Zuversicht, die sie aufbringen konnte: „Natürlich. Ich werde die Türen abschließen und die Vorhänge zuziehen. Niemand wird wissen, dass ich hier bin.“