3. KAPITEL
Sie sollten nie vergessen, dass es dort draußen Leute gibt, denen kein einziger Ihrer Schritte verborgen bleibt.
Skinners unterschwellige Drohung wollte Nell nicht mehr aus dem Sinn, als sie in jener Nacht im zweiten Stock des Palazzo Hewitt, wie Will das Haus gern spöttisch nannte, noch immer wach in ihrem Bett lag. Obwohl sie von den Ereignissen des Tages erschöpft war, konnte sie keinen Schlaf finden. Zum Teil mochte dies an der Hitze liegen. Zwar standen die Fenster auf beiden Seiten des Zimmers offen, doch war es eine unerträglich schwüle Nacht, und wenn überhaupt mal ein leichter Windzug hereinwehte, fühlte er sich eher so an, als blase einem heiße Luft aus einer geöffneten Ofentür entgegen.
Größtenteils jedoch rührte Nells Ruhelosigkeit von dem Wissen her, dass sie nun völlig allein war. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen hierzubleiben, aber dennoch kam sie sich jetzt in diesem riesigen Haus mit seinem gespenstisch verhüllten Mobiliar sehr einsam und verloren vor – und sehr schutzlos.
Da Nell nie zuvor gänzlich allein, ohne die Familie und eine Heerschar von Bediensteten, hier gewesen war, hatte sie nicht mit dieser absoluten, alles vereinnahmenden Leere gerechnet. Keine gedämpften Stimmen waren mehr durch die Wand zu vernehmen, keine Türen, die geöffnet und geschlossen wurden, keine Schritte, nicht ein einziger Laut, der Leben erkennen ließe. Nur das leise, weit entfernte Ticken der Standuhr im vorderen Salon drang von unten herauf. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es jemals zuvor bis in ihr Schlafzimmer gehört zu haben, auch nicht mitten in der Nacht, wenn es ganz ruhig im Haus gewesen war. Doch nie war es so ruhig gewesen wie jetzt.
Sie stand auf, ging zur Uhr hinüber, die auf dem Kaminsims stand, und versuchte, im schwachen Mondschein die Zeit abzulesen – fast schon ein Uhr morgens. Eigentlich sollte man ja meinen, dass sie, nachdem sie seit bald zweiundzwanzig Stunden wach war und die Nacht zuvor auch nur fünf Stunden geschlafen hatte, viel zu erschöpft wäre, als dass sie trotz der beängstigenden Unruhe, die sie erfasst hatte, nicht einschlafen konnte.
Das Haar hing ihr schwer und feucht in den erhitzten Nacken, und sie suchte in der obersten Kommodenlade nach einem Samtband, um es sich aufzubinden. Als sie in ihrer kleinen Kollektion von Handschuhen, Kragen und Bändern kramte, stieß sie auf einen ordentlich gefalteten, in feines Papier gewickelten Seidenschal, den sie weit hinten in der Schublade verwahrte – den Schal, den Will Hewitt getragen hatte, als sie ihn im Januar das letzte Mal gesehen hatte.
Nell war an jenem eisig kalten Morgen zum Bahnhof gekommen, um sich von Will zu verabschieden, der mit dem Zug nach San Francisco und von dort weiter mit dem Dampfschiff nach Shanghai fahren wollte. Es würde eine lange und anstrengende Reise werden, die vielleicht Jahre dauerte und auf die er sich keineswegs freute, die ihm aber unabänderlich geboten schien, um etwas Abstand zu gewinnen.
Sein Abschied aus Boston bedeutete nicht nur, dass er sie und Gracie verließ, sondern auch seine Stelle als Professor für Gerichtsmedizin an der Harvard Medical School aufgab – obwohl sie ihm, wie Nell wusste, sehr viel bedeutete. Sie hatten nie offen über die Gründe gesprochen, die ihn zu der Reise bewegt hatten, über die tiefen Gefühle, die sich in den fast drei Jahren ihrer Bekanntschaft zwischen ihnen entwickelt hatten. Nur konnten diese nirgendwohin führen, war sie doch leider Gottes bereits verheiratet. Als Katholikin kam eine Scheidung für sie nicht infrage, denn sollte sie sich scheiden lassen und jemals wieder heiraten, würde sie exkommuniziert werden. Und so hatte Nell sich damit abgefunden, bis an ihr Lebensende eine alte Jungfer zu bleiben, denn eine Liebschaft ohne ehelichen Segen zu unterhalten könnte sie ruinieren, sollte es jemals bekannt werden. Sie würde ihre Stelle als Gouvernante verlieren und ihr Zuhause bei den Hewitts, was schlimm genug sein würde, doch das Schlimmste wäre, dass sie auch Gracie aufgeben müsste.
Will hatte das verstanden und sich schließlich für einen längeren Aufenthalt fern von Boston entschieden. Auf diese Weise, so hoffte er, konnten sie beide etwas Erleichterung erfahren und waren nicht mehr beständig dem Dilemma ausgesetzt, zwar Zeit miteinander zu verbringen, letztlich jedoch nie wirklich zusammen sein zu können. Er war überrascht gewesen, sie an jenem Morgen am Bahnhof zu sehen – und mehr noch, als sie ihn dann an das Angebot erinnerte, welches er ihr in einem schwachen Moment gemacht hatte: ein Kuss von ihr – nur einer, niemals wollte er um einen zweiten bitten –, und er würde in Boston bleiben. Danach würden sie so weitermachen wie bisher, nie mehr von all dem sprechen, was besser ungesagt blieb. Mit dem Kuss sollte es gut sein und ein Ende haben.
Aber der Kuss war keineswegs das Ende von allem gewesen, sondern ein Versprechen, das so viel mehr verhieß. Er war wunderbar und überwältigend gewesen, das Eingeständnis eines geheimen Verlangens, das niemals hätte offenbar werden sollen. Eine Tür war aufgestoßen worden, und ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, wussten sie beide, dass Nell alles verlieren könnte, wenn sie hindurchgingen.
Und so war Will in letzter Minute noch auf den abfahrenden Zug aufgesprungen, ihretwegen, und sein Schal war davongeweht, als er den Bahnsteig entlangrannte. Nell hatte den Schal aufgehoben – sie erinnerte sich noch, wie ihre tränenfeuchten Wangen in der eisigen Kälte gebrannt hatten –, und ihn mit nach Hause genommen. Ebenso wie seinen Zylinder, der während des innigen Kusses zu Boden gefallen war, und den sie seither in einer Hutschachtel im obersten Fach ihres Schranks verwahrte.
Zum ersten Mal, seit sie den Schal in ihre Schublade getan hatte, schlug sie nun das feine Papier zurück und ließ die Seide durch ihre Finger gleiten. Sie faltete ihn auseinander, hielt ihn sich an die Nase und roch noch einen Hauch von Bay-Rum-Seife und Tabak. In den Monaten vor seiner Abreise hatte Will seinen Zigarettenkonsum zwar erheblich reduziert, doch als er an jenem Morgen auf den Zug gewartet hatte, hatte er geraucht – sein inhalierbares Nerventonikum, wie er sagte. Etwas, das mich beruhigt und mir zu tun gibt, wenn ich die Welt und meine Rolle darin mal wieder kaum ertragen kann.
Der bittersüße Duft des Schals trieb Nell Tränen in die Augen. Wie sehr sie Will während der letzten sechs Monate vermisst hatte! Sein geistreicher Witz, dieses still vertraute Lächeln, seine samtig tiefe Stimme mit dem britischen Akzent, den er sich von seiner in England verbrachten Jugend bewahrt hatte. Ihr war fast, als wäre ihr das Herz aus der Brust gerissen worden, so leer fühlte sie sich, so verloren und allein. Sie war immer stolz darauf gewesen, unabhängig und sich selbst genug zu sein, und hier stand sie nun, den Tränen nah, weil sie jemanden vermisste, der ihr doch nie mehr als ein Freund würde sein können – der liebste Freund, den sie jemals gehabt hatte, das wohl, aber doch nie mehr. Wie hatte es nur dazu kommen können, dass dieser komplizierte Mann, dieser Glücksspieler, dieser unstete, in der Welt herumreisende Lebemann ihr auf einmal wie die andere Hälfte ihrer selbst vorkam?
Vom Korridor her drang ein dumpfes Knarren. Nell drehte sich um und sah einen schmalen Lichtstreifen unter der Tür ihres Zimmers. Als sie zu Bett gegangen war, hatte sie die Lampen im Korridor indes nicht angemacht.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie den Schal lautlos zurück in die Schublade legte und eine Hutnadel aus der Porzellandose auf ihrer Kommode nahm. Mit leisem Quietschen wurde draußen eine Tür geöffnet – die Tür, welche in das Kinderzimmer führte.
Jede Wette, dass ich jedes Schloss in diesem Haus in weniger als einer Minute geknackt hätte.
Nell bekreuzigte sich mit zitternder Hand und sandte St. Dismas ein eilig geflüstertes Stoßgebet. Dann huschte sie auf bloßen Füßen leise zur Tür und lauschte reglos.
Im Kinderzimmer hörte sie das lose Dielenbrett unter dem Perserteppich knarren. Er suchte nach ihr. Gleich würde er die Verbindungstür entdeckt haben, die zu ihrem Zimmer führte.
Ganz vorsichtig öffnete sie die Tür zum Korridor und rannte los. Als sie an der offen stehenden Tür des Kinderzimmers vorbeilief, rief ein Mann: „Halt, hier geblieben!“
Nell stürmte den von Gaslichtern erhellten Gang hinab, die Schritte ihres Verfolgers dicht auf den Fersen. Fast hatte sie schon den Treppenabsatz erreicht, als er sie von hinten packte und zu Boden riss.
Bäuchlings landete sie auf dem Teppich, wälzte sich herum und holte mit ihrer Hutnadel aus. Immer auf die Augen zielen, dachte sie, bevor er auf sie fiel.
„Nell!“ Er packte ihr Handgelenk – hielt ihre beiden Hände fest, drückte sie zu Boden und meinte: „Verdammt noch mal, willst du mir die Augen ausstechen?“
Ungläubig sah sie zu dem ihr so vertrauten Gesicht auf, dem nachtschwarzen Haar, das ihm nun wirr in die Stirn hing.
„Will? Ach, du liebe Güte!“ Sie konnte es kaum glauben. Er war es wirklich, Will war hier! Nell schüttelte den Kopf, als wolle sie ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken zur Vernunft bringen. „Ich … es tut mir leid“, sagte sie schließlich und lachte nervös. „Ich … ich habe dich für Skinner gehalten.“
„Skinner? Charlie Skinner?“ Will ließ ihre Handgelenke los, setzte sich auf und strich sich das Haar zurück. „Was zum Teufel sollte er hier mitten in der Nacht tun?“
„Was tust du denn hier?“, fragte sie und stützte sich auf die Ellenbogen.
„Das könnte ich dich auch fragen.“ Er stand auf – was ihm aufgrund der alten Schussverletzung in seinem Bein ein wenig schwerfiel – und reichte ihr die Hand. „Solltest du nicht auf Cape Cod sein?“
„Etwas ist dazwischengekommen“, sagte Nell und ergriff seine Hand.
Er half ihr auf, wobei sein Blick auf ihre entblößten Arme und Beine fiel. Heiß schoss ihr das Blut ins Gesicht, als sie ihrer spärlichen Bekleidung gewahr wurde – sie trug lediglich ihr Sommernachthemd, ein kurzes, ärmelloses Nichts aus dünnem Leinen.
Galant wandte er sich ab und meinte: „Ich, ähm … ich hole dir deinen Morgenrock.“
Die Knie waren ihr noch ganz weich, als sie ihm zu ihrem Zimmer folgte, sie war verlegen, erfreut und verwirrt zugleich. Will ging mit langen Schritten voran, und sein Gang mutete ihr etwas leichter und anmutiger an als zuletzt, da sie ihn gesehen hatte. Sie wollte nur hoffen, dass er nicht wieder begonnen hatte, den Schmerz mit Opium zu betäuben.
„Will, warum bist du überhaupt hier?“, fragte sie ihn. Er nahm ihren blauen Morgenrock vom Fußende des Bettes und reichte ihn ihr, wobei er seinen Blick diskret abgewandt hielt. „Ich dachte, du wärst noch immer in Shanghai.“
„Ich bin etwas früher als geplant zurückgekehrt“, erwiderte er und zündete die Kerze auf ihrem Nachttisch an. Während sie in den Morgenrock schlüpfte, drehte er sich um, war mit einem raschen Schritt bei ihr und zog ihn ihr wieder von den Schultern.
Ihr stockte der Atem. „Was …?“
„Wie ist das passiert?“, wollte er wissen und packte ihren Arm dicht unter den blauen Flecken, die sich wie ein Ring darum schlossen. „Jemand scheint dich recht grob angefasst zu haben.“
„Skinner“, sagte sie seufzend.
Er sah sie an, die dunklen Augen finster umschattet, das Kinn mit jenem bedrohlichen Ausdruck gereckt, den sie so einschüchternd gefunden hatte, als sie ihm das erste Mal begegnet war. „Was ist passiert?“
Nell ließ sich auf der Bettkante nieder, zog den Morgenrock um sich und knöpfte ihn sich bis obenhin zu, derweil sie Will von Skinners Besuch erzählte. Will stand an den Bettpfosten gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, und hörte ihr schweigend zu. Nur ab und an entfuhr ihm eine leise Verwünschung.
Die Hände geballt, stieß er sich schließlich vom Bettpfosten ab und meinte: „Diesem Mistkerl gehört mal eine ordentliche Lektion erteilt.“
„Ich mache mir eigentlich eher Sorgen um Detective Cook. Wahrscheinlich hat Skinner keine anderen Verdächtigen mehr in Betracht gezogen, sowie er merkte, dass er Cook für den Mord rankriegen könnte. Wenn der Fall ihm überlassen bleibt, wird der arme Cook am Galgen enden. Ich muss unbedingt herausfinden, was da wirklich geschehen ist und wie dieser Johnny Cassidy überhaupt gestorben ist.“
„Ach, Nell …“ Will fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Du und deine Feldzüge im Namen der Gerechtigkeit.“
„Colin Cook ist mein Freund, Will“, stellte Nell klar. „Er ist ein guter, anständiger Mensch, und ich werde nicht zulassen, dass er zu Unrecht verurteilt wird.“
„Natürlich nicht“, beschwichtigte er sie mit einem verschmitzten kleinen Lächeln. „Aber dir ist schon klar, dass du die ganze Bostoner Polizei gegen dich aufbringst, wenn du dich gegen Skinner stellst. Aus dieser Richtung dürftest du kaum Hilfe zu erwarten haben – eher wohl das Gegenteil. Polizisten halten zusammen.“
„Ich weiß, dass es nicht einfach sein wird.“
„Das ist es bei dir nie.“ Will machte es sich auf dem Bett bequem, so selbstverständlich, als ob sie alte Freunde wären, die zu später Stunde noch ein wenig plauderten. Diese unkomplizierte Vertraulichkeit mit ihm hatte ihr während der letzten sechs Monate furchtbar gefehlt. „Und wie willst du den guten Detective Cook aus Constable Skinners Klauen befreien?“
„Zunächst mal wäre es hilfreich, wenn ich ihn finden und er mir erzählen würde, was tatsächlich geschehen ist.“
„Und weshalb er sich dem Zugriff des Gesetzes entzieht.“ Nach einer bedeutungsschweren Pause fügte Will hinzu: „Ich vermute, dass du noch nicht ernstlich erwogen hast, er könne tatsächlich schuldig sein.“
„Eines Mordes schuldig?“ Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Ausgeschlossen. Ich vermute, dass er untergetaucht ist, weil alles so aussieht, als habe er den Mord begangen, und er nicht für ein Verbrechen hängen will, mit dem er nichts zu tun hat.“
„Keine voreiligen Schlussfolgerungen, liebe Cornelia“, meinte Will und hob mahnend den Finger. Sie musste lächeln, hörte sie dies doch nicht zum ersten Mal.
„Na gut, aber vielleicht ist er ja auch gar nicht aus freien Stücken verschwunden. Vielleicht hat der wahre Mörder etwas mit seinem Verschwinden zu tun.“ Nell lehnte sich an das Kopfende ihres Bettes und schlang die Arme um die Knie. „Es gibt unzählige Fragen, auf die wir eine Antwort brauchen. Ich weiß bislang weder über die näheren Umstände des Mordes Bescheid noch wer dieser Johnny Cassidy überhaupt war oder warum man Cook für seinen Mörder hält. Ich muss ihn finden. Vielleicht weiß seine Frau ja etwas.“
„Kennst du sie?“
Nell schüttelte den Kopf. „Wir sind uns nie begegnet, aber Cook spricht sehr oft von ihr, immer sehr liebevoll. Sie kommt auch aus Irland, so wie er. Irgendwann hat er mir mal erzählt, dass er mit dem Trinken aufgehört hat, als er sie geheiratet hat. Viel mehr weiß ich eigentlich auch nicht über sie. Ich weiß sogar nicht einmal, wie sie mit Vornamen heißt. Er nennt sie immer nur Mrs. Cook.“
„Dann weißt du wahrscheinlich auch nicht, wo die beiden wohnen.“
„Doch, nachdem er zur Staatspolizei befördert worden ist, hat er ein neues Haus gekauft. Er sagte, es wäre …“ Sie versuchte, sich an den Straßennamen zu erinnern. „Es war irgendwas, das mit dem Bürgerkrieg zu tun hatte. Lafayette? Gibt es in Boston eine Lafayette Street?“
„Eine Fayette Street gibt es“, meinte Will. „In der Nähe der Church Street, ein nettes kleines Viertel südlich vom Public Garden.“
„Ja, das muss es sein“, sagte Nell. „Ich werde gleich morgen hingehen, das Haus ausfindig machen und mich Mrs. Cook vorstellen. Vielleicht weiß sie ja etwas, das mich weiterbringt. Und dann werde ich mich mal ein bisschen im North End umhören.“
„Ah ja, dich ein bisschen umhören.“ Will ließ sich auf den Rücken fallen und rieb sich das Gesicht. „Im North End.“ Er stieß einen ungläubigen Laut aus, der irgendwo zwischen einem Stöhnen und einem Lachen angesiedelt war. „Nell, Nell, Nell …“
„Dort hat sich der Mord nun mal ereignet“, stellte sie klar.
„Dort ereignen sich jeden Tag einige Morde, liebe Cornelia. Und zudem noch etliche Schlägereien und Messerstechereien, Diebstähle und Vergewaltigungen, wie dir vielleicht bekannt sein dürfte.“
„Ich kenne mich im North End sehr wohl aus, Will.“
„So?“ Er stützte sich seitlich auf den Ellenbogen und sah ihr besorgt in die Augen, als er fragte: „Wie oft bist du in letzter Zeit dort gewesen, Nell?“
„Fast jeden Sonntagmorgen.“
„Im rosigen Morgenrot, begleitet von Brady, der dich im guten Brougham der Familie zur Kirche und zurück fährt. Ich wage zu behaupten, dass du sehr wenig vom North End zu sehen bekommen hast, denn sonst wüsstest du, dass es nicht gerade das Viertel ist, in dem eine so tugendhafte junge Dame ‚sich ein bisschen umhören‘ sollte. Dort hausen die schlimmsten Schläger und Halsabschneider der Stadt und gehen sich gegenseitig an den Kragen.“
„Ich weiß sehr wohl, wie es in solchen Vierteln zugeht, Will“, beharrte sie. „Ich hatte vor gar nicht allzu langer Zeit selbst mit solchen Leuten zu tun. Vergiss nicht, dass ich mal eine sehr begabte Taschendiebin war.“
„Beklaut zu werden ist im North End fast noch das Beste, was einem passieren kann.“ Einen Moment sah er mit besorgt gerunzelter Stirn beiseite, als müsse er sich über etwas klar werden. „Wenn du es unbedingt riskieren willst, werde ich dich begleiten.“
„Am Ende bin ich es noch, die dich beschützen muss“, meinte sie und grinste vergnügt. „Es ist nämlich ein irisches Viertel, musst du wissen. Ich bin eine von ihnen.“
„Warst du vielleicht mal. Jetzt nicht mehr. Du siehst nach Bostoner Oberschicht aus, du redest so und du benimmst dich auch so. Du müsstest verrückt sein, wenn du dich allein ins North End wagst. Und dass du hier ganz allein in diesem Haus …“ Er schüttelte den Kopf, setzte sich auf und streckte sich. „Es ist einfach zu gefährlich. Wahrscheinlich hätte Skinner wirklich leichtes Spiel, die Schlösser aufzubrechen. So bin ich zumindest vorhin ins Haus gelangt. Was, wenn ich nicht ich, sondern er gewesen wäre?“
„Na, was wohl? Dann hätte ich ihm mit meiner Hutnadel die Augen ausgestochen“, erwiderte sie.
„Woraufhin er dich mit seinem Schlagstock ziemlich wüst traktiert haben dürfte.“
„Wahrscheinlich würde er mich kurzerhand erschossen haben“, meinte Nell trocken.
„Dich erschießen? Man lässt diesen Schwachkopf eine Waffe tragen?“
„Alle Constables scheinen jetzt eine zu tragen.“
„Und wenn man bedenkt, dass viele von ihnen mal selbst als Diebe und Schläger angefangen haben! Sie hatten nicht das Zeug für eine erfolgreiche Verbrecherkarriere, also sind sie auf die Gegenseite gewechselt. Schlimm genug, dass man ihnen Uniformen und Dienstmarken gegeben hat – aber dass sie jetzt sogar bewaffnet sind?“ Sichtlich entsetzt schüttelte Will den Kopf. „Du kannst bei mir wohnen.“
„Was?“
„Da bist du wenigstens in Sicherheit.“
„Will, du weißt ganz genau, dass das nicht geht. Was sollte deine Haushälterin denken? Und die Nachbarn?“
Mit einem reuigen Lächeln meinte er: „Als ob ich mich jemals um die Meinung anderer geschert hätte.“
„Nein, du nicht – aber ich. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, das weißt du ganz genau, Will. Wenn man mich nun Tag und Nacht bei dir ein- und ausgehen sähe, wäre ich ruiniert.“
„Ja, aber …“
„Will, warum bist du so bald schon zurückgekehrt?“, unterbrach sie ihn, da sie das Thema gern wechseln wollte. „Du hattest mir auf meine Frage noch nicht geantwortet.“
Er stand auf, schlenderte im Zimmer umher und schaute sich im Halbdunkel neugierig um. „Sehr schön“, meinte er, als er ihre neuen Zeichnungen betrachtete, die sie mit Nadeln an der Wand befestigt hatte. „Besonders diese kleine Skizze von Gracie. Du hast das Leuchten in ihren Augen gut eingefangen.“
„Danke“, erwiderte Nell. Sie wunderte sich, dass er so ausweichend reagierte. Warum wollte er ihr nicht sagen, warum er so bald aus Shanghai zurückgekehrt war? „Sie fängt jetzt übrigens an, ziemlich heikle Fragen zu stellen.“
„Das machen Kinder in diesem Alter nun mal.“
„Fragen über ihre Herkunft, Will. Sie hört Dinge, die eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt sind, und aus denen sie sich früher oder später die Wahrheit zusammenreimen wird.“
„Und was hört sie so?“
„Wer sie gezeugt hat beispielsweise.“
Schweigend betrachtete Will die Zeichnungen.
„Ich kann die Wahrheit nicht für alle Zeit von ihr fernhalten, Will. Eines Tages wird sie es erfahren, und ich glaube, es wäre gut, wenn sie es von dir erfahren würde.“
„Ich dachte, das hätten wir längst geklärt, Nell. Kein junges Mädchen dürfte einen Mann wie mich gern zum Vater haben wollen.“
„Aber du bist für sie doch längst zur Vaterfigur geworden! Und sie beharrt noch immer darauf, bei uns leben zu wollen, wenn wir erst mal verheiratet sind.“
Seufzend und scheinbar tief in Gedanken versunken nahm Will seinen Rundgang durch ihr Zimmer wieder auf. Vor der Kommode blieb er schließlich stehen, stutzte kurz und zog den grauen Seidenschal aus der Schublade: „Ist das meiner?“
Sie zögerte und spürte, wie ihre Wangen sich röteten. „Ja, es … es ist der Schal, den du am Tag deiner Abreise getragen hast. Du hattest ihn verloren, als du dem Zug hinterhergerannt bist. Ich habe ihn für dich aufbewahrt. Und deinen Hut auch.“
Gedankenverloren stand er da und betrachtete den Schal. Nach einer ganzen Weile sagte er: „Shanghai hat sich nicht verändert. Noch immer zwielichtig, geheimnisvoll und lasterhaft. Auf seine Art sehr verführerisch – wenn man für derlei empfänglich ist.“
Sie musste es einfach fragen. „Hast du Opium geraucht?“
Er ließ sich so lange mit seiner Antwort Zeit, dass sie schon glaubte, er habe sie nicht gehört. „Ja“, sagte er schließlich.