6. KAPITEL

„Ach, du liebe Güte“, murmelte Ebenezer Shute, als er Chloe Cooks kurzes Empfehlungsschreiben las. Darin hatte sie in knappen Worten dargelegt, dass ihr Mann des Mordes beschuldigt werde und untergetaucht sei, dass Nell und Will versuchten, ihm zu helfen und dass beide ihr uneingeschränktes Vertrauen besäßen.

Shute war von schlanker Statur und hatte dunkles, glänzendes Haar, das er aus der hohen Stirn zurückgekämmt trug – ein gut aussehender Mann trotz der Narben um sein linkes Auge. Zudem war das Glasauge äußerst kunstvoll gefertigt und allein dadurch als künstlich zu erkennen, weil die Iris der raschen Bewegung seines Blickes nicht folgte, während Shute den Brief überflog.

„Arme Chloe.“ Er schüttelte den Kopf und schien von dieser unerwarteten Entwicklung der Ereignisse recht mitgenommen. „Wann ist denn das passiert? Vorgestern Abend?“

„Ganz genau“, sagte Will, der neben Nell in einem der Ledersessel vor Shutes Schreibtisch Platz genommen hatte. Das Büro des Pfandinspektors war mit dunklem Eichenholz getäfelt und wirkte überraschend anheimelnd. „Sie hatten noch nicht davon gehört?“

Mit einem finsteren Nicken meinte Shute: „So ist es. Gestern war ich den ganzen Tag oben in Fort Hill und habe mich bei den Pfandleihern umgesehen, heute saß ich den ganzen Tag an meinem Schreibtisch und habe Papierkram erledigt. Als die Kriminalpolizei hier noch gleich nebenan untergebracht war, wusste ich immer, was in dieser Stadt so vor sich geht – zumindest dann, wenn es krimineller Natur war. Colin hielt mich tagtäglich auf dem Laufenden, und ich muss sagen, dass das eigentlich ganz abwechslungsreich war. Aber jetzt …“

„Wie oft sehen Sie Detective Cook denn noch?“, fragte Nell.

„Nicht so oft, wie wir beide es uns wünschen würden, aber was will man da machen? Ich arbeite tagsüber und Colin … nun, um ehrlich zu sein, so kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie seine offiziellen Arbeitszeiten sind. Aber ich weiß, dass er sich oft die Nächte damit um die Ohren schlägt, Streifzüge durch die übelsten Viertel der Stadt zu machen. Hin und wieder treffen wir uns in einer Schenke, manchmal schleuse ich ihn auch in meinen Club ein. Er trinkt ja nicht mehr, aber es stört ihn glücklicherweise nicht, wenn andere es in seiner Gegenwart tun. Und einmal im Monat bin ich bei ihm und Chloe sonntags zum Essen eingeladen. Oder auch öfter, wenn es sich ergibt.“

„Es überrascht mich, dass Constable Skinner Sie noch nicht aufgesucht hat, um Sie über Detective Cooks Verbleib zu befragen“, bemerkte Nell. „Nachdem er so lange Tür an Tür mit Ihnen beiden gearbeitet hat, müsste er ja eigentlich wissen, dass Sie gute Freunde sind.“

„Natürlich weiß er das“, erwiderte Shute. „Deshalb macht er sich gar nicht erst die Mühe, zu mir zu kommen. Er weiß, dass er von mir niemals etwas erfahren würde, was Colin schaden könnte. Mir fiele zumindest kein vernünftiges Argument ein, mit dem Skinner mich dazu bewegen könnte, gegen Colin auszusagen.“

„Vernünftige Argumente sind auch nicht sein Stil“, sagte Nell. „Eher dürfte er versuchen, Sie einzuschüchtern und unter Druck zu setzen. So hat er es zumindest bei Mrs. Cook gemacht – und auch bei mir.“

„Mich einschüchtern? Das wage ich doch eher zu bezweifeln“, meinte Shute und lächelte fein.

Da er indes wenig geneigt schien, weder seine stille Belustigung noch seine Zweifel näher zu erläutern, erklärte ihr stattdessen Will: „Skinner glaubte, sich das bei dir und Mrs. Cook herausnehmen zu können, weil ihr Frauen seid – und Irinnen noch dazu –, womit ihr in seiner Hackordnung ziemlich weit unten rangiert. Superintendent Shute hingegen steht etliche Stufen über ihm. Das dürfte Constable Skinner zwar nicht gefallen und mit tiefem Groll erfüllen, aber da er genau weiß, wer ihm nützlich sein kann und wer nicht, würde er sich solch impertinentes Verhalten niemals bei seinesgleichen oder gar bei Ranghöheren erlauben.“

„Sehr schön auf den Punkt gebracht“, meinte Shute, beugte sich vor und legte den Brief neben eine kunstvoll geschnitzte Zigarrenkiste, die er einen Moment sehnsüchtig betrachtete. Doch nach einem kurzen Blick auf Nell lehnte er sich seufzend wieder zurück.

„Tun Sie sich keinen Zwang an“, sagte Nell und fügte hinzu, was sie jedem Gentleman zu versichern pflegte, der in ihrer Gegenwart galant auf sein Laster verzichten wollte: „Ich weiß den Geruch einer guten Zigarre durchaus zu schätzen.“

„Sind Sie sich dessen sicher?“

„Aber ja, gewiss doch.“

Nachdem er Will eine Zigarre angeboten hatte, der indes dankend ablehnte, nahm Shute sich selbst eine und erhob sich von seinem Stuhl. Als er zu dem hohen, mit Brokatvorhängen drapierten Fenster hinüberging, war bei jedem seiner steifen Schritte das dumpfe Klopfen seines Holzbeines zu vernehmen. Nachdem er das Fenster so weit wie möglich hochgeschoben hatte, kappte er die Spitze seiner Zigarre mit einem goldenen Zigarrenschneider in Form einer kleinen Pistole, der an seiner Uhrkette hing.

„Ach herrje“, sagte Nell, als Shute sich ein Streichholz aus einer hübsch emaillierten Dose nahm, und ihr Blick auf seine rechte Hand fiel, an der er eine unansehnliche, verschorfte Schürfwunde hatte. „Was haben Sie denn mit Ihrer Hand gemacht, Inspektor?“

Mit müdem Lächeln hielt Shute ihr beide Handflächen hin, damit sie sehen konnte, dass auch seine Linke derart mitgenommen war. „Leider stürze ich hin und wieder, was ich diesem Burschen hier zu verdanken habe.“ Er klopfte sich auf sein hölzernes Bein. „Ohne ihn komme ich zwar auch nicht zurecht, doch besonders anmutig und wendig macht er mich nicht gerade. Und Sie sollten mich erst mal im Winter sehen, wenn die Gehwege vereist sind! Von November bis März komme ich aus dem Stolpern gar nicht mehr heraus und bin über und über mit blauen Flecken und Schürfwunden übersät.“

„Wenn Sie mir die Bemerkung verzeihen, Inspektor“, sagte Will, „so sind Sie und Detective Cook doch ein recht ungleiches Paar. Wie kommt es, dass Sie so gute Freunde wurden?“

„Oh, wir haben mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick vermuten würde“, erwiderte Shute und zündete seine Zigarre an. „Zunächst einmal wären wir beide um ein Haar Priester geworden.“ Lässig wedelte er das Streichholz aus und warf es in den marmornen Aschenbecher, der auf seinem Schreibtisch stand.

Ungläubig sah Nell ihn an. „Sie …?“

Shute grinste. „Ich weiß. Die meisten Leute sind geradezu schockiert, wenn Sie erfahren, dass ich katholisch bin. Wahrscheinlich wegen meines Namens – Ebenezer. Eigentlich sind es ja eher die Protestanten, die ihren Kindern Namen aus dem Alten Testament geben, aber ich wurde weniger nach der Bibel als nach einem Freund der Familie benannt, der eben zufällig so hieß. Oder sollte es deswegen so schockierend sein, weil ich kein Ire bin und zudem eine gut bezahlte Arbeit habe? Oder weil mein Rock so distinguiert geschnitten ist? Wer weiß, warum es so verwunderlich erscheint.“

„Dürfte ich Sie fragen, warum Sie dann doch nicht Priester geworden sind?“

Shute zog an seiner Zigarre und blies einen Rauchstrahl aus dem Fenster. „Mein Temperament stand der geistlichen Berufung entgegen. Ich war im Jesuitenseminar und hatte mein Studium am Woodstock College in Maryland schon fast zur Hälfte absolviert, als mir plötzlich aufging, dass ich kurz davor war, einen verhängnisvollen Fehler zu begehen. Dieses Leben, all die Entbehrungen …“ Er schüttelte noch immer ungläubig den Kopf.

„Weshalb hatten Sie es denn überhaupt erwogen?“, wollte Will wissen.

„Gute Frage“, meinte Shute und lachte leise. „Wenn ich mich das nur damals schon gefragt hätte. Die Sache ist die, dass einer meiner älteren Brüder – Nicholas, den ich sehr bewunderte – Priester geworden war. Er hat dann die Lehrerlaufbahn eingeschlagen und ist jetzt Rektor der Georgetown Preparatory School in Bethesda. Nick war der Einzige in meiner Familie, mit dem ich mich wirklich gut verstand, der Einzige, mit dem ich reden konnte, zu dem ich überhaupt irgendeine Beziehung hatte. Und wenn die Kirche seine Bestimmung war, so wäre es wohl auch die meine. Zumindest dachte ich das damals. Zu kurz gedacht, doch junge Männer neigen ja dazu, recht schlicht denkende Geschöpfe zu sein.“

„Sie haben das Woodstock College also wieder verlassen?“, fragte Will.

Shute nickte und rauchte versonnen. „Ich habe dann in Harvard Jura studiert und mich dabei in Boston verliebt. Dennoch kehrte ich nach dem Abschluss wieder nach Hause zurück. Nun ja, genau genommen nicht nach Hause, aber in die Nähe. Ich fand eine Anstellung bei einer Kanzlei in Washington D.C.“

„Und wann haben Sie sich zur Armee gemeldet?“, fragte Nell ihn. Kaum dass ihr die Worte über die Lippen waren, fiel ihr ein, dass Shute ihnen noch gar nicht erzählt hatte, dass er während des Krieges bei der Armee gewesen war. Sie wussten es nur von Chloe. Aber lag die Frage denn nicht nahe angesichts seines Glasauges und des Holzbeines? Nell war gespannt, wie er darauf reagieren würde.

Er lächelte – eines dieser stillen, bedeutungsvollen Lächeln, die mehr als alle Worte sagen. „Ich meldete mich gleich zu Beginn des Krieges. Meine Eltern waren außer sich, ebenso wie die meisten meiner Geschwister. Sie waren selbst Sklavenhalter und unterstützten die Sezessionsbewegung in Maryland. Dass ich nun für die Unionsarmee kämpfen wollte, empfanden sie als einen Schlag ins Gesicht. Als ich dann nicht lange darauf einiger Körperteile beraubt nach Hause zurückkehrte, waren sie sich einig, dass es meine gerechte Strafe dafür wäre, mich gegen sie gestellt zu haben. Also ging ich wieder nach Boston. Dort hatte ich noch Freunde aus Studienzeiten. Ein paar von ihnen hatten mittlerweile gute Posten in der Stadtverwaltung. Und so kam auch ich zu meiner Tätigkeit.“

„Mögen Sie Ihre Arbeit?“, fragte Will.

„Es gefällt mir, die Pfandleiher zu besuchen und mich in ihren Läden umzusehen“, erwiderte Shute, „aber der Rest kann bisweilen schon etwas eintönig werden. Manchmal renne ich mir an bürokratischen Hürden den Kopf ein und frage mich, warum ich mir eigentlich die Mühe mache, dagegen anzugehen. Aber diese Arbeit muss zum Wohle der Stadt getan werden, und weil ich sie gut mache, ist es letztlich doch eine recht befriedigende Tätigkeit. Das kann längst nicht jeder von seinem Beruf behaupten.“

„Entschuldigen Sie bitte die etwas indiskrete Bemerkung“, sagte Nell, „aber meines Wissens verfügen Sie über die Mittel, ein Leben in Muße zu führen, so Sie dies wünschten.“

„Mit anderen Worten, warum verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt mit einer wie gesagt oft eintönigen Arbeit, anstatt nutzlos auf der faulen Haut zu liegen und mich meiner Privilegien zu erfreuen?“ Mit zwei ungelenken Schritten trat Shute an den Schreibtisch und drehte die Spitze seiner Zigarre im Aschenbecher. „Auf die Gefahr hin, nun höchst scheinheilig zu klingen, so ist es doch meine Überzeugung, dass ein Mensch, will er aufrechten Hauptes durchs Leben gehen, der Gesellschaft irgendwie von Nutzen sein sollte. Wenn Sie mich zu selbstgerecht finden, beschweren Sie sich bei Pater Nick, meinem werten Bruder. Er war es, der mir immer wieder eingebläut hat: ‚Versuche, in deinem Leben etwas zu bewirken, Ben.’ Das bekomme ich übrigens noch immer regelmäßig von ihm zu hören.“

In dieser Hinsicht, dachte Nell bei sich, waren Ebenezer Shute und Colin Cook sich tatsächlich sehr ähnlich. Sie wusste sehr genau, dass Cook seiner Arbeit bei der Polizei mit fast schon missionarischem Eifer nachging, um Übeltäter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Auge um Auge, Sie wissen schon, hatte er mal zu ihr gemeint. Es gefällt mir, auf der Seite des Guten zu stehen – und sehr gut auch zu wissen, dass ich mich dabei sogar auf die höchste Instanz berufen kann.

Und wie sie nun wusste, hatte Cook sich auch zuvor schon in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt – die Young-Ireland-Bewegung, der Versuch, die Grubenarbeiter zu organisieren … Beide Unterfangen waren indes zum Scheitern verurteilt gewesen. Auch die besten Absichten können der Versuchung durch ein bisschen Macht und Einfluss nicht standhalten.

„Inspektor“, sagte sie nun, „ich weiß, dass Sie Detective Cook erst nach dem Krieg kennengelernt haben und er zu diesem Zeitpunkt schon über zehn Jahre hier in Boston gelebt hatte, aber wissen Sie zufällig, wovon er gelebt hat, als er hierhergekommen ist? Nicht, als er aus Irland kam, sondern später, nach seiner Rückkehr aus Pennsylvania.“

„Natürlich. Wenn er betrunken war – was mittlerweile ja nicht mehr vorkommt –, hat er sich lang und breit darüber ausgelassen. Er hat für Brian O’Donagh gearbeitet.“

„Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor …“, sinnierte Nell.

„Im North End ist er eine ziemlich große Nummer“, meinte Shute. „Er und Colin sind auf demselben Schiff rübergekommen. In Irland hatten sie zusammen gekämpft und sind gemeinsam geflüchtet, um ihrer Verhaftung zu entgehen. Colin ist dann weitergezogen nach Pennsylvania, aber O’Donagh blieb in Boston und scharte ein paar gleichgesinnte Iren um sich. Im Laufe der Jahre ist aus dieser Gruppe eine sehr einflussreiche Organisation geworden. Sie nennen sich Bruderschaft der Söhne Irlands – Fraternal Order of the Sons of Eire, kurz F. O. S. E.“

„Davon habe ich schon gehört“, meinte Nell. „Aber ist das nicht eher … nun ja, ist es nicht eher eine Bande recht zwielichtiger Gestalten?“

„Durchaus, aber keine Verbrecherbande im gewöhnlichen Sinne, die mit Messern und Knüppeln bewaffnet durch die Straßen zieht. Die Söhne sind immer elegant gekleidet und fein zurechtgemacht. Geöltes Haar, seidene Krawatten. Man könnte sie für erfolgreiche Geschäftsmänner halten – was einige von ihnen übrigens auch sind.“

„Aber wann immer von ihnen gesprochen wird“, wandte Nell ein, „hört man dabei stets eine gewisse Furcht heraus.“

„Das war nicht immer so“, sagte Shute. „Colin zufolge fanden die Söhne sich zusammen, um gegen die Diskriminierung der Bostoner Iren zu kämpfen, den Männern zu einer Arbeit zu verhelfen und den Frauen dazu, ihre Kinder satt zu bekommen. In den ersten Jahren haben sie auch genau das getan, doch zu der Zeit, als ich nach Boston zurückkehrte, sah die Sache schon ganz anders aus. Da schreckten sie auch vor Diebstahl und Gewalt nicht zurück, um ihre Ziele zu erreichen. Wenn man nicht ihrer Meinung war, konnte man sogar als Ire nicht mehr sicher vor ihnen sein – wer nicht ihr Freund war, wurde ihr Feind. Sie fingen auch an, ihren Mitgliedern ‚Spenden‘ für die gute Sache abzupressen. Wenn man sie gut bezahlte, gewährten sie einem Schutz. Wenn nicht, dann waren sie es, vor denen man beschützt werden musste.“

„Und für die hat Cook gearbeitet?“, fragte Will leicht ungläubig.

„Er meinte, als er Mitte der Fünfziger zu ihnen gestoßen sei, wären sie noch nicht so korrupt gewesen – zumindest nicht so sehr, dass er sich daran gestört hätte. Zunächst, wohlgemerkt. O’Donagh rekrutierte ihn als seinen Leutnant, was in der Hierarchie der Bruderschaft seinem Stellvertreter gleichkam. Colin war aber nur wenige Jahre dabei. Als der Krieg ausbrach, arbeitete er bereits für die Polizei.“

„Hat er Ihnen jemals erzählt, warum er die Söhne Irlands verlassen hat?“, fragte Will.

„Nicht ausführlich. Er meinte nur, es wäre nicht leicht gewesen, aber ich weiß, dass ihn anwiderte, welch unrühmliche Richtung sie eingeschlagen hatten – die zunehmende Gewalt, das Schutzgeld.“

„Ich könnte mir vorstellen, dass Cook nun, da er bei seinen Ermittlungen so viel Zeit im North End verbringt, O’Donagh regelmäßig über den Weg laufen dürfte“, sagte Will. „Dort haben die Söhne doch nach wie vor ihr Hauptquartier, oder?“

Shute nickte. „Richmond Street, Ecke Salem, im Hinterzimmer eines Pubs, das sich The Blue Fiddle nennt und einem der Söhne gehört. Ich habe allerdings den Eindruck, dass Colin versucht, Begegnungen mit O’Donagh weitestgehend zu vermeiden.“

„Trotzdem eine ganz schön heikle Situation für Cook“, bemerkte Will, „ausgerechnet in dem Viertel für Recht und Ordnung sorgen zu müssen, in dem sein einstiger Freund, sein Landsmann und Waffenbruder, so lukrativ damit beschäftigt ist, das Gesetz zu brechen.“

„O’Donagh ist ein kluger Mann“, sagte Shute. „Letztlich mag er für das Treiben seiner Leute verantwortlich sein, doch er hat gelernt, dass es besser ist, sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen – oder es zumindest so aussehen zu lassen. Colin meinte mal, dass es nahezu unmöglich sei, O’Donagh mit irgendeinem Verbrechen in Verbindung zu bringen. Als State Constable gehört es jetzt zwar zu Colins Aufgaben, die organisierte Kriminalität zu bekämpfen, aber O’Donagh ist ziemlich gewieft und ihm bislang immer durch die Lappen gegangen. In gewisser Weise ist Colin darüber sogar froh. Ihm behagt der Gedanke nicht sonderlich, einen alten Freund verhaften zu müssen. Andererseits ist er ein rechtschaffener Mensch, jemand, der seine Arbeit ernst nimmt und seine Pflicht erfüllt. Weshalb ich auch nicht glauben kann, dass er jemanden ermordet haben soll. Wie kommt es denn, dass man ihn überhaupt verdächtigt?“

Will zuckte die Achseln. „Wir werden hoffentlich schlauer sein, nachdem wir uns heute Abend in Nabby’s Inferno …“

„Nabby’s?“ Shute blickte jäh auf.

„Dort hat sich der Mord ereignet“, sagte Nell. „Kennen Sie es?“

„Der Laden ist berüchtigt. Und natürlich kenne ich mich in der Ecke ganz gut aus. In der North Street befinden sich ein halbes Dutzend Pfandhäuser, die ich regelmäßig unter die Lupe nehme.“

„Waren Sie schon mal drin?“, fragte Will.

„Nicht gerade mein Geschmack.“

Da dies Wills Frage nicht unbedingt beantwortete, hakte Nell noch einmal nach: „Haben Sie Detective Cook denn nie dort getroffen, als Sie selbst in der Gegend zu tun hatten?“

„Tja …“ Shute lächelte verlegen. „Jetzt wo Sie es sagen – wir sind uns kürzlich tatsächlich in der North Street über den Weg gelaufen. Letzten Montag müsste das gewesen sein. Er wollte gerade ins Nabby’s, also bin ich mitgegangen.“

„Und welchen Eindruck hatten Sie?“, wollte Nell wissen.

„Eine Schlangengrube. Überrascht mich nicht sonderlich, dass es dort einen Mord gegeben hat.“

„Das Opfer war ein Bursche namens Johnny Cassidy, der im Nabby’s wohnt“, meinte Will. „Man hat ihn in den Kopf geschossen. Miss Sweeney und ich kommen gerade aus der Leichenhalle des Massachusetts General, wo wir den Toten in Augenschein genommen haben. Aus den Pulverspuren im Gesicht ließ sich schließen, dass er aus nur geringer Entfernung erschossen wurde, wenngleich die Waffe nicht direkt aufgesetzt worden ist. Kurz nach dem Mord verschwand zudem seine Lebensgefährtin, mit der er sich die Kellerwohnung im Nabby’s teilte. Und wie es aussieht, ist sie mit Cook verschwunden.“

Shute schüttelte den Kopf, als könne er gar nicht glauben, was er da hörte. „Ach, was reden Sie denn da“, meinte er. „Wollen Sie etwa andeuten, dass er zusammen mit dieser Frau geflüchtet ist?“

„So sieht es aus“, meinte Nell. „Sagt der Name Mary Molloy Ihnen etwas?“

Er sah sie einen Augenblick an, blies dann eine Wolke Zigarrenrauch aus, bevor er schließlich erwiderte: „Ist das … ist … heißt sie so?“

„Ja. Kennen Sie sie?“

„Nein“, sagte Shute. „Nein, ich … nicht dass ich wüsste.“

„Detective Cook hat sie Ihnen gegenüber also nie erwähnt?“, fragte Will nach.

Abermals schüttelte Shute den Kopf, derweil er sehr angelegentlich seine Zigarre betrachtete.

„Uns wurde gesagt, sie sei seine Geliebte“, ließ Will nicht locker.

Ungläubig schaute Shute ihn an. „Seine Geliebte?“

„So wurde es uns gesagt“, bekräftigte Nell. „Bitte verstehen Sie uns nicht falsch, Inspektor, wir versuchen nur, ihm zu helfen. Nichts, was Sie uns hier unter vier Augen anvertrauen, wird jemals an die Öffentlichkeit gelangen – es sei denn, um Detective Cook davor zu bewahren, für einen Mord gehängt zu werden, den er nicht begangen hat.“

„Er hat Ihnen nie von ihr erzählt?“, versuchte Will es erneut.

„Nein“, erwiderte Shute verwundert. „Nein, er … das würde er auch niemals getan haben.“

„Aber Sie sind doch sein bester Freund, oder?“, fragte Nell.

„Ja, schon, aber Colin … Er gehört zu den Männern, die bestimmte Dinge lieber für sich behalten. Man weiß ja, wie das geht – da erzählt man jemandem etwas, und der erzählt es weiter, und ehe man es sich versieht, weiß es die halbe Stadt und man hat nur unnütze Scherereien am Hals. Ihm wäre das viel zu riskant gewesen, mir davon zu erzählen, sollte er eine Geliebte haben. Und ich kann es mir auch nicht vorstellen. Colin liebt Chloe über alles – ja, er verehrt sie geradezu. Eher würde er sterben, als ihr ein Leid zuzufügen. Also, wenn das stimmen sollte, mit dieser Molloy … Viel bedeuten kann sie ihm nicht, nicht so wie seine Frau. Ich will nur hoffen, dass Chloe nie davon erfährt.“

„Sie hat es gestern erfahren“, sagte Nell.

„Ach, herrje.“ Shute ließ sich auf die Fensterbank sinken und schüttelte betrübt den Kopf. „Die arme Frau – und noch dazu in ihrem Zustand.“

„Sie wissen von ihrer Schwangerschaft?“, fragte Nell unumwunden.

Mit einem reuigen Lächeln meinte er: „Ich weiß, ich weiß. Colin hätte es niemandem erzählen sollen. Hat er auch nicht. Wie ich schon sagte, er ist sehr diskret. Aber in letzter Zeit wirkte er so glücklich und froh und voll der freudigen Erwartung, dass ich es mir schon dachte. Als ich ihn fragte, zögerte er kurz, womit mir alles klar war. Ich freue mich sehr für ihn. Sein neuer Posten beim State Constabulary ist weitaus anstrengender als erwartet, da kann er ein paar gute Neuigkeiten durchaus gebrauchen.“

„Uns wurde gesagt, dass Sie ihm dazu rieten, sich als Privatdetektiv niederzulassen, nachdem das Kriminaldezernat aufgelöst worden war“, sagte Nell.

„Ja, und ich wünschte, er hätte meinen Rat befolgt. Für ihn wäre es genau das Richtige gewesen. Aber er sorgte sich, ob er davon seine Familie würde unterhalten können. Und natürlich hatten ihn auch die Anhörungen und die Auflösung des Dezernats ziemlich mitgenommen. Es ist nicht einfach, wenn einem beruflich der Boden unter den Füßen weggezogen wird – insbesondere dann, wenn man sich gar nichts hat zuschulden kommen lassen. Er war ein vorbildlicher Polizist, ist es immer noch.“

„Waren Sie während der Anhörungen dabei?“, fragte Will.

„Anwesend war ich nicht, aber ich habe sie natürlich so aufmerksam wie möglich verfolgt und hatte meine Quellen, die mich mit Informationen versorgten. Einige der Gentlemen, die im Anhörungsausschuss saßen, gehören meinem Club an. Colin wurde natürlich keiner groben Vergehen für schuldig befunden – genau genommen kamen seine vortrefflichen Eigenschaften während der Anhörungen wohl erst richtig zur Geltung. Deshalb hat ihn Major Jones auch gleich für das State Constabulary rekrutiert.“

„Wissen Sie irgendetwas von geheimen Aussagen, die Detective Cook gegenüber dem Ausschuss gemacht haben soll?“, fragte Nell. „Constable Skinner glaubt, dass er Beweise gegen seine ehemaligen Kollegen vorgebracht – ja, gar erfunden hätte.“

„Ich weiß, was Sie meinen. Ich kenne seine Aussage“, erwiderte Shute und führte die Zigarre an die Lippen. „Es ging dabei um die Umstrukturierung der städtischen Polizei. Man wollte einfach Cooks ehrliche Einschätzung darüber hören, was im Kriminaldezernat alles im Argen lag und wie es sich vielleicht beheben ließe.“

„Mit Skinner und seinen Leuten hatte es also nichts zu tun?“, fragte Will.

Shute stieß ein freudloses Lachen aus. „Dazu brauchte es nicht Colin, diese Männer aus dem Dienst zu entfernen. Ihre Vergehen waren zahlreich und mannigfaltig – und gut dokumentiert. Wahrscheinlich konnte Skinner sich nur deshalb halten, weil er mal wieder ein paar Leute geschmiert hat. Oder ein paar frühere Gefälligkeiten eingefordert hat. Erpressung würde ich bei ihm auch nicht ausschließen.“

„Wen könnte er denn erpresst haben?“, wollte Nell wissen.

„Vielleicht einen Vorsitzenden des Ausschusses, jemand, der über seinen Verbleib im Polizeidienst entscheiden konnte. Als Detective erfährt man ja so allerhand, was Männer in verdienstvollen Positionen nicht so gern öffentlich ausgebreitet sehen wollen.“

Eine Hand in der Rocktasche, lehnte Shute sich gegen die Wand und zog an seiner Zigarre. Durch eine dichte Rauchwolke fügte er hinzu: „Selbst die ehrenwertesten Herren haben doch ihre kleinen Geheimnisse, nicht wahr?“